phoenix runde: Uneingeschränkte Solidarität? – Der Westen und der Ukraine-Krieg

phoenix runde: Uneingeschränkte Solidarität? – Der Westen und der Ukraine-Krieg71.297 Aufrufe – 25.05.2022 –phoenix – 

Alexander Kähler diskutiert mit seinen Gästen: – Elmar Theveßen, ZDF-Studioleiter Washington – Nataliya Pryhornytska, Politikwissenschaftlerin, Allianz Ukrainischer Organisationen – Rüdiger Lüdeking, ehem. Botschafter und Diplomat – Gustav C. Gressel, Sicherheitsexperte European Council on Foreign Relations (ECFR)


https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/putin-war-konsequent-ex-botschafter-bei-osze-dokumentiert-wurzeln-des-ukraine-krieges-li.259843

Rüdiger Lüdeking – 25.08.2022

 „Putin war konsequent“: Ex-OSZE-Botschafter zu den Wurzeln des Ukraine-Krieges

Deutschland und der Westen rutschen in eine neue Weltunordnung ab, warnt der ehemalige Botschafter Deutschlands bei der OSZE, Rüdiger Lüdeking. Er war deutsche Botschafter in Belgien (2015 bis 2018) und während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stellvertretenden Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZ (2012 bis 2015) mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

Ein Gastbeitrag.

Russlands Präsident Wladimir Putin und US-Präsident George W. Bush am Rande der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Moskau, 2005.imago

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat ihren Auftritt vor der 10. Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages Anfang August mit einem zentralen Ziel der deutschen Außenpolitik begründet: der Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung. Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und die Schaffung eines institutionellen Ordnungsrahmens für das friedliche Zusammenleben der Völker waren auch nach den Schrecken des letzten Weltkriegs wichtige Anliegen der Siegermächte. Die völkerrechtliche Ordnung wurde jedoch durch eine auf Durchsetzung von Ideologien und nationalen Interessen insbesondere der Großmächte ausgerichtete Weltordnung überlagert. Die Missachtung des Gewaltverbots der UN-Charta durch Russland in der Ukraine ist ein starkes Beispiel dafür.

„Rote Linien“ und Rüstungskontrolle in der bipolaren Weltordnung des Kalten Kriegs

Die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren geprägt durch die bipolare Weltordnung zwischen Ost und West, die nahezu alle Aspekte der internationalen Beziehungen bestimmte. Die Welt respektierte im Interesse der Vermeidung eines neuen, möglicherweise auch nuklear geführten großen Kriegs die roten Linien der jeweils anderen Seite und suchte vor allem seit Ende der 1960er-Jahre durch Dialog, Zusammenarbeit und auf die Gewährleistung eines nachhaltigen militärischen Gleichgewichts ausgerichteten Rüstungskontrollvereinbarungen Sicherheit und Stabilität trotz der zunächst unüberwindbar erscheinenden Konfrontation zwischen den „Systemen“ herzustellen.

Forcierte Rüstungsanstrengungen der Nato, zunehmende wirtschaftliche Schwäche und Überdehnung aufseiten der Sowjetunion und des Warschauer Pakts sowie diplomatisches Einlenken aufseiten der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow führten schließlich zu einer Überwindung der Blockkonfrontation und dem Ende des Kalten Kriegs. Dabei setzten sich schon zuvor im KSZE-Prozess vereinbarte, ursprünglich vom Warschauer Pakt als rein rhetorische Zugeständnisse abgebuchte westliche Werte (vgl. KSZE-Schlussakte von 1975) durch.

Die neue, vor allem durch chaotische Verhältnisse und Zerfall gekennzeichnete Situation in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Pakts erforderten mit Fingerspitzengefühl durchzuführende Stabilisierungsmaßnahmen.

Dies bedeutete zunächst eine Absicherung der verbleibenden, aufgrund der politischen Auflösungserscheinungen in Ost- und Mittelosteuropa gegebenen Risiken. Dem wurde durch die Aushandlung bzw. Inkraftsetzung von stabilisierenden Rüstungskontrollvereinbarungen wie dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, dem Vertrag über den Offenen Himmel, den Start-I- und -II-Verträgen zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Russland zur Reduzierung strategischer Trägermittel für Nuklearwaffen, den Nuklearinitiativen der Präsidenten der USA, der Sowjetunion und Russlands zur Reduzierung taktischer Nuklearwaffen wie auch dem Ausbau der vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen (Wiener Dokumente) schon zu Beginn der 90er-Jahre Rechnung getragen.

Letztlich bildeten diese Vereinbarungen – gemeinsam etwa mit dem schon 1987 abgeschlossenen Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) – die Voraussetzung für die Schaffung von gegenseitigem Vertrauen und den reibungslosen Übergang in eine neue Phase, in der auch Deutschland die Möglichkeit sah, seine Streitkräfte dramatisch zu reduzieren, ohne dass dies Einfluss auf seine Sicherheit und Stabilität hätte.

Die neue Friedensordnung nach dem Kalten Krieg und die Nato-Erweiterung

Daneben markierte die schon 1990 im KSZE-Rahmen vereinbarte „Charta von Paris für ein neues Europa“ das gemeinsame Bekenntnis zur Überwindung der Spaltung Europas und zu einer neuen Friedensordnung, die auf westlichen Werten wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gründet. Das damit angelegte System kollektiver Sicherheit, in dem alle Staaten der KSZE (später OSZE) gemeinsam, gleichberechtigt und inklusiv für Frieden und Sicherheit untereinander sorgen sollten, bildet bis heute den Bezugspunkt für Verweise auf die Sicherheitsordnung, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zerstört wurde.

Allerdings hatte die KSZE/OSZE als kollektives Sicherheitssystem schon in den 90er-Jahren keinen hohen politischen Stellenwert. Sie wurde dann nach der Jahrtausendwende zunehmend marginalisiert. Die Nato als konfrontativ nach außen gerichtetes Verteidigungsbündnis blieb die dominierende Sicherheitsorganisation für Europa. Unmittelbar nach Ende des Kalten Kriegs schon suchten ehemalige Staaten des Warschauer Paktes wie einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion einen Beitritt zu Nato, um sich vor Russland zu schützen. Aufgrund historischer Erfahrungen saß die Abneigung gegenüber Russland sehr tief.

Die Nato entsprach diesem Interesse durch einen Erweiterungsprozess, der zunächst mit großer Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten Russlands durchgeführt wurde. Diese fand ihren Niederschlag im 2+4-Vertrag und in der Nato-Russland-Grundakte. Dabei ging es neben einer ausdrücklichen Sicherheitspartnerschaft mit Russland auch um konkrete einseitige militärische Zurückhaltungsverpflichtungen (u. a. Verzicht der Nato auf Stationierungsstreitkräfte und Atomwaffen in den neuen Bundesländern; Verzicht auf Stationierung von substanziellen Kampftruppen wie Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern der Nato).

Eine erneute Verschärfung des Ost-West Gegensatzes ab dem Jahre 2000

Selbst wenn schon der erste Präsident Russlands, Boris Jelzin, Vorbehalte gegen die Nato-Erweiterung hatte, so verschärfte sich der Ost-West-Gegensatz mit den Amtsantritten der Präsidenten Wladimir Putin und George W. Bush 2000/2001.

Bush sah einen unipolaren Moment in den internationalen Beziehungen gekommen. Die USA wähnte er in der Lage und berufen, die internationalen Beziehungen zu dominieren. Damit einher ging ein hochmütiges Absehen von während des Kalten Kriegs gerade auch von westlicher Seite viel beschworenen Rücksichtnahmen. So setzte Bush statt auf militärisches Gleichgewicht auf Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte zur Wahrung von Sicherheit. Auch begann er damit, als Einschränkung amerikanischer Handlungsfreiheit empfundene Verpflichtungen gerade auch im Bereich der Rüstungskontrolle systematisch und ohne viel Federlesen abzustreifen.

So kündigte er 2002 den mehr als 30 Jahre zuvor mit der Sowjetunion abgeschlossenen Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag), der die Grundlage für die strategische Stabilität zwischen beiden Großmächten bildete. Auch wurden jetzt die nächsten Erweiterungen der Nato ohne für Russland abfedernde, die Nato einseitig bindende militärische Zurückhaltungsverpflichtungen umgesetzt. Die USA drängten auch gegen den entschiedenen russischen Widerstand auf rasche Erweiterung um die Ukraine und Georgien. Dagegen wandten sich Deutschland und Frankreich, die beim Nato-Gipfel 2008 eine Kompromissformulierung erreichten, die zwar die generelle Aussicht auf Nato-Mitgliedschaft beider Länder enthielt, jedoch den Beginn eines Beitrittsprozesses zunächst blockierte.

Großmachtstatus und Sicherheit Russlands unter Putin

Putin fühlte sich durch die neue amerikanische Politik herausgefordert. Ihm ging es letztlich um die Anerkennung und Wahrung des Großmachtstatus Russlands auf Augenhöhe mit den USA, was Letztere jedoch faktisch zurückwiesen. Sie sahen in Russland lediglich eine „Regionalmacht“, wie es selbst noch Präsident Obama formulierte. Zwar bezog Putin eine klare Gegenposition zu den USA und beklagte sich u. a. bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 bitter über die Missachtung russischer Interessen. Nach den chaotischen Jelzin-Jahren sah er Russland jedoch in kurzfristiger Perspektive weder wirtschaftlich noch militärisch kaum in der Lage, seinen Interessen Geltung zu verschaffen. Allerdings hat er durch militärische Interventionen 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine rote Linien für die Nato-Erweiterung markiert. Dabei ist unerheblich, ob er den Nichtbeitritt beider Staaten zur Nato aus Gründen der Sicherheit Russlands (Wahrung eines „Glacis“) oder eines Revisionismus forderte, der sich einer völlig verqueren, die Nichtstaatlichkeit der Ukraine behauptenden Argumentation bediente.

Auffällig ist, dass Putin konsequent und mit langem Atem seine Ziele verfolgte. Als Beispiel sei nur auf die russischen Bemühungen hingewiesen, nach der amerikanischen Kündigung des ABM-Vertrags 2002 einen befürchteten Verlust der russischen Zweitschlagfähigkeit und damit den Abstieg als Großmacht zu verhindern.

War zu Beginn der 2000er-Jahre Russland noch zu schwach, um der Raketenwehr etwas Wirksames entgegenzusetzen, so trachtete Putin schon früh durch neue Trägermittel die amerikanische Raketenabwehr überwinden zu können. Aber es brauchte Zeit; so stellte Putin erst 2018 neuartige Systeme vor, die dieses Ziel erfüllen würden, darunter eine Hyperschallrakete, eine neue endphasengesteuerte Interkontinentalrakete und einen nuklear bestückten Unterwassertorpedo. Auch mit dem Angriff auf die Ukraine hat Putin vermutlich lange auf ein Einlenken des Westens in der Erweiterungsfrage und zusätzliche Versicherungen und rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen gesetzt. Gleichzeitig war er doch auch bereit, nach einem Wiedererstarken der russischen Streitkräfte letztendlich militärische Mittel zur Erreichung seiner Ziele einzusetzen. Selbst wenn er sich – was die Fähigkeiten der russischen Streitkräfte, den Verteidigungswillen der Ukraine und die entschlossene Reaktion des Westens angeht – gründlich getäuscht und verkalkuliert hat, so hält er doch bis heute offenbar unbeirrt an seinen Zielen fest, die er mit neuem Taktieren und unter Inkaufnahme beträchtlicher Opfer doch noch zu erreichen sucht. Ob dies gelingt, ist fraglich, jedoch nicht völlig auszuschließen.

Neue Bipolarität zwischen Autokratien und Demokratien?

Der Ukraine-Krieg hat einmal mehr verdeutlicht, dass die Weltordnung einem dynamischen Veränderungsprozess ausgesetzt ist. Von einer bipolaren Weltordnung kann schon lange keine Rede mehr sein; auch der unipolare Moment, von dem die USA in eklatanter Überschätzung der eigenen Möglichkeiten in den 2000er-Jahren und zumindest teilweise während der erratischen Außenpolitik unter Präsident Trump ausgegangen ist, ist lange Geschichte.

Die USA sind schon seit Jahren auf Asien und den schnell aufsteigenden Rivalen China fokussiert. Und es sollte auch nicht überraschen, dass angesichts der aggressiven Außenpolitik und der raschen Aufrüstung Chinas das neue, am 29.6.22 verabschiedete strategische Konzept der Nato erstmalig deutliche Passagen zur Politik Chinas enthält, die gegen die Interessen des Bündnisses gerichtet ist. Wir sind heute statt der alten bilateralen Blockkonfrontation, auf die sich die Seiten eingestellt hatten, mit einer sich verschärfenden multipolaren Rivalität zwischen den Großmächten konfrontiert.

Oder ist es letztlich doch nur eine neue Bipolarität zwischen Autokratien und Demokratien? In jedem Fall versuchen Russland und China durch eine aktive Außenpolitik sowohl die Beziehungen zu autokratisch verfassten Regimen zu vertiefen und auch die Staaten der Dritten Welt auf ihre Seite zu ziehen oder zu neutralisieren. So hat beispielsweise China jetzt eine darauf abzielende „Global Security Initiative“ beschlossen und sucht u. a. durch Pflege und möglicherweise Erweiterung von Staatenvereinigungen wie BRICS (China, Indien, Russland, Brasilien, Südafrika) seinen globalen Einfluss zu stärken und eine Art Gegengewicht zu westlichen Formaten zu schaffen.

Es darf jedoch nicht von einem fest gefügten „Block“ von autoritären Staaten ausgegangen werden. Dies gilt selbst für Russland und China, die sich bei ihrem Gipfel am 4. Februar 2022 auf eine „Partnerschaft ohne Grenzen“ verpflichtet haben. China verfolgt klar eigennützige Interessen, was auch bei der Seidenstraßeninitiative gegenüber mittelasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zum Ausdruck kommt. Zudem ist davon auszugehen, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine China nicht gelegen kam, könnte dadurch doch der ökonomische Aufstieg Chinas und das Bemühen, schnellstmöglich die USA als stärkste Volkswirtschaft zu überholen, konterkariert oder zumindest behindert werden.

Auch dürfte China eine Ablehnung der sich als Folge des Kriegs abzeichnenden „Deglobalisierung“ in wirtschaftlicher Hinsicht unterstellt werden können. Fraglich bleibt allerdings, ob sich angesichts der inzwischen eingetretenen Entwicklung und insbesondere auch der hohen Spannungen zur Taiwanfrage, die für Präsident Xi Jinping jenseits wirtschaftlicher Erwägungen von überragender politischer Bedeutung ist, ein anderes chinesisches Kalkül einstellt. Russland bleibt in der jetzigen Situation auf das Wohlwollen und die Unterstützung Chinas angewiesen; allerdings muss Präsident Putin sich mit einer Position Russlands als Juniorpartner zufriedengeben, was ihm nicht gefallen dürfte.

Zahl der demokratischen Staaten rückläufig

Aber auch in den USA gibt es Kräfte, die auf eine Aufteilung der Welt in Demokratien und Autokratien setzen. Dabei wird übersehen, dass keineswegs davon auszugehen ist, dass die Zeit für die Demokratie arbeitet. Nach einer kontinuierlichen Zunahme der Zahl demokratischer Staaten in den letzten Jahrzehnten ist deren Zahl in den letzten Jahren rückläufig. Nach dem Demokratie-Index der Zeitschrift Economist wurden 2021 nur 21 Staaten als „vollständige Demokratien“ eingestuft. Nicht nur gibt es besorgniserregende autokratische und autokratisch-populistische Tendenzen in einigen Staaten auch der EU. Auch – dies ist für die Entwicklung der internationalen Beziehungen besonders relevant – zählen die USA mit der Perspektive einer erneuten Machtübernahme eines republikanischen Präsidenten ebenfalls zu den Staaten, auf die sich besondere Sorgen richten.

Es gibt weitere Gründe, von Seiten des Westens nicht auf eine Konfrontation zwischen Autokratien und Demokratien als konstitutives Element einer sich entwickelnden künftigen Weltordnung zu setzen: Autokratisch regierte Staaten sind – das zeigt nicht nur das Beispiel China – wirtschaftlich nicht zwangsläufig weniger erfolgreich. Sie sind zudem in die Weltwirtschaft integriert, was auch deren wirtschaftlichen Fortkommen und Erfolg zugutegekommen ist. Und sie sind sehr wichtige Lieferanten nicht nur von Industriegütern, sondern auch strategisch wichtigen Rohstoffen.

Auch gibt es unter den Demokratien eine Reihe von Staaten, die nicht für einen kategorischen Abgrenzungskurs gegenüber autokratischen Staaten zu gewinnen sind. Dies gilt u. a. für Staaten wie Indien, die sich durch eine fortgesetzte Zusammenarbeit beispielsweise mit Russland wirtschaftliche Vorteile erhoffen. Daneben sollte auch die abwartend-reservierte Haltung von wichtigen Staaten der Dritten Welt (Beispiel Südafrika) nicht unterschätzt werden, die sich in der Vergangenheit von den Industriestaaten nicht hinreichend wahrgenommen und wertgeschätzt gesehen haben, jetzt jedoch mit der Forderung konfrontiert werden, sich auf die Seite der entwickelten westlichen Welt zu schlagen, gegen Russland und China Stellung zu beziehen und diese Staaten zu sanktionieren, was mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen für sie selbst verbunden wäre.

Eine nicht völlig unvorhersehbare „Zeitenwende“

Warum der vorstehende Erklärungsaufwand und umfangreiche historische Diskurs? Wir wissen doch, dass wir uns auf eine neue Weltordnung oder -unordnung, auf neue große Gefahren für den Frieden, Sicherheit und unsere Werte einstellen müssen. Aber die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende war kein völlig unvorhergesehener Einschnitt. Der Beginn des Kriegs in der Ukraine mag für viele eine Art Wendepunkt gewesen sein. Er ist aber auch Teil eines Prozesses, der eine Vorgeschichte hat, jetzt allerdings mit beschleunigter Dynamik abläuft.

Jetzt gilt es, unsere Freiheit und Werte zu verteidigen und hierfür durch Gestaltung einer wehrhaften Demokratie und eine aktive Politik im Bündnis und der EU wichtige Voraussetzungen zu schaffen. Dabei dürfen die Realitäten und sich daraus ergebende politischen Zwänge nicht ignoriert werden.

Wir stehen im Verhältnis nicht nur zu Russland in einer neuen, verschärften Phase der Konfrontation, vor einem Kalten Krieg 2.0. Dieser ist zwar in vieler Hinsicht mit dem alten Kalten Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vergleichbar. Dennoch sollten wir bei der Gestaltung der jetzt kritischen Übergangsphase zu einer hoffentlich wieder stabileren, berechenbareren Weltordnung aus der jüngsten Geschichte und den gemachten Erfahrungen Lehren ziehen. Es ist jetzt nicht die Zeit von Überheblichkeit, die in mancher Hinsicht den Westen über lange Jahre nach Ende der Teilung Europas und insbesondere nach der Jahrtausendwende geprägt hat.

Die Komplexität der sicherheitspolitischen Herausforderungen erfordert komplexe Antworten

Die Komplexität der augenblicklichen internationalen Lage bedingt eine vielschichtige außenpolitische Gestaltungsagenda. Dabei muss die Verhinderung eines großen Krieges, der mit möglicherweise existenzielle Gefahren für die gesamte Menschheit verbunden sein könnte, im Zentrum stehen.

Eskalationsrisiken müssen angegangen werden und dürfen – wie leider aktuell in Verfolg eines von vielen vertretenen gesinnungsethischen Politikansatzes zum Ukrainekrieg – nicht abgetan oder ignoriert werden. Folgende Aufgaben könnten im Vordergrund stehen:

  •     Eine gesicherte Verteidigungsfähigkeit ist Grundlage für die zu verfolgende Politik. Dies macht eine nachhaltige Beseitigung der Ausrüstungs- und Fähigkeitsdefizite der Bundeswehr besonders dringlich. Die hierzu bisher ergriffenen Maßnahmen – insbesondere das Sondervermögen über 100 Milliarden Euro – dürften hierfür nicht ausreichen. Auch dürfen jetzt Fragen wie nach der Wiederbelebung einer Dienstpflicht nicht tabuisiert werden.
  •     Im Rahmen der Nato muss eine effektive multinationale Vorneverteidigung an der Grenze zu Russland (ggf. nach dem Vorbild des vergangenen Kalten Kriegs) organisiert werden, um von einem Angriff oder einem „Überschwappen“ auf das Bündnisgebiet wirksam und nachhaltig abschrecken zu können.
  •     Angesichts künftiger Unwägbarkeiten in den USA und daraus folgender Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen, aber auch mit Blick auf eine Verschärfung der künftig die Weltordnung charakterisierenden multipolaren Rivalität insbesondere zwischen den Großmächten sollte die EU ihre Selbstbehauptungskräfte stärken und auch militärisch eine strategische Autonomie (auch unter Einschluss eines nuklearen Abschreckungsdispositivs) anstreben.
  •     Der Wettbewerb und die Rivalität unter den Großmächten bedürfen eines geschickten Managements mit Augenmaß. Eine einseitige, die Rivalität verstärkende Konfrontationsstellung zwischen Autokratien und Demokratien ist ebenso wie die Ausgrenzung einzelner Staaten zu vermeiden. Dabei sollten die gemeinsamen Interessen und Herausforderungen wie die Bewältigung des Klimawandels eine wichtige Richtschnur bilden.
  •     Trotz aktuell wenig günstiger Aussichten sollte alles daran gesetzt werden, so schnell wie möglich den Krieg in der Ukraine durch einen Interessenausgleich zu beenden, ohne dass dadurch falsche Präzedenzen geschaffen werden. Letzteres bedeutet, dass der russische Aggressor nicht für den von ihm angezettelten Angriffskrieg belohnt werden darf. Angesichts der großen Eskalationsrisiken und zu erwartender hoher Opferzahlen bei einer langandauernden kriegerischen Auseinandersetzung kommt insbesondere den USA eine besondere Bedeutung zu, entschieden auf eine diplomatische Lösung zu drängen, die dem bisherigen Setzen beider Seiten auf einen Siegfrieden durch für alle bittere Kompromisse ein Ende setzt.
  •     Angesichts der Aussicht auf einen (nach erfolgter „Abräumung“ des bisherigen rüstungskontrollpolitischen Besitzstandes) weitgehend unregulierten neuen Kalten Krieg sollte – trotz der kurzfristig nicht zu überwindenden Gegensätze – der Dialog zwischen den Großmächten wieder aufgenommen und die Rüstungskontrolle wiederbelebt werden. Dies ist nicht nur zur Stabilisierung der militärischen Konfrontation und der Vermeidung von Fehlkalkulationen erforderlich. Durch rüstungskontrollpolitische Maßnahmen ließen sich auch ein neues Wettrüsten und überschießende Verteidigungsausgaben verhindern und so Mittel für die gemeinsam zu bewältigenden Menschheitsherausforderungen (Stichworte: Klimawandel, Gesundheitsvorsorge und Bewahrung der gemeinsamen Lebensgrundlagen) freisetzen.
  •     Die Bemühungen zum Ausbau regelbasierter Ordnungsrahmen sollten auf globaler wie regionaler Ebene mit Nachdruck (und ohne Illusionen) fortgesetzt werden. Dabei ist auch die Zusammenarbeit unter den durch das UN-System privilegierten P5-Staaten (USA, China, Russland, Frankreich, Großbritannien) im Interesse einer Einhegung ihrer Rivalität zu fördern. Diese fünf nach dem Atomwaffensperrvertrag anerkannten Nuklearwaffenstaaten haben gemeinsame Interessen bei der Nichtverbreitung. Kurzfristig wird es beispielsweise darum gehen, das Regime des Atomwaffensperrvertrags trotz fehlender Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung zu bewahren und das Atomabkommen mit dem Iran, von dem sich 2018 die USA zurückgezogen haben, wiederzubeleben.
  •     Im Interesse von Frieden und Stabilität bedürfen von den Großmächten erklärte sogenannte rote Linien besondere Aufmerksamkeit. Wie im vergangenen Kalten Krieg sollte auf eine kurzfristige Veränderung zentraler roten Linien realpolitisch angesichts der Gefahr aus dem Ruder laufender Eskalationsrisiken verzichtet werden. Die Nato sollte deshalb beispielsweise auf eine Forcierung des Erweiterungsprozesses und die Aufnahme der Ukraine und von Kaukasus-Staaten verzichten; auch die EU sollte auf Symbolpolitik verzichten und davon absehen, die Perspektive einer Aufnahme der Ukraine prominent in den Mittelpunkt zu stellen.
  •     Die Globalisierung sollte nicht grundlegend infrage gestellt werden. Vermutlich ist dies angesichts des erreichten Stands wirtschaftlicher Verflechtung ohnehin kaum möglich. Für von einem funktionierenden Welthandel abhängige Staaten wie Deutschland hätte dies zudem nicht absehbare Wohlstandsverluste zur Folge; zudem bleibt entgegen gegenteiligen Unkenrufen richtig, dass Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit stabilitäts- und verständigungsfördernde Wirkung entfalten. Unbeschadet dessen gilt es, einseitige Abhängigkeiten im Interesse der Vermeidung von Erpressbarkeit abzubauen (allerdings fraglich, ob dies in allen Fällen gelingen wird).
  •     Angesichts der neuen Großmächterivalität wird auch die Konkurrenz um die Zustimmung und Unterstützung von wichtigen Staaten in der Dritten Welt wachsen. Der Westen ist gefordert, dem durch eine kluge Einbindung dieser Staaten wie auch durch wirtschaftliche Anreize und Investitionen gerecht zu werden.

Die vorstehende Liste mag wie eine Aufzählung wohlfeiler, frommer Wünschen klingen. Und sie ist es in gewisser Weise auch. Die genannten Punkte bedürfen der Umsetzung durch konkrete Politik. Ihre Umsetzung mag kurzfristig wenig realistisch erscheinen; dennoch bietet die Auflistung ein Raster für die zu bewältigenden Herausforderungen.

Deutschland sollte sich die Gefahren bewusst machen, die im aktuellen Umwälzungsprozess der Weltordnung liegen. Sicherlich sind die ihm innewohnenden Risiken nicht völlig beherrschbar. Dennoch erfordern sie entschiedenes Handeln. Dabei ist vielfach das Beschreiten neuer Wege erforderlich; aber auch die Lehren des vergangenen Kalten Kriegs sollten nicht außer Acht gelassen werden. Markige Worte allein reichen ebenso wenig wie die Betonung der Notwenigkeit gemeinsamen Handelns. Die Gestaltung einer stabilen Weltordnung erfordert Führung in die richtige Richtung. Führung erfordert einen wertegeleiteten Kompass, aber auch einen ausgeprägten und klaren Sinn für Realpolitik.

Wohnopoly – wie die Immobilienspekulation das Land spaltet und was wir dagegen tun können

»Wohnopoly – « – Buchvorstellung mit Caren Lay168 Aufrufe – 29.08.2022 –Westend  –

»Wohnopoly« – Buchvorstellung mit Caren Lay, Lukas Siebenkotten, Rüdiger Grünhagen Link zum Buch: https://www.buchkomplizen.de/wohnopol… https://www.westendverlag.de/buch/woh…

Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbundes, stellt das neue Buch „Wohnopoly. Wie die Immobilienspekulation das Land spaltet und was wir dagegen tun können“ vor.

Die Wohnungsfrage ist die große soziale Frage unserer Zeit. Wohnen wird zum Luxusgut, die Mieten explodieren nicht nur in den Großstädten. Menschen werden aus ihren Wohnungen gekündigt, in denen sie Jahrzehnte gelebt haben, Familien finden kein Zuhause, Geringverdiener*innen arbeiten nur noch für die Miete und die Zahl der Wohnungslosen erreicht Rekordwerte. In unseren Städten wird Wohnopoly gespielt. Höchste Zeit für eine wohnungspolitische Wende, fordern Caren Lay von der Partei DIE LINKE und Lukas Siebenkotten vom Deutschen Mieterbund bei der Vorstellung des Buches „Wohnopoly“ in Berlin.

Von 2015 bis 2021 stiegen die Preise für neue Mietverträge in Berlin um 44%, in Heidelberg um 41% und in München um 31%. Mittlerweile gibt die Hälfte der Menschen bereits über 30% des Einkommens für das Wohnen aus. Wie konnte es dazu kommen? Wie konnten Wohnungen zu reinen Spekulationsobjekten verkommen? Und warum unternimmt die Politik so wenig dagegen? Caren Lay, seit 2016 Sprecherin für Mieten-, Bau- und Wohnungspolitik der Fraktion DIE LINKE, nimmt in ihrem Buch „Wohnopoly“ die deutsche Wohnungspolitik schonungslos unter die Lupe. „Deutschland ist zu einem Eldorado für Wohnungsspekulation geworden“, so Lay. Und statt die politischen Fehlentwicklungen anzugehen, werden sie noch systematisch gefördert.

Was muss getan werden, damit Wohnen wieder bezahlbar wird? Caren Lay sieht einen wichtigen Grund in der Macht der Immobilienlobby und liefert provokante Ideen für eine soziale Wohnungspolitik: „Die Immobilienspekulation spaltet das Land. Eine starke Lobby und eine schwache Politik verhindern, dass sich daran etwas ändert. Doch wenn wir nicht jetzt handeln, ist es zu spät.“ Wir müssen handeln: Mieten deckeln! Ein Drittel der Wohnungen muss gemeinnützig sein! Spekulation besteuern! Wohnungen gehören nicht an die Börse! Fonds und Konzerne müssen wir vom Wohnungsmarkt verbannen!

Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbundes, forderte außerdem ein Kündigungsmoratorium für Mieter bei Zahlungsrückstand. Das Buch „Wohnopoly. Wie die Immobilienspekulation das Land spaltet und was wir dagegen tun können“ erscheint am 29. August 2022 im Westend Verlag.

Caren Lay geboren 1972, ist Diplom-Soziologin und studierte Politik und Frauenforschung in Marburg, Frankfurt am Main, Pennsylvania (USA) und Berlin. Seit Anfang der 2000er Jahre ist sie in der Politik aktiv. Schon lange setzt sie sich für Mietenstopp und soziales Wohnen ein. Seit 2009 ist Lay Mitglied des Deutschen Bundestags und seit 2016 Sprecherin für Mieten-, Bau- und Wohnungspolitik der Fraktion DIE LINKE.


Bundestagsgespräch mit Caren Lay und Ulrich Lange zu Änderungen im Mietrecht am 07.05.21537 Aufrufe – 07.05.2021phoenix – 

Erhard Scherfer im Bundestagsgespräch mit Caren Lay (DIE LINKE, Sprecherin für Mieten-, Bau- und Wohnungspolitik, Stellv. Vorsitzende der Bundestagsfraktion) und Ulrich Lange (CSU, Obmann Untersuchungsausschuss Maut, Stellv. Vorsitzender der Bundestagsfraktion) zu bezahlbarem Wohnen.

Umfrage Hans-Böckler-Stiftung: Mehr Investitionen in öffentliche Infrastruktur gewünscht

https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-gut-zwei-drittel-wollen-mehr-investitionen-in-offentliche-infrastruktur-43020.htm

Pressemitteilungen

Repräsentative Umfrage: Gut zwei Drittel wollen mehr Investitionen in öffentliche Infrastruktur, unterschiedliche Schwerpunkte nach Regionen

29.08.2022

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist unzufrieden mit der öffentlichen Infrastruktur. Im Bundesdurchschnitt fordern deshalb gut zwei Drittel höhere staatliche Investitionen. Am geringsten ist die Zufriedenheit in den Bereichen Bildung, Gesundheit/Pflege und Umweltschutz. Allerdings gibt es erhebliche regionale Unterschiede, zeigt eine neue Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung*: Auf dem Land ist der Wunsch nach Verbesserungen der Gesundheitsversorgung noch höher als in der Stadt. Mehr Bedarf an Investitionen in Klima- und Umweltschutz äußern dagegen häufiger Stadtbewohner und Stadtbewohnerinnen. In den neuen Bundesländern spielt öffentliche Sicherheit eine größere Rolle, Klimaschutz eine geringere. Im Westen ist es genau umgekehrt. Durchweg sehr niedrig ist die Zufriedenheit im Saarland. Den größten Investitionsbedarf sehen die Einwohner und Einwohnerinnen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz, ergibt die Untersuchung von Ekaterina Jürgens und Christoph Paetz vom IMK und Levi Timon Henze von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (siehe auch Abbildungen 1 und 2 in der pdf-Version dieser Studie; Link unten). Die Ergebnisse basieren auf einer repräsentativen Online-Befragung für das IMK, bei der im Oktober 2021 die Zufriedenheit mit der öffentlichen Infrastruktur und der Wunsch nach Mehrinvestitionen in acht Kategorien abgefragt wurden.

Noch am größten ist die Zufriedenheit im bundesweiten Durchschnitt bei der öffentlichen Sicherheit. Die Hälfte der Befragten ist damit zufrieden. Die Unzufriedenheit ist hingegen groß in den Bereichen Klimaschutz sowie Bildung und Gesundheit – hier sind im Schnitt nur 31 Prozent beziehungsweise 34 Prozent zufrieden. Der Wunsch nach zusätzlichen Investitionen ist in allen Bereichen stark ausgeprägt. Im Durchschnitt befürworten 68 Prozent der Befragten höhere öffentliche Investitionen. Den mit Abstand größten Bedarf sehen die Befragten im Bereich Gesundheit mit 87 Prozent und Bildung mit 79 Prozent. Mehr Investitionen in Klima- und Umweltschutz stimmen 70 Prozent zu. „Bundesweit ist die Zufriedenheit in allen Bereichen auffallend gering und der Wunsch nach Mehrinvestitionen sehr hoch“, schreiben die Forschenden. Gleichzeitig seien aber Unterschiede in den Präferenzen zwischen Stadt und Land, Ost und West sowie auch zwischen einzelnen Bundesländern deutlich sichtbar. Ein genauer Blick auf die einzelnen Bereiche, aufgeschlüsselt nach Region ergibt folgendes Bild:

  1. ÖPNV und Bahn
    Knapp die Hälfte der Befragten aus Städten zeigt sich zufrieden mit dem öffentlichen Nahverkehr, auf dem Land sind es nur 31 Prozent. Auch im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland ist der Unterschied groß: 45 Prozent der Befragten im Osten sind mit dem ÖPNV zufrieden, 38 Prozent im Westen. Beim Investitionsbedarf sind die Unterschiede weniger stark ausgeprägt: In der Stadt wünschen sich 66 Prozent mehr Investitionen, auf dem Land 64 Prozent. Obwohl die Zufriedenheit auf dem Land also deutlich geringer ist, ist der Wunsch nach höheren Ausgaben nicht stärker ausgeprägt. Nach Ansicht der Forschenden lässt sich daraus ablesen, dass die Landbevölkerung häufiger das Auto vorzieht. Dagegen ziehen Menschen, die bereit sind auf das Auto zu verzichten, eher in die Stadt. Damit sind sie dann im Alltag auch stärker auf den ÖPNV und die Bahn angewiesen.
  2. Straßen
    Die Zufriedenheit mit Straßen, Brücken und Autobahnen liegt im bundesweiten Mittel bei 46 Prozent und damit vergleichsweise hoch. Der Unterschied zwischen Stadt und Land sowie Ost und West fällt kaum ins Gewicht. Auffällig niedrige Werte ergeben sich in Rheinland-Pfalz mit 36 Prozent und Nordrhein-Westfalen mit 38 Prozent. In allen Bundesländern findet sich eine leichte Mehrheit für eine Ausweitung der Investitionen in den Straßenbau, auf dem Land etwas mehr als in den Städten. Bemerkenswert ist allerdings, dass in allen Bundesländern – mit Ausnahme von Brandenburg – die Verbesserung des ÖPNV und der Bahn eine höhere Priorität erhält als der Straßenbau.
  3. Fuß- und Fahrradwege
    Die Zufriedenheit mit der Infrastruktur für Fußgänger und Fahrradfahrer unterscheidet sich kaum zwischen Stadt und Land oder West- und Ostdeutschland – sie liegt jeweils knapp unter 50 Prozent. Der Wunsch nach höheren Investitionen ist mit 53 Prozent so gering wie in keinem anderen Bereich. „Es liegt nahe, dass das mit dem immer noch geringen Verkehrsaufkommen zu Fuß oder mit dem Fahrrad zusammenhängt“, schreiben die Forschenden.
  4. Mobilnetz und Internet
    In der Stadt sind 52 Prozent mit Mobilfunk und Internet zufrieden, auf dem Land sind es 44 Prozent. Der Stadt-Land-Unterschied verschwindet, wenn es um Mehrinvestitionen geht, jeweils rund zwei Drittel wünschen höhere Ausgaben. Das heißt: Die Befragten in der Stadt sind zwar insgesamt zufriedener mit dem Internet, wollen aber, dass das Netz noch besser ausgebaut wird. Zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es bei der digitalen Infrastruktur keine Unterschiede hinsichtlich Zufriedenheit und Wünschen.
  5. Kitas, Schulen, Universitäten
    Nur ein Drittel der Befragten ist zufrieden mit dem Bereich Bildung. Stadt und Land sowie Ost und West unterscheiden sich hier kaum. Eher schon zeigt sich ein Gefälle zwischen Nord und Süd. Im Vergleich der Bundesländer schneidet Bayern mit 39 Prozent noch am besten ab, Mecklenburg-Vorpommern mit rund 20 Prozent am schlechtesten. In allen Bundesländern wünschen die Menschen deutlich mehr Ausgaben für Kitas, Schulen und Unis. „Bildung ist insgesamt also ein Bereich mit auffällig hohem und einheitlichem Investitionswunsch“, so die Forschenden.
  6. Gesundheit und Pflege
    Bei Gesundheit zeigt sich ebenfalls nur rund ein Drittel zufrieden. Der Wunsch nach höheren Ausgaben ist in diesem Bereich mit Abstand am größten. Auf dem Land ist die Zufriedenheit noch geringer als in der Stadt. Gleichzeitig fordern fast neun von zehn Befragten in ländlichen Regionen mehr Investitionen im Gesundheitswesen, in der Stadt ist der Anteil etwas niedriger. Auffällige Unterschiede zwischen Ost und West gibt es hier nicht.
  7. Klima- und Umweltschutz
    Der einzige Bereich in dem bundesweit weniger als ein Drittel der Befragten zufrieden ist, ist der Umweltschutz. Allerdings zeigen sich hier größere Differenzen zwischen Ost und West: In Westdeutschland ist die Zufriedenheit mit Klima- und Umweltschutz geringer ausgeprägt als in Ostdeutschland. Beim Wunsch nach zusätzlichen Investitionen in diesem Bereich verhält es sich umgekehrt: In den alten Bundesländern wünschen 73 Prozent höhere Ausgaben, in den neuen 60 Prozent.
  8. Sicherheit
    In Bayern sind 62 Prozent zufrieden mit der Sicherheit, sechs Prozentpunkte mehr als in allen anderen Bundesländern. Dennoch ist die öffentliche Sicherheit auch in anderen Bundesländern der Bereich mit der höchsten Zufriedenheit. Die geringste Zufriedenheit weist Sachsen-Anhalt mit 41 Prozent auf. Nach zusätzlichen Investitionen gefragt, fällt auf, dass die Ostdeutschen einen höheren Bedarf sehen als die Westdeutschen. Zwischen Stadt und Land gibt es beim Thema Sicherheit kaum Unterschiede.

Weitere Informationen:

Levi Timon Henze, Ekaterina Jürgens, Christoph Paetz: Einstellungen zur öffentlichen Infrastruktur und zum Investitionsbedarf im Regionalvergleich, Ergebnisse einer repräsentativen Online-Befragung, IMK Policy Brief Nr. 129, August 2022.
Die Pressemitteilung mit Abbildungen (pdf)

Neue Studie des Club of Rome: „Kehrtwende“ zur Rettung des Planeten nötig

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/club-of-rome-studie-103.html

Club of Rome „Kehrtwende“ zur Rettung des Planeten nötig

30.08.2022

Eine neue Club-of-Rome-Studie fordert drastische Schritte für eine lebenswerte Zukunft. Derzeit werde die Saat für den Zusammenbruch ganzer Weltregionen gelegt – ohne eine Umverteilung des Reichtums lasse sich die Klimakrise nicht lösen.

Eine Forschergruppe unter Beteiligung des Club of Rome fordert eine Kehrtwende in der internationalen Wirtschafts- und Klimapolitik, um der Menschheit angesichts des Klimawandels und globaler Ungleichheit eine lebenswerte Zukunft zu sichern. „Wir stehen am Scheideweg“, erklärte Jorgen Randers, einer der Autoren der nun vorgestellten Studie „Ein Survivalguide für unseren Planeten“. Darin werden die Vorschläge der unter anderem vom Club of Rome gestarteten Initiative „Earth4All“ zu einem Wandel in der internationalen Politik präsentiert.

Die Menschheit lege derzeit die Saat für den „Zusammenbruch“ ganzer Weltregionen, erklärte der emeritierte norwegische Professor für Klimastrategie, Randers. Ein Beibehalten des bestehenden Wirtschaftssystems werde „Spannungen verstärken und den Wohlstand verringern“. Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und einer der Mitautoren des Buchs, sagte, der Umbau müsse „noch in diesem Jahrzehnt“ beginnen.

„Die Grenzen des Wachstums“ Als der Club of Rome erstmals warnte

Vor 50 Jahren veröffentlichte der Club of Rome den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“.

Veränderungen auf Kosten der Reichen nötig

Dem Bericht zufolge sind drastische Schritte auf Kosten der Reichen nötig, um den Planeten vor einer Klimakatastrophe zu retten. Ohne außergewöhnliche Maßnahmen zur Umverteilung des Reichtums in den nächsten 50 Jahren würden Gesellschaften derart dysfunktional, dass sie kaum in der Lage seien, existenzielle Bedrohungen wie den Klimawandel anzugehen. Es drohe eine explosive Kombination aus extremer politischer Destabilisierung und Stagnation. „Wir werden die Welt nicht retten, wenn nicht die reichsten zehn Prozent die Rechnung bezahlen“, so Randers.

Debatte über Wachstum Wie sich Wirtschaft wandeln könnte

Kann die Wirtschaft immer weiter wachsen?

Fünf Kehrtwenden gefordert

Als Lösung schlagen er und die weiteren Autoren fünf „Kehrtwenden“ vor. Dabei geht es um die Bereiche Armut, Ungleichheit, Ernährung und Energie, auch müsse die Ermächtigung von Frauen vorangetrieben werden. So könnte dem Bericht zufolge die Erderwärmung unterhalb der Zwei-Grad-Marke stabilisiert und die Armut beendet werden. Unter anderem sollten Lebensmittel stärker lokal produziert und Verschwendung minimiert werden.

Erneuerbare Energien müssten Kohle, Öl und Erdgas ablösen, der Treibhausgasausstoß etwa alle zehn Jahre halbiert werden. Reiche Länder sollten den armen Staaten alle Schulden erlassen. Ferner müssten die vermögendsten Menschen in allen Ländern stärker besteuert werden. Ein Bürgerfonds soll zudem mehr Menschen am Reichtum der jeweiligen Länder teilhaben lassen.

Neue Studie des Club of Rome über Klimawandel und seine Folgen

Robert Holm, RBB, tagesschau 20:00 Uhr, 30.8.2022

Warnung vor Szenario zwei

Aufgezeigt werden im Bericht zwei Szenarien: Eines enthält einen tiefgreifenden und unverzüglichen Wandel der Wirtschafts-, Energie- und Nahrungsmittelsysteme, was als „Riesensprung“ bezeichnet wird. Hierbei sollen die Staaten den Beschluss fassen, dass Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Welthandelsorganisation so umgestaltet werden, dass sie ökologische Wende sowie Investitionen in Klima, Nachhaltigkeit und Wohlergehen unterstützen. Länder investieren dem Szenario zufolge in allgemeine Grundeinkommen, Bildung und Gesundheit. Das Prinzip setzt durch, dass den reichsten zehn Prozent nicht mehr als 40 Prozent des jeweiligen Nationaleinkommens zusteht. Vermögenssteuern werden eingeführt und Steueroasen geschlossen. Industrien leisten eine Zahlung für die Nutzung gemeinsamer Ressourcen.

Das zweite Szenario, bei dem „zu wenig, zu spät“ passiert, handelt von einer Entwicklung, die weltweit der im Zeitraum zwischen 1980 und 2020 ähnelt. Hier wächst die Ungleichheit, die in vielen Regionen zum Aufstieg von Populismus und Autoritarismus führt. Der wirtschaftliche Abstand zwischen einkommensstarken und einkommensschwachen Regionen vergrößert sich dem zweiten Szenario zufolge. Extreme Armut nimmt zu. Wohlstand gibt es noch privat, während Staaten einer strikten Sparpolitik folgen. Klimamigration nimmt zu, Pandemien häufen sich. 2050 überschreitet die Erderwärmung die Zwei-Grad-Grenze.

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Klimaforscher melden alarmierende Rekordwerte bei Treibhausgasen und Meeresspiegel.

Bereits 1972 vielbeachteter Bericht

Der Club of Rome ist ein Zusammenschluss von Fachleuten verschiedener Disziplinen und Länder. Die Gründer hatten 1965 bei einem Treffen in Rom eine „selbstmörderische Ignoranz“ als Ursache für den „Irrweg der Menschheit“ identifiziert. 1972 erschien die von der Gruppe in Auftrag gegebene Studie „Die Grenzen des Wachstums“. Der viel beachtete Bericht warnte damals, wenn das Wachstum von Bevölkerung, Wirtschaft und Konsum ungehindert weitergehe, drohe Mitte des 21. Jahrhunderts die Katastrophe, Nahrungsmittel und Ressourcen würden schwinden.

Zukunftsforscher Randers, damals wie heute Ko-Autor des Club-of-Rome-Berichts, geht von einem „zu wenig, zu spät“-Szenario aus. Die kommenden Generationen müssten vermutlich in einer Welt leben, die viel weniger attraktiv sei als die, die bei Gegenmaßnahmen erreicht würde. Er werde aber weiter hart daran arbeiten, die Reichen der Welt zu überzeugen, jährlich zwei bis vier Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts zu bezahlen. Denn mit diesem Geld könnten alle Probleme gelöst werden.

Neben dem Club of Rome waren am „Survivalguide für unseren Planeten“ das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, die gemeinnützige schwedische Forschungseinrichtung Stockholm Resilience Centre und die private norwegische Wirtschaftshochschule Norwegian Business School beteiligt.

Presseclub (mit Andreas Zumach): Sechs Monate Krieg in der Ukraine

Presseclub: Sechs Monate Krieg in der Ukraine: Patt an der Front, Kriegsmüdigkeit im Westen?

14.816 Aufrufe – Vor 6 Stunden live gestreamt phoenix – 

Seit einem halben Jahr müssen die Menschen in der gesamten Ukraine mit Tod, Vertreibung und Verwüstung leben. Ein Ende des russischen Angriffskrieges scheint nicht in Sicht. Mit Hilfe westlicher Waffen konnte der Vormarsch von Putins Armee zwar vorerst weitgehend gestoppt werden. Für die oft verkündete ukrainische Gegenoffensive fehlt dem Land bislang jedoch offensichtlich die Kraft. Wie realistisch ist es vor diesem Hintergrund, wenn Präsident Selenskyj verkündet, er wolle alle von Russland eroberten Gebiete befreien? Ist der Westen dazu bereit, mehr schwere Waffen und Munition zu liefern als bislang? Und würde das tatsächlich einen militärischen Erfolg der Ukraine garantieren?

Darüber diskutiert WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn mit den Gästen: – Alice Bota, DIE ZEIT – Kerstin Münstermann, Rheinische Post – Christoph Schiltz, WELT – Andreas Zumach, freier Journalist


Quelle: Spiegel 23.8.22:

Krieg in der Ukraine Deutschland plant weitere Waffenlieferungen

Bergepanzer, Raketenwerfer, Präzisionsmunition: Deutschland will der Ukraine weitere Waffen zur Verfügung stellen. Bis das Material im Kriegsgebiet ankommt, wird es allerdings dauern.

Ist Deutschlands militärische Hilfe für die Ukraine ausreichend? Die Debatte darüber läuft seit Monaten, auch innerhalb der Koalitionsparteien. Jüngst forderten drei Ampelabgeordnete in einem SPIEGEL-Gastbeitrag mehr militärische Hilfe für die Ukraine, selbst wenn dies Lücken bei der Bundeswehr reißen sollte.

Nun hat Bundeskanzler Olaf Scholz während seines Besuchs in Kanada angekündigt, Deutschland werde weitere Waffen im Wert von rund einer halben Milliarde Euro an die Ukraine liefern.

Scholz sagte in Toronto bei einer Online-Konferenz zur Ukraine, dass Deutschland etwa zusätzliche drei Iris-T-Systeme, ein Dutzend Bergepanzer, 20 Raketenwerfer sowie Präzisionsmunition und Antidrohnengeräte liefern wolle. Die Lieferungen sollten in diesem und im kommenden Jahr erfolgen. Der Haushaltsausschuss müsse den Ausgaben noch zustimmen.

Besonders hohe Reichweite: Was die neue Vulcano-Munition der Ukraine bringt Von Jörg Römer

Internationale Krim-Konferenz: Scholz verspricht Hilfe, »solange die Ukraine sie braucht«

Scholz soll bei der Konferenz die Lieferungen auch als Beitrag zur Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte bezeichnet haben. Völlig überraschend kommt die Ankündigung nicht. So hatte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht im Juli schon einmal von Bergepanzern für die Ukraine gesprochen. Und jüngst war bekannt geworden, dass Deutschland den ukrainischen Streitkräften spezielle Vulcano-Artilleriemunition zur Verfügung zu stellen (mehr darüber lesen Sie hier ).

Bei einer Konferenz zur Lage der von Russland annektierten Krim sagte Scholz der Ukraine anhaltende Unterstützung zu. »Die internationale Gemeinschaft wird Russlands illegale, imperialistische Annexion ukrainischen Territoriums niemals akzeptieren«, sagte er per Videoschalte aus Kanada.

Ringtausch mit der Slowakei

Am Dienstag wurde zudem bekannt, dass die Slowakei 30 Schützenpanzer an die Ukraine liefert und dafür 15 deutsche Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 A4 erhalten soll. Rüstungsstaatssekretär Benedikt Zimmer unterzeichnete mit seinem slowakischen Amtskollegen eine entsprechende Absichtserklärung.

Die deutschen Panzer werden demnach aus Beständen der deutschen Industrie geliefert und um ein sogenanntes Munitions-, Ausbildungs- und Logistikpaket ergänzt. In der Slowakei stehen bereits deutsche und niederländische Flugabwehrraketen vom Typ Patriot, mit denen der an die Ukraine grenzende Nato-Partner unterstützt wird. Die Lieferung der Leopard-Panzer wird der erste Ringtausch aus Beständen der Industrie.