Krieg in der Ukraine – Scholz hat recht

Spiegel online 08.03.2022 Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer

Krieg in der Ukraine – Scholz hat recht

Mitten in die Kriegseskalation hinein vertritt die Bundesregierung die These, es sei für den inneren Frieden Deutschlands wichtig, weiter russisches Gas und Öl zu importieren. Der Gedanke ist richtig und ausbaufähig.

Gefühl

Bekanntlich neigen Menschen, die in großer Not und Angst sind, eher nicht dazu, sich gegenseitig zu berichten, wie schlimm es ihnen geht. Mit der Entfernung wächst das Bedürfnis, auf eine merkwürdig vereinnahmende Weise teilzuhaben am fremden Leid. Nun sind Mitleid und Mittrauer gewiss keine verdächtigen Motive; zu Recht gelten sie als hohe menschliche Qualität im evolutionären, sozialen und psychologischen Sinn. Aber man muss aufpassen: Selten sind Voyeurismus und Freude daran, nicht selbst zu leiden, so billig und auch noch mit solcher Inbrunst des Gutseins zu bekommen. Tatsächlich wissen das auch alle. Deshalb verachten und bestrafen sie die »Gaffer«, die »Schaulustigen«, die »Katastrophentouristen«, die stets die anderen sind. Fragt man die »Gaffer« selbst, sind sie stets aus Mitleid da.

Kampfpläne

Im Fall des fremden Kriegs kommt noch anderes dazu. Zum Beispiel eine große Lust am Strafen, die Freude daran, Schuldige, Verräter und Feinde, nicht zuletzt auch in den eigenen Reihen, zu finden und zu quälen, zur Strafe für die Angst. Deshalb werden russische Tütensuppen aus Regalen entfernt, russische Sängerinnen aus den Ensembles geworfen und Freunde von Russen aus Hundezuchtvereinen und Parteien. Ich weiß nicht, ob der Krankenhausverband, die Stiftung Patientenschutz und die Institutionen der Altenpflege schon alle russischen Pflegekräfte, Krankenpfleger und Ärzte aufgefordert haben, entweder Kittel in den ukrainische Landesfarben zu tragen oder den Dienst zu quittieren. Möglich scheint derzeit alles.

Die erbärmlichste aller Distanz-Kampfmaßnahmen der letzten Woche war es, die russischen Behindertensportler von den Paralympics auszuschließen. Körperlich oder geistig schwer behinderte Menschen, die jahrelang mit bewundernswerter Energie auf diesen Termin hingearbeitet haben und für die der Sport nicht selten eine zentrale Quelle von Überlebensmut und Freude ist, dafür zu bestrafen, dass sie Russen sind: Darauf muss man erst einmal kommen. Dafür und für das pharisäerhafte Selbstlob dieser Tapferkeit sollten sich alle schämen. Mehr ekelhafte Heuchelei auf Kosten Dritter geht kaum noch.

Da sind andere Kampfpläne von ganz anderer Qualität. Wie vorherzusehen, war es nur eine Frage der (kurzen) Zeit, bis die ersten »kritischen« Fragen danach auftauchten, ob nicht ein kleiner Nato-Einsatz doch geeignet und erforderlich … Dem Vorsitzenden der CDU, vom einsam »gereiften« Kanzler in den medialen Schatten gedrängt, war es vorbehalten, das Stichwort einzubringen: Nato-Angriff? Na ja, eigentlich nicht, aber andererseits doch, wenn Russland gezielt die Atomkraftwerke in der Ukraine zerstört. Nun ja, denkt da mancher, das Sauerland hat schon viele große Strategen hervorgebracht, warum soll da nicht auch mal einer sagen, dass er eher die Welt vernichten würde als sich bei einem Angriff aus dem All den Aliens ergeben.

Aber so einfach ist das nicht. Schon munkelt es durch die Presse, dass das Verwaltungsgebäude des ukrainischen AKW »gezielt« beschossen wurde. Und auf Seite eins der »FAZ« vom 5. März schreibt ein Herausgeber, dass der Einsatz von taktischen Atomwaffen zum Standardrepertoire der russischen Armee gehöre und man dort den »Einsatz in verstrahltem Gebiet« trainiere .. Die unseren, soll das wohl vorgaukeln, üben so etwas erst gar nicht.

Und überhaupt: Wieso sollen Schützenpanzer eigentlich keine Verteidigungswaffen sein? Die ganze Bundeswehr und sowieso alle Nato-Armeen sind doch eigentlich, wie schon der Name der zuständigen Ministerien zeigt reine Verteidigungswaffen! Die Zeiten, in denen Politiker stolz zum Titel »Kriegsminister« standen, sind vorbei, seit die Geheimdienste im Ministerium der Liebe und die Abteilungen für Propaganda und embedded journalism im Ministerium für Wahrheit angesiedelt sind. Seit Sonntag, so meldeten Herr Stoltenberg und Teile des Kapitols, denke man »aktiv« über die Lieferung von Nato-Kampfflugzeugen an die Ukraine nach. Natürlich nur russische MIG 29, die bei der polnischen Nato-Armee dienen! Wäre es nicht ein Spiel mit Freude aufs Feuer, könnte man fasziniert dieser Emanzipation der Waffe vom Werkzeug zur ethnisch eigenständigen Persönlichkeit zuschauen: Das Erschießen eines Russen mit einer Kalaschnikow wird, aus den Augen der Waffen-Identität, zum schlichten Selbstmord des Feindes.

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Waffenlieferungen an die Ukraine: Diskussion bei maybritt illner – 8.4.22

Waffenlieferungen an Ukraine: Merz kritisiert Kanzler Scholz I maybritt illner vom 08.04.2022 –314.232 Aufrufe – 08.04.2022 –

Friedrich Merz ist der Meinung, Scholz habe entsprechende Fragen in der Regierungsbefragung im Parlament nicht beantwortet. Die Waffenlieferungen seien Chefsache. Funktionierten die Prozesse nicht, müsse Scholz von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sage zum Teil sogar die Unwahrheit, kritisiert Merz mit Blick auf vorgebliche Geheimhaltungsabsprachen mit der Ukraine. „Parlament und Öffentlichkeit werden von dieser Bundesregierung getäuscht“, so der Oppositionsführer. Lambrecht sei mit dem Amt völlig überfordert. Deutschland laufe mit den Waffenlieferungen für die Ukraine „ständig hinterher“.

Nach 16 Jahren unionsgeführter Militärpolitik sollten CDU und CSU jetzt nach Ansicht von FDP-Fraktionschef Christian Dürr „nicht ganz so laut auf die Sahne hauen“. Gleichwohl sprach sich Dürr für deutlich mehr Anstrengungen bei den Waffenlieferungen für die Ukraine aus. Richtig sei, dass Deutschland jetzt bewaffnete Panzer liefere. Er sei auch bereit, über eine Freigabe von Waffen zu reden, die „jetzt auf den Höfen der deutschen Rüstungskonzerne“ stehen und nicht genutzt werden. Sollte der Fall eintreten, dass der Krieg in der Ukraine länger dauere, müsse nun militärisch darüber nachgedacht werden, „wie wir auch länger die Soldatinnen und Soldaten der Ukraine unterstützen“, so Dürr.

Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, fordert für den Fall, dass kein Gas mehr aus Russland kommt, eine Priorisierung der Wirtschaft bei der Gasverteilung. Im Vergleich zum Heizen von Wohnungen sei der Arbeitsplatz für viele wichtiger, so Wolf: „Wenn Sie die Leute fragen und sagen: ‚Wollt ihr lieber bei 17 Grad zu Hause sitzen und drei Pullover anhaben und euren Arbeitsplatz behalten?‘, dann sagen die sofort: ‚Ja.'“ Angesichts des Ziels der Autarkie von Russland fordert er die Erwirtschaftung von Geld, „das wir dann in Windkraftanlagen stecken in Deutschland.“

Christian Dürr (FDP) spricht sich ebenfalls für eine Repriorisierung im Gas-Notfallplan zugunsten der Grundstoffindustrie aus. Stoppe Russlands Präsident Wladimir Putin die Gaslieferungen, hätte das in grundlegenden Bereichen der Wirtschaft dramatische Folgen. Gehe „es nur um Wärmeversorgung, wie im Wohnzimmer, wäre das eine andere Situation“, sagte Dürr. Die „eigene Versorgung“ dürfe nicht zusammenbrechen. Da sei „das Wohnzimmer nicht ganz so prioritär“, sagte der FDP-Politiker mit Bezug auf die derzeit gültige Regel, die Privathaushalten Vorrang bei der Energieversorgung einräumt.

Der Militärexperte Prof. Carlo Masala kritisiert, dass die Diskussion rund um den Stopp russischer Gasimporte „zu binär“ geführt werde. Man könne darüber nachdenken, die Fördermengen so zu reduzieren, „dass diese Grundindustrie noch weiterlaufen kann“. Bei einem Ausbleiben eines Gasembargos dürfe man nicht auch bei Waffenlieferungen bremsen: „Wir können nicht auf der einen Seite der Bremser sein und auf der anderen Seite sehr zögerlich sein“, so Masala: „Wir profitieren enorm von Sicherheit und Stabilität auf diesem europäischen Kontinent.“

Die ukrainischer Verlegerin Kateryna Mishchenko fordert, dass man den Ukrainern nicht nur helfen solle, sondern nun zusammen kämpfen müsse. Dazu müsse man diesen Krieg nicht als humanitäre Katastrophe wahrnehmen. Die Ukrainer seien keine Helden, sondern „einfach Menschen, die leben wollen und die auch Verantwortung übernehmen“. Das sei die Stärke des Landes, so Mishchenko. —

Die Gäste der Sendung: Christian Dürr, Fraktionsvorsitzender, FDP Friedrich Merz, Partei- und Fraktionsvorsitzender, CDU Kateryna Mishchenko, ukrainische Verlegerin und Mitautorin des Maidan-Buches „Ukrainische Nacht“, aus Kiew geflüchtet Stefan Wolf, Präsident Arbeitgeberverband Gesamtmetall, Unternehmer Carlo Masala, Militärexperte, Professor für Internationale Politik, Universität der Bundeswehr, München

Ulrich Schmid | Endspiel in Kiew oder in Moskau? – Putins Ukraine-Krieg markiert eine Zeitenwende

Ulrich Schmid | Endspiel in Kiew oder in Moskau? – Putins Ukraine-Krieg markiert eine Zeitenwende

957 Aufrufe – 11.04.2022 –NZZ Standpunkte – 

Der Krieg in der Ukraine dauert bereits Wochen. Putins Plan eines schnellen Sieges ist gescheitert. Einmal mehr wird klar: In Russland klaffen Sein und Schein weit auseinander. Und es fragt sich, ob die Jahre nach 1991 mehr gebracht haben als die Verfestigung einer neuen Diktatur.

Mit dem Slawisten Ulrich Schmid diskutiert der NZZ-Chefredaktor Eric Gujer über den Zustand von Putins Regime und der russischen Gesellschaft. Wieso verfällt das Land einmal mehr der Gewaltherrschaft. Warum ist der «homo sovieticus» noch immer nicht Geschichte?

Und wie hat es die Ukraine geschafft, sich vom toxischen Erbe des Sowjetimperialismus zu befreien? Sendung vom 10.04.2022

Egon-Bahr-Symposium zum 100. Geburtstag am 18. März 20222

5. Egon-Bahr-Symposium am 17./18. März 2022

Egon Bahr war nicht nur wesentlicher Architekt der Entspannungs- und Ostpolitik der Regie­rung Willy Brandts, sondern auch Vordenker für Gemeinsame Sicherheit und Frieden in Europa.

Er hatte die Fähigkeit strategisch in langen Linien zu denken und auch andere Politikfelder mit einzubeziehen. Am 18. März 2022 wäre Egon Bahr 100 Jahre alt geworden.

Das Ziel des 5. Egon Bahr Symposiums ist, die aktuelle Situation nach dem Völkerrechtsbruch durch den russischen Präsidenten Putin zu bewerten und kurz- und mittelfristige Konsequenzen zu reflektieren. Dabei wollen wir die Herausforderungen für die neue europäische Sicherheitsarchitektur besprechen und uns anschließend den globalen Perspektiven für Sicherheit und Frieden in Asien zuwenden.

Nach jeweils einem Impuls sollen in zwei Podien Fragen regionaler, europäischer und globaler Sicherheit besprochen werden. Das erste Panel beschäftigt sich mit der europäischen Situation. Das zweite Panel soll sich mit der Rolle Europas im Indopazifik angesichts der neuen Allianzdynamik in der Region befassen.


https://www.blaetter.de/ausgabe/1997/juni/die-geschichte-ist-anders-gegangen

Die Geschichte ist anders gegangen: Vom Wandel durch Annäherung zur Osterweiterung aus Hilflosigkeit – Günter Gauss im Gespräch mit Egon Bahr am 22. April 1997

von Günter Gaus, Egon Bahr

Am 22. April 1997 fand auf Einladung des SPD-Ortsvereins Königswinter bei Bonn ein Treffen zwischen Egon Bahr, der kürzlich 75 Jahre alt wurde, und Günter Gaus statt. Im lockeren Gespräch der politischen Weggefährten wurden die allgemeine außenpolitische Konzeptlosigkeit, Probleme und mögliche Folgen der NATO-Osterweiterung und die neue Rolle Deutschlands diskutiert. Auch Vergangenes kam zur Sprache, wie etwa persönliche Erfahrungen mit Willy Brandt und Herbert Wehner und das Nachwirken alter Denkstrukturen des Ost-West-Konflikts. Wir danken den Beteiligten für die freundliche Unterstützung bei der Erarbeitung dieser „Blätter“-Druckfassung des Gesprächs. D. Red.

Nato-Osterweiterung: Gespräch Günter Gaus mit Egon Bahr  am 22.4.1997