Vor 30 Jahren begann der Bosnienkrieg

Vor 30 Jahren begann der Bosnienkrieg

Nicht nur die Situation in der Ukraine beunruhigt Be­woh­ne­r*in­nen der Föderation Bosnien und Herzegowina“. Auch die Nachrichten aus der serbischen Teilrepublik Bosniens und Herzegowinas, der Republika Srpska und aus deren Hauptstadt Banja Luka sind beunruhigend. Milorad Dodik, der „starke Mann“ der bosnischen Serben, macht keinen Hehl aus seiner Sympathie für den russischen Diktator. Dodik will den serbischen Teilstaat von Bosnien und Herzegowina abtrennen, was die Bevölkerungsmehrheit des Landes nicht hinnehmen könnte. Es kommt hinzu, dass auch der kroatische Nationalistenführer Dragan Čović sich mit Dodik verbündet hat und sich ebenfalls als Putin-Unterstützer outet. Die Grenzen zwischen der serbischen Teilrepublik, der sogenannten „Republika Srpska“, und der „Föderation Bosnien und Herzegowina“ wurden im November 1995 im Friedensvertrag von Dayton, Ohio festgelegt. Beide Seiten kontrollieren seither rund 49 Prozent der Fläche des Landes, 2 Prozent macht die Sonderzone Brčko aus.

Ein Blick zurück

Am 2. März 1992 stimmten zwei Drittel der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas bei der Volksabstimmung für die Unabhängigkeit. Die serbische Führung aber wollte die Unabhängigkeit verhindern. Am 6. April sollte das Land von der EU diplomatisch anerkannt werden. Am 5. April 1992 demonstrierten Hunderttausende in Sarajewo und anderen Städten für den Frieden. Sollte Bosnien und Herzegowina sich für unabhängig erklären, dann werde das Land im Blut versinken, hatte Radovan Karadžić, der politische Führer der bosnischen Serben und Vorsitzende der Serbischen Demokratischen Partei (SDS), gedroht.

Diese Drohung machten die Serben ab dem 5. April wahr. Anfangs gelang es ihnen, die Jugoslawische Volksarmee unter ihre Kontrolle zu bringen. Zunächst gingen sie im Osten des Landes gegen die muslimische Mehrheitsbevölkerung in die Offensive. Ratko Mladić’ Truppen nahmen das Tal der Drina ein. Die westbosnischen Städte Banja Luka und Prijedor fielen ohne Kampf in serbische Hand.  Dort wurden „Krisenstäbe“ tätig, die Nicht­serben zwangen, weiße Binden zu tragen, um sie schließlich in Konzentrationslagern zu internieren. Allein in Prijedor starben im Sommer 1992 über 3.200 Menschen in den Lagern Omarska und Keraterm.

Die serbischen Truppen besetzten im Herbst 1992 über 66 Prozent des Territoriums von Bosnien und Herzegowina. Zehntausende Menschen verloren dabei ihr Leben. 2 Millionen von 4,5 Millionen Einwohnern flohen in die noch von der bosnischen Armee gehaltenen Gebiete oder ins Ausland. Allein Deutschland hat damals mehr als 300.000 Menschen aufgenommen.

Die kroatische Seite fing im Mai 1993 an, das verbliebene Restbosnien anzugreifen und Gebiete für ihren Parastaat Herceg-Bosna zu erobern. Die kroatisch-bosnische Armee HVO schoss mit Artillerie auf die von Muslimen bewohnte historische Altstadt von Mostar. Sie zerstörten die berühmte Alte Brücke, das Wahrzeichen der Stadt, das zudem die Verbindung der Kulturen symbolisiert.

Das von der bosnischen Regierung gehaltene Territorium bestand im Sommer 1993 nur noch aus von Feinden eingekreisten Enklaven. Doch langsam konsolidierte sich der Widerstand. Die bosnische Armee organisierte sich trotz aller Widrigkeiten. Die kroatische HVO wurde Stück für Stück aus Zentralbosnien vertrieben, kroatisch dominierte Städte wie Vitez und Kiseljak wurden von bosnischen Truppen umzingelt.

Den USA gelang es, den kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman zu einer Umkehr seiner Strategie zu bewegen. Im März 1994 wurde das Washingtoner Abkommen beschlossen, die Blockade Zentralbosniens wurde beendet. Die bosniakisch und kroatisch kontrollierten Gebiete wurden in diesem Abkommen in der Föderation Bosnien und Herzegowina zusammengefasst, der kroatische Parastaat Herceg-Bosna aufgelöst.

Nach dem Genozid von Srebrenica im Juli 1995 sollte nach dem Willen der USA und auch Europas endlich Frieden geschaffen werden. Die Nato trat auf den Plan. Serbische Artillerie-Stellungen um Sarajevo wurden beschossen. Kroatische und bosnische Truppen rückten vor, die Serben verloren im August 1995 binnen zehn Tagen alle Eroberungen in Kroatien und mussten sich nach Bosnien zurückziehen. Im September 1995 dann gelang es bosnischen und kroatischen Truppen, die Serben auch in Bosnien zu schlagen. Doch sie kontrollierten immer noch 50 Prozent des Landes.

Den im November 1995 in Dayton, Ohio ausgehandelten Friedensvertrag konnten die serbischen Nationalisten durchaus als Sieg ansehen. Ihre Strategie, Bosnien und Herzegowina und damit die gemeinsame multinationale Gesellschaft zu zerschlagen, wurde von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert. Er wird von ihren Nachfolgern in der serbischen Führung fortgeführt.

Mehr Informationen:

https://taz.de/Vor-30-Jahren-begann-der-Bosnienkrieg/!5842991/

https://www.blaetter.de/ausgabe/2021/november/brennpunkt-balkan-oder-schoene-neue-imperiale-welt

Bosnien-Herzegowina: Neuer Krieg auf dem Balkan?

731.285 Aufrufe – 22.01.2022

Knapp 30 Jahre nach dem verheerenden Krieg im Land, droht in Bosnien-Herzegowina ein neuer Konflikt – der auf alten Auseinandersetzungen beruht. Der serbische Teil des Landes möchte unabhängig werden, und das mit aller Macht. Aber: Warum? Und warum könnte das zu einem neuen Krieg auf dem Balkan führen? Darum geht es in diesem Video.

Wer die Bomben zahlt

Quelle:  Krautreporter
 

 

 

Wer die Bomben zahlt

31. März 2022
 
Jeder Krieg kostet Milliarden. Wo kommt das Geld dafür her? Das wollte unsere Community wissen. Deswegen habe ich die Antwort recherchiert.

 

 

Im Mai 1967 ereignete sich im Heiligen Land ein kleines Wunder. In den Steuerverwaltungen des jungen israelischen Staates trafen jeden Morgen neue, sehr erstaunliche Meldungen ein, die sich nur auf eine Art interpretieren ließen: Die Leute wollten ihre Steuern zahlen. Sofort. Mehr als sie eigentlich müssten. Und Jahre im Voraus. Manche verzichteten sogar auf Rückzahlungen, die ihnen zugestanden hätten. Jahrelang hatte sich die Bevölkerung Israels gegen Steuererhöhungen gewehrt – und plötzlich konnten sie nicht schnell genug ihre Steuern zahlen.

Was war passiert? In den ersten Monaten des Jahres 1967 wussten die Israelis mit immer größerer Sicherheit, dass es bald Krieg geben würde. Das Land war umzingelt von Feinden, die auf Rache sannen für die Gebietsverluste in früheren Konflikten. Viele Israelis glaubten, dass es in dem kommenden Krieg um alles oder nichts gehen könnte: Würde Israel gewinnen, wäre die Zukunft des Landes gesichert. Verlöre es aber, würde es ausgelöscht werden. So dachten die Menschen. Sie wollten ihren jungen Staat, erst vor einigen Jahren aufgebaut, nicht seiner Finanzmittel berauben. Deswegen zahlten sie freiwillig mehr.

Das Verhalten der israelischen Bürger ist nachvollziehbar, sobald man den geschichtlichen Hintergrund kennt. Bemerkenswert bleibt es trotzdem. Allerdings kann ich Ihnen versprechen, dass das nicht die sonderbarste Geschichte ist, über die ich bei dieser Recherche zur Finanzierung von Kriegen gestolpert bin. Ich stieß auf einen griechischen Finanzminister, der seine Bürger aufforderte, Geldscheine zu zerschneiden, auf Kambodscha, das seine nationale Währung abschaffte und trotzdem Krieg führte, auf Nordkorea, das seine Soldaten unter anderem durch den Export von Pilzen bezahlte und auf die Ukraine, die komplett neue Wege ging.

Wir werden noch sehen: Zum Kriegführen ist immer Geld da. Wirklich immer.

Schulden, Steuern, Inflation – ein Staat finanziert Kriege wie alles andere auch. Oder?

Dass ich mich überhaupt mit diesem Thema beschäftigen konnte, habe ich Ulrich Retter zu verdanken. Ulrich ist 55 Jahre alt, arbeitet in der IT eines großen Handelskonzerns und kommt aus dem Kraichgau, einer Region zwischen Heidelberg und Stuttgart. Er stellte uns vor ein paar Monaten hier folgende Frage: „Wie finanzieren bestimmte Staaten (Syrien, Türkei, Israel, Nordkorea) ihre Militär-/Kriegsausgaben?“ Diese Frage fand unsere Community so interessant, dass sie uns Autoren in einer Abstimmung beauftragt hat, die Antworten zu recherchieren. Gemeinsam mit den Lesern habe ich mich auf die Suche gemacht.

Dabei ist die Frage, wie Kriege finanziert werden, eigentlich ganz einfach: genauso wie Schulen, Straßen und die Polizei. Mit Steuern, mit Schulden, durch Zölle, vielleicht auch durch Inflation. Also mit genau den gleichen Methoden, die ein Staat auch im Frieden benutzt, um bei Kasse zu bleiben und seinen Verpflichtungen nachzukommen. Sicher, der eine Staat hat höhere Einkommenssteuern als der andere, der wiederum mehr Schulden aufnimmt. Aber generell ändert sich nichts an dem System. Das hatte ich mit der Community besprochen, und dann war ich ratlos. Denn das ist ja für jeden schnell zu ermitteln; wozu also noch ein Artikel?

Allerdings wollte Ulrich gar nicht auf das große Ganze hinaus. Ihn hat explizit eine andere Sache beschäftigt: Wie können Staaten Krieg führen, die eigentlich doch kein Geld haben? Nordkorea? Syrien? Länder in Afrika? Woraus bezahlen sie die Kugeln für ihre Gewehre und den Sold für ihre Soldaten? Das wiederum war eine Frage, die ich auf Anhieb sehr spannend fand. Denn könnten Sie beispielsweise beantworten, woher der nordkoreanische Diktator Kim Jong-Un die Milliarden nimmt, um Atomwaffen zu bauen?

Ich startete meine Recherche. Je tiefer ich vordrang, um meine neuen Fragen beantworten zu können, desto mehr faszinierende Facetten entdeckte ich an der alten. Denn es gibt Unterschiede, wie Staaten Kriege finanzieren. Und manchmal sagt die Wahl ihrer Geldquellen erstaunlich viel über ihre Gesellschaft aus.

Aber beginnen wir von vorn.

Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass es bei jedem Krieg einen gibt, der ihn finanziert. Dass da draußen in der prächtigen Villa eines Industriellen oder im Handelsraum einer Investmentbank Milliardensummen in Richtung der Regierung geschoben werden, damit diese ihren Krieg führt. Denn in allen Kriegen, die in den vergangenen 200 Jahren geführt wurden, zapften die Kriegsparteien verschiedene Geldquellen an. Das zeigt die groß angelegte Untersuchung der US-amerikanischen Politologin Rosetta Capella, die sie im vergangenen Jahr veröffentlicht hat. Sie hat 39 Kriege mit 31 Kriegsparteien aus 200 Jahren ausgewertet, und sie fand heraus, dass sich die Finanzierungsmethoden während des Krieges ändern können: Beispielsweise erhoben die USA keine Einkommenssteuer zu Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges, an dessen Ende machte sie aber einen bedeutenden Teil des Staats- und Militärhaushaltes aus.

Heute bilden Steuern die Grundlage jedes Staates. Sie bilden aber auch ein nettes kleines Werkzeug, um herauszufinden, wie eine Regierung Krieg führen will: mit der großen, nationalen Kraftanstrengung oder leise, fast versteckt?

Die Antwort auf die Frage „Wer finanziert Kriege wie?“ gibt es hier

Frank Bsirske gibt Widerworte zum Aufrüstungs-Konsens

Grobes Foul“ von Kanzler Scholz – Frank Bsirske gibt Widerworte zum Aufrüstungs-Konsens –

Beim Sozialpolitischen Aschermittwoch in Regensburg kritisiert der frühere ver.di-Vorsitzende und Grünen-Abgeordnete Frank Bsirske die geplante Erhöhung der Militärausgaben scharf. Das Vorgehen von Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnet Frank Bsirske als „grobes Foul“ und spricht von Diskussionsbedarf innerhalb der Ampel-Koalition.

„Nackte Propaganda.“ So bezeichnet Frank Bsirske schließlich, der Live-Stream ist da schon aus, Aussagen, die Heeresinspekteur Alfons Mais kürzlich auf Twitter verbreitet hatte und denen zufolge die Bundeswehr „mehr oder weniger blank“ dastehe. Und wieder gibt es Applaus von den knapp 70 Anwesenden. Volles Haus unter Corona-Bedingungen im Leeren Beutel.

Bsirske, Jahrgang 1952, 18 Jahre Bundesvorsitzender der Gewerkschaft ver.di und heute für die Grünen im Bundestag, ist am Mittwoch zum Sozialpolitischen Aschermittwoch nach Regensburg gekommen, um über „umkämpftes Terrain“ zu reden. Soziale Fragen, Verteilungsgerechtigkeit, Klimawandel – so wie man es bei der Veranstaltung erwartet, die seit fast 20 Jahren federführend von den Sozialen Initiativen organisiert wird und heuer neben ÖDP und Grünen auch von der SPD unterstützt wird. All das hat er als erfahrener Rhetoriker vorbereitet, um es pointiert, zugespitzt und etwas bissig auf den Punkt zu bringen – so wie es sich für eine Rede beim Aschermittwoch eben gehört.

Keine Alternative zur Aufrüstung?

Doch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat auch vor Bsirskes Rede nicht Halt gemacht – und auch die politischen Pläne der Bundesregierung in diesem Zusammenhang sind, folgt man Bsirske, „umkämpftes Terrain“ innerhalb der Ampel-Koalition.

Dabei macht der Bundestagsabgeordnete keine Konzessionen an Wladimir Putin. Den Krieg bezeichnet Bsirske als „Verbrechen“ und eine „eklatante Verletzung des Völkerrechts“. „Die dafür ins Feld geführten Begründungen sprechen der Wahrheit Hohn und sind an Zynismus und Absurdität kaum zu überbieten.“ Die harten Sanktionen gegen Russland seien richtig. Auch wenn diese den Krieg kurzfristig nicht stoppen könnten, würden sie „mittel- und langfristig eine nachhaltige Wirkung entfalten“.

Sorgen macht Bsirske, seit 35 Jahren Grünen-Mitglied, aber ungeachtet all dessen die Verschärfung der sicherheitspolitischen Debatte. Wenn Stimmen wie der Militärhistoriker Sönke Neitzel einen „strukturellen Pazifismus“ in Deutschland beklage und für eine „Wiederbelebung militärischer Tugenden“ eintrete, Transatlantiker Sigmar Gabriel gegenüber dem Handelsblatt erkläre, dass US-Präsident Donald Trump Europa „ohne mit der Wimper zu zucken an Russland verkauft“ hätte und das Blatt schließlich daraus folgere, dass es keine Alternative zur Aufrüstung gebe, um zu verhindern, das in weiteren Staaten dasselbe passiere wie in der Ukraine, dann müsse man das kritisch hinterfragen.

„Krasses Missverhältnis“ der Militärausgaben von Russland und NATO

„Was Putin derzeit in der Ukraine erlebt, lädt nicht dazu ein, in den baltischen Staaten weiterzumachen“, so Bsirske. „Putin mag den Krieg in der Ukraine militärisch gewinnen, den Frieden gewinnt er nicht.“ Auf Dauer werde diese auf Krieg und Volksgefängnis gründende Herrschaft nicht tragen. Wirtschaftlich werde diese auf Fremdherrschaft und Vassalenterritorium gründende Idee für Russland noch viel mehr Last sein als es die osteuropäischen Staaten für die Sowjetunion waren. Das sei weder attraktiv noch habe es Aussicht auf Bestand, ist Bsirske überzeugt.

Wenn man jetzt über einen kräftigen Schub in Sachen Aufrüstung nachdenke, dann lohne sich ein Blick auf die Relationen bei den Rüstungsausgaben. Hier bestehe bereits jetzt ein derart krasses Missverhältnis, dass man sich frage, „was es eigentlich soll, dieses Missverhältnis noch krasser zu gestalten“.

Laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI lagen die russischen Militärausgaben im vergangenen Jahr bei 61,7 Milliarden US-Dollar. „Allein Deutschland würde Russland in den absoluten Rüstungsausgaben übertreffen“, wenn das Zwei-Prozent-Ziel der NATO künftig eingehalten werde, so Bsirske. Der Militärhaushalt stiege dann auf über 70 Milliarden US-Dollar. Ohnehin stehe den russischen Zahlen die USA mit Ausgaben von 778 Milliarden US-Dollar gegenüber. Die gesamten Militärausgaben der NATO-Staaten belaufen sich auf über eine Billion Dollar. „Und jetzt wird uns gesagt, das reicht alles nicht. Ich finde das nicht einleuchtend.“

Bundeswehr „blank“ trotz 50 Milliarden? „Ein Offenbarungseid.“

Die Bundeswehr habe ein Ausrüstungs-, aber kein Aufrüstungsdefizit. Der deutsche Rüstungshaushalt sei seit 2015 um mehr als ein Drittel gestiegen – von rund 32 Milliarden Euro auf mittlerweile rund 50 Milliarden im Jahr 2022. Wenn die Bundeswehr trotz dieser Ausgaben „blank“ oder „nackt“ dastehe, 50 Milliarden Euro also nicht reichen würden, dann müsse man fragen, „was da eigentlich falsch läuft anstatt noch zusätzliches Geld hinterher zu werfen“. Es stelle sich auch die Frage nach der politischen Verantwortung. Wenn die Bundeswehr trotz des bestehenden Etats nackt sei, dann sei das ein „Desaster für diejenigen, die die politische Verantwortung hatten“. Es sei ein „Offenbarungseid“ für die Kontrolle der Politik der unionsgeführten Verteidigungsministerien der letzten Jahrzehnte.

Da gebe es „echten Diskussionsbedarf“ – nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Ampel. Bsirske ist sich dabei sicher, dass viele Abgeordnete der Grünen-Fraktion diese Position teilen. Insbesondere vor dem Hintergrund der Erklärung von Bundesfinanzminister Christian Lindner, dass künftig alle öffentlichen Ausgaben auf den Prüfstand gestellt werden müssten.

„Grobes Foul“ des Bundeskanzlers

Die Ankündigung von Olaf Scholz, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO künftig nicht nur einzuhalten, sondern sogar noch zu übertreffen und zusätzlich ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen sei nach seinem Kenntnisstand weder mit der Grüne-, noch mit der SPD-Fraktion abgesprochen gewesen. „Das ist ein grobes Foul, das Folgen haben sollte“, sagt Bsirske später in der Fragerunde.

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Jetzt gehe es um die Ausgestaltung des angekündigten Sondervermögens und den zugrunde gelegten Sicherheitsbegriff. Dazu gehöre dann nämlich auch Energieunabhängigkeit – und damit müsse ein erheblicher Anteil in die Beschleunigung der Energiewende gesteckt werden. Auch stelle sich die Frage, wie mit Regelung in der Koalitionsvereinbarung umgegangen werde, derzufolge eine Erhöhung der Rüstungsausgaben auch dieselbe Erhöhung der Ausgaben für Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit zur Folge haben müsse.

„Und wenn so viel von Zeitwende die Rede ist und davon, dass Tabus gebrochen werden müssen, sollte dann nicht über eine Vermögensabgabe nachgedacht werden müssen – zum Beispiel eine Abgabe von 19 Prozent für Milliardäre.“ In Bsirskes Augen ist ein solcher Schritt alles andere als undenkbar – von April 2019 bis Juli 2020 sei das Vermögen von Milliardären um just diesen Prozentsatz gestiegen. Und zusätzliche Einnahmen seien ohnehin dringend notwendig. Angesichts des Preisanstiegs bei Energie, insbesondere Erdgas müsse es einen Preisdeckel für einen bestimmten Grundverbrauch geben, für den der Staat die Versorger entschädigen müsse. Dazu müsse man die starken Schultern in der Gesellschaft heranziehen.

Corona: ein „Brandbeschleuniger für Ungleichheit“

Die Corona-Krise habe wie ein Vergrößerungsglas gezeigt, dass es besonders die ärmeren Schichten treffe. „Je prekärer die Lage, desto höher die Infektionsrate.“ Corona sei ein „Brandbeschleuniger für Ungleichheit“ gewesen. Und die anfänglich schnellen Reaktionen der schwarz-roten Regierung zur Abfederung von Einkommensverlusten sei einem zunehmenden Verlust von politischem Vertrauen gewichen. Ein Flickenteppich an Regelungen, Beschaffungsprobleme bei Masken und Tests, persönliche Bereicherung durch einige Unionspolitiker – da sei zum politischen auch noch moralisches Versagen hinzugekommen.

Und schließlich geht Bsirske zum gewerkschaftlichen Teil seiner Rede über. Die Corona-Krise habe gezeigt, wie wichtig sichere, tarifliche abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse auf der einen und ein Staat, der sich um Daseinsvorsorge kümmere, auf der anderen Seite seien. Bsirske fordert eine nachhaltige Aufwertung des Pflegeberufs – Lohnerhöhungen und generell bessere Arbeitsbedingungen. Insgesamt müsse die Krankenpflege auf ein anderes, ein gemeinnütziges System umgestellt werden.

„Klimakrise bedroht Menschheit als Gattung“

Als „fundamentalste Herausforderung“ allerdings sieht Bsirske die Klimakrise. Hier sei die „Menschheit als Gattung“ bedroht. Es brauche einen raschen Umbau der Wirtschaft. Dieser werde nicht ohne Folgen für Arbeitsplätze und Beschäftigte bleiben. Es gebe aber auch große Chancen für Zukunftstechnologien und neue Arbeitsplätze. Gefordert seien dabei Arbeitgeber und Gewerkschaften, vor allem aber ein aktiver Staat. „Der schafft die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und nicht der Markt.“ Es brauche Planungssicherheit für Unternehmen und erhebliche Eigeninvestitionen des Staates. Als Beispiel nennt Bsirske den kommunalen Investitionsbedarf, der laut KfW bundesweit bei 147 Milliarden Euro liegt, aber auch die niedrigen Pro-Kopf-Investitionen in die Schiene, die in Deutschland derzeit bei 80 Euro pro Jahr liegen – in Österreich betragen sie mehr als das Drei-, in der Schweiz mehr als das Vierfache.

Um hier mehr ausgeben zu können, müssten die Schuldenbremse und das Ziel einer schwarzen Null gekippt werden, fordert Bsirske. Alles andere sei „ideologisch motivierte Unvernunft“. Auf Dauer gehe das nur durch eine Änderung des Grundgesetzes – doch dafür fehlt im Bundestag bislang die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit.

„Demokratien sind stärker, wenn die Ungleichheit geringer ist.“

Das Ziel in weniger als 30 Jahren eine „klimagerechte Gesellschaft“ zu werden sei eine große Herausforderung, sagt Bsirske gegen Ende seiner Rede. Und solche Veränderungen würden auch Verunsicherung auslösen. Deshalb müssten diese Veränderungen Hand in Hand gehen mit sozialem Ausgleich – mindestens einer Beibehaltung des Rentenniveaus, einem Zurückdrängen prekärer Arbeitsverhältnisse, Schaffung von bezahlbarem Wohnraum und einem anderen Steuersystem, weg von einem Deutschland, das derzeit eine Steueroase für reiche Erben und Vermögensmillionäre und -milliardäre“ sei. Das alles sei nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage. „Demokratien sind stärker, wenn die Ungleichheit geringer ist.“

Die Anwesenden quittieren diese Forderungen und Positionen mit viel Applaus – doch ebenso wie sie weiß auch Bsirske: Weder für diese Pläne noch für seine Forderungen in Zusammenhang mit der Erhöhung der Rüstungsausgaben gibt es im Bundestag eine politische Mehrheit. Und das liegt nicht nur an den „schmerzhaften Konzessionen an die FDP“, die man, so Bsirske, bei der Ampel habe machen müssen, sondern auch an der SPD – und an seiner eigenen Partei.

Linke, Krieg und Frieden: Haltelinien, Konzepte, Fragen – Anmerkungen zum Ukraine-Krieg

Quelle: Journalismus von Links

Von Paul Schäfer – 10.3.22

Das Ziel muss ein stabiler Frieden sein

Linke, Krieg und Frieden: Haltelinien, Konzepte, Fragen – Anmerkungen zum Ukraine-Krieg

Das Entsetzen ist groß über den Krieg Putins, das Leid, das er in der Region, aber auch weltweit verursacht: Wo soll das enden? Und erschrocken sind wir auch: Wie schnell die Bundesregierung, die Mehrzahl der Medien und nahezu alle Parteien auf die Logik der Konfrontation und der Hochrüstung einschwenken.

Die neue Lage ist: Wir haben die programmatischen Ansprachen Putins als Propaganda für das heimische Publikum angesehen. Von »historischen Gebieten« war die Rede, die als natürliche Einflussbereiche reklamiert wurden; der Ukraine wurde gar das Existenzrecht abgesprochen. Nun wissen wir: Es war ernst gemeint.

Welche Kriegsziele verfolgt das Putin-Regime?

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird. Die Losung, die Ukraine »entmilitarisieren« und »entnazifizieren« zu wollen, besagt: Der generalstabsmäßig geplante russische Angriff ist der Versuch, in der Ukraine ein willfähriges System zu etablieren (»regime change«), das den russischen Ambitionen, die Ukraine dem eigenen Herrschaftsbereich zu unterstellen, entgegenkommt.

Wie ist diese Invasion strategisch einzuordnen?

Mit dem Angriffskrieg wird die Absicht untermauert, den postsowjetischen Raum (von Belarus bis Zentralasien) als unverrückbares russisches Einflussgebiet zu befestigen. Die Russische Föderation ist damit zu einer revisionistischen, neozaristischen Macht geworden, die sich über die Grundsätze und Festlegungen der UN-Charta (Artikel 1 »Selbstbestimmung der Völker« und Artikel 2 »Gewaltverbot«), der KSZE-Konferenz 1975 (»Unverletzbarkeit der Grenzen«, der Charta von Paris 1991 (»gemeinsames Haus Europa«), des Budapester Abkommens von 1994 (Entnuklearisierung der Ukraine gegen die Zusage, die Souveränität Kiews zu wahren) hinwegsetzt und eine Neuordnung dieses Großraums auch mit Gewaltmitteln festschreiben will.

Was ist das Besondere der gegenwärtigen Lage?

Im linken Lager wird auf Kriege der USA in Vietnam, in vielen Teilen der Welt, auf den Nato-Krieg im Kosovo, die US-geführte Invasion im Irak, auf frühere Völkerrechtsbrüche verwiesen. Das ist richtig. Dennoch: Putin ist der »Imperialist des Tages«. Und wir sollten aufpassen, dass diese Bezüge nicht als Relativierung des gegenwärtigen Angriffskrieges aufgefasst werden.

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg sollten wir die unterschiedlichen Dimensionen beachten: Als 1999 inmitten des Krieges um Kosovo ein russisches Regiment einen Teil des Flughafens in Pristina besetzte, wurde dies von allen Seiten als symbolischen Akt nach dem Motto »Wir sind auch noch da« verstanden. Heute stehen wir am Rande einer militärischen Konfrontation zwischen Nato und Russland, die den Weltfrieden bedroht. Dies erinnert an die zugespitzte Lage während der Kuba-Krise 1962. Präsident Putin hat anderen Staaten, die »sich von der Seite einmischen«, indirekt, aber unmissverständlich mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht (»Konsequenzen, die sie noch nie in der Geschichte erlebt haben«) und seine strategischen Abschreckungskräfte, zu denen die Nuklearwaffen, gehören in Alarmbereitschaft versetzt. Wie besorgt die Weltgemeinschaft ist, hat die präzedenzlose Ablehnung des Krieges durch 141 Mitglieder der UN-Generalversammlung gezeigt.

Wie wurde Paulus zum Saulus oder: Wie ist es so weit gekommen?

2001 wurde Wladimir Putin im Deutschen Bundestag für seine auf Kooperation ausgerichtete Rede mit »standing ovations« bedacht. Bei der Sicherheitskonferenz in München 2007 empörte er sich, dass man auf seine Angebote für eine neue europäische Friedensordnung nicht eingegangen sei und Russland permanent demütige. Der erfahrene US-Diplomat George Kennan hat 1997 mit seiner düsteren Prognose, die Nato-Osterweiterung würde in Russland nationalistische und militaristische Tendenzen begünstigen, leider recht gehabt. Dieser Prozess wurde durch die Aufkündigung wichtiger Rüstungskontrollabkommen (zum Beispiel Raketenabwehrvertrag 2002 durch die USA) weiter angeheizt.

Aber den Wandlungsprozess im Kreml ausschließlich damit zu begründen, greift zu kurz. Erinnern wir uns: Die Duma-Wahl 2011 war von heftigen Protesten im Land begleitet. Erstmals hatte sich in nennenswertem Umfang eine wirkliche Opposition zu Wort gemeldet, die das Putin-Regime dazu veranlasste, Wahlfälschungen zu begehen und hart gegen jegliche Opposition vorzugehen. Dazu verbündete sich die Putin-Partei mit der extremen Rechten im Lande, die konsequent die Rolle des faschistoiden Mobs gegen zivilgesellschaftliche Bewegungen einnahm.

Eine Schlussfolgerung daraus: Es geht dem Putin-Lager um den eigenen Machterhalt. Dazu greift man auf eine Methode zurück, die wir von Despoten kennen: der Feind, das sind »auswärtige Agenten und Mächte«. Dass es um reaktionäre Regimeinteressen geht, haben zuletzt auch die Interventionen in Belarus und Kasachstan gezeigt. In diesem Rahmen sind die engen Bindungen der Putin-Partei mit einer zusehends globalisierten extremen Rechten nicht zu übersehen.

Es ist schon erstaunlich, dass auch in linken Betrachtungen Russlands der militärisch-industrielle Komplex so gut wie nicht vorkommt. Dabei spielt der militärische Sektor neben den fossilen Energiekonzernen eine tragende Rolle bei den Staatseinnahmen des Landes. Und für das Putin-Regime sind Waffenexporte von strategischer Bedeutung zur Mehrung internationalen Einflusses. Der Machtkomplex aus Rohstoff- und Rüstungskonzernen ist die Machtbasis Putins. Wenn diese Annahme richtig ist, wären dann nicht andere Schlüsse zu ziehen als heute üblich? Partnerschaften zur Umstellung auf erneuerbare Energien und Abrüstungsvereinbarungen wären dann die Konsequenz. Wenn nicht heute, so morgen!

Wie verhält es sich mit den russischen Sicherheitsinteressen?

Betrachten wir es nüchtern: Russland ist nicht existenziell bedroht. Schon allein dadurch, dass niemand die Absicht hat, in Russland militärisch einzufallen. Auch die Generalität und die politische Führung in Moskau wissen das. Und selbst ein Nato-Beitritt der Ukraine, der den Aufbau zusätzlicher militärischer Infrastruktur nach sich ziehen würde, bedroht Russland nicht existenziell. Der Preis eines konventionellen Krieges wäre für beide Seiten nicht bezahlbar und würde wahrscheinlich auch eine nukleare Konfrontation als letzte Eskalationsstufe einschließen. Russlands Rückversicherung liegt – ob es uns gefällt oder nicht – in seinem nuklearen Waffenpotenzial, genauer: in der Sicherung seiner Zweitschlagfähigkeit. Daher waren und sind die Sorgen Russlands nach der Ankündigung Raketenabwehrsysteme auch in Rumänien oder Polen zu stationieren, vollauf berechtigt. Aber dafür fängt man keinen Krieg in der Ukraine an, sondern forciert Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen und wendet sich an die Weltöffentlichkeit.

Und nur zur Erinnerung: Der Ausgangspunkt des gewaltförmigen Streits um die Ukraine war nicht der Beitritt des Landes zur Nato – der war nach 2008 auf Eis gelegt. Es ging um das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union! Dass sich die nach dem Maidan-Aufstand ins Amt gekommene ukrainische Führung für die EU entscheiden wollte, hat die Annexion der Krim und die militärisch abgestützte Separation im Donbass ausgelöst. Die eigentliche Bedeutung von Pufferzonen: Freiheitlich-demokratische Reformen in Osteuropa sieht man als Gefährdung des eigenen, autokratischen Systems, die man nicht toleriert.

Müssen linke Geschichtsbilder revidiert werden?

Ja. Sahra Wagenknecht hat auf einem ihrer Podcasts beispielhaft dargelegt, wie Geschichtslegenden auf der linken Seite aussehen. Ihr Plädoyer für eine russlandfreundliche Politik begründet sie aus der Geschichte: Russland sei immer wieder »vom Westen« angegriffen worden, und dies habe sich in das kollektive Gedächtnis der Russen eingegraben. Letzteres hat gewiss Richtiges. Sie räumt knapp ein, dass es auch Phasen russischer Dominanz im Rahmen des Warschauer Vertrages gegeben habe. In diesem Weltbild kommen die rollenden Panzer in Ost-Berlin 1953, in Budapest 1956 und Prag 1968 offenbar nicht vor.

Auch der Hitler-Stalin-Pakt, der zur Inbesitznahme und Auslöschung Polens führte, wird in linken Erzählungen als Akt schierer Verteidigung gedeutet, um Zeit und Raum gegen die Nazis zu gewinnen. Katyn? Schrecklich, aber dem Furor des Krieges geschuldet. Dass es dabei um die vorsätzliche und systematische »Liquidierung« der polnischen Führungselite ging, um den Pufferstaat Polen in unseliger russischer Tradition vom Erdball zu tilgen, wird dabei negiert. Die Sorge unserer östlichen Nachbarn vor einem russischen Imperialismus hat sich in deren kollektives Gedächtnis eingegraben (wie auch in Finnland, das ebenfalls überfallen wurde).

Das eigentliche Trauma, das heute die russische Führung prägt, ist der Verlust an Weltgeltung (= Supermacht auf Augenhöhe mit den USA). Auch hier ist Putin wörtlich zu nehmen. Der Satz vom Untergang der UdSSR als größter geopolitischer (sic!) Tragödie des 20. Jahrhunderts ist so einfach zu entschlüsseln. Diese Großmachtambitionen stehen in krassem Missverhältnis zur Wirklichkeit. Russland verfügt über ein Bruttoinlandsprodukt wie Italien. Es stützt sich vorwiegend auf Energiequellen, die keine Zukunft mehr haben. Der Versuch, dies durch militärische Macht auszugleichen ist aussichtslos und dennoch brandgefährlich. Gerade deshalb müssen Wege gefunden werden, wie das »unverrückbare Russland« (Egon Bahr) einen respektierten Platz in der Staatengemeinschaft wiederfinden kann.

Was ist in dieser Situation aus der Entspannungspolitik der 70er Jahre zu lernen?

Willy Brandt und Egon Bahr haben ihre »neue Ostpolitik« trotz Mauerbau 1961 und CSSR-Einmarsch 1968 eingeleitet. Aus der Tatsache, dass ein Atomkrieg niemals gewinn- und daher nicht führbar sei, leiteten sie das Konzept »gemeinsamer Sicherheit« ab. Die nukleare Eskalationsgefahr sollte gebannt werden; die Anerkennung des territorialen Status quo sollte helfen, Vertrauen zwischen West und Ost aufzubauen und den Weg für konkrete Schritte der Abrüstung freimachen. Last not least: Der Eiserne Vorhang sollte durchlässig gemacht werden, nicht zuletzt aus humanitären Gründen. Es war zugleich erklärte Absicht, dadurch Spielräume für demokratische Prozesse zu vergrößern.

Was unsere Ausgangslage heute so schwierig macht: Russlands Versuch, ein postsowjetisches Regime wieder zu errichten, ist damit verbunden, die erreichten demokratischen Spielräumen in den Nachbarländern (wie immer man das dortige Oligarchentum, die Korruption etc. beurteilen mag) zu eliminieren. Auf diese neue Situation brauchen wir eine Antwort. Wir werden am Ende des Tages wieder bei den Grundsätzen der Entspannungspolitik und konkreten Vorschlägen zur De-Eskalation, der Rüstungskontrolle, für eine atomwaffenfreie Welt landen. Durchzusetzen ist dies gegen den autoritären Nationalismus unserer Tage.

Solidarität mit der Ukraine – auch mit Waffenlieferungen?

Die Ukraine hat gemäß Artikel 51 der Uno-Charta das verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Und die ukrainische Bevölkerung scheint bereit zu sein, dies auch durchzufechten. Ob dazu Waffenlieferungen hilfreich und unumgänglich sind, ist sorgfältig abzuwägen.

Wir sollten diese Frage vom Umgang mit dem »normalen« Rüstungsexportgeschäft abkoppeln. Diesbezüglich gelten alle Forderungen nach einer besonders restriktiven Politik weiter uneingeschränkt. Das Argument, dass aus historischen Gründen zur Abstinenz verpflichtet sei, sticht nicht. Man kann es auch umdrehen. Die Ukraine, die auch Opfer des deutschen Vernichtungskrieges war, die jetzt zum zweiten Male angegriffen wird, ist in ihrem Existenzkampf zu unterstützen.

Bis zum 24. 2. gab es gewichtige Einwände: Was ist mit den irregulären, schwer kontrollierbaren Milizen auf dem Kriegsschauplatz, die sich der Waffen bemächtigen könnten? Könnte die ukrainische Führung, gestützt auf effiziente Geräte wie bewaffneten Kampfdrohnen (die im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt kriegsentscheidend waren), versucht sein – trotz der Georgien-Erfahrung -, eine gewaltsame Entscheidung im Donbass zu suchen?

Jetzt stellt sich die Frage, ob eine militärische Unterstützung nur noch zu einem mörderischen Abnutzungskrieg beiträgt, wie er sich womöglich abzeichnet. Zu bedenken ist auch, dass die Nato mit ihren Waffenlieferungen immer mehr in das Kriegsgeschehen hineingezogen wird. Ist eine solche Eskalation des Krieges vertretbar? Aber ist es andererseits nicht richtig, den Preis für die russische Aggression durch bewaffneten Widerstand möglichst weit hochzutreiben? Wie sonst soll Moskau zum Umdenken gebracht werden? Und welche Demoralisierung löste es aus, wenn die Ukraine im Bombenhagel allein gelassen würde?

Ich gestehe: Ich bin ratlos. Statt Antworten aus dem Bauch heraus brauchen wir hier kollektives Nachdenken.

Ziviler Widerstand als Alternative?

Die Ukraine hat sich zum militärischen Widerstand gegen die Aggression von außen entschieden. Dass damit entsetzliche Opfer verbunden sind, ist unvermeidlich. Wäre es da nicht besser, von vornherein die Waffen niederzulegen und zu kapitulieren? Die pazifistische Haltung verlangt genau dies. Sie verbindet dies mit dem Vorschlag, Besatzungsmächten mit zivilen Mitteln entgegenzutreten. Dies wird gerne als rettungslos naiv, weltfremd abgetan. Und wenn das Kriegsgetöse tobt, erscheint diese Idee besonders abseitig. Wir sollten dem widersprechen. Ziviler Widerstand ist angesichts der Zerstörungspotenziale moderner Streitkräfte durchaus in Betracht zu ziehen. Und verfügen wir nicht heute durch öffentliche und soziale Medien, durch eine vernetzte Zivilgesellschaft über neue Möglichkeiten ziviler Gegenwehr? Die globale Delegitimierung brutaler Herrschaft ist eine scharfe Waffe. Wir tun gut daran, in der Tradition Mahatma Gandhis Gewaltfreiheit als Alternative zum Kriegsfuror zu verteidigen.

Andererseits: Die epochale Abschüttelung des kolonialen Jochs Mitte des vorigen Jahrhunderts wäre ohne Gewalt nicht möglich gewesen. Und die Vorstellung, man hätte die Weltherrschaftspläne Hitler-Deutschlands mit der weißen Fahne durchkreuzen können, fällt schwer. Was bedeutet es, wenn die Kriegsherren mit ihren Gewaltaktionen durchkommen und ihre expansiven Ziele erreichen? Der Appetit kommt beim Essen. In Extremsituation werden wir bewaffnete Gegengewalt akzeptieren müssen und zugleich an einer Welt arbeiten, in denen ein Friede mit friedlichen Mitteln eine Chance hat.

Was ist mit Sanktionen zu erreichen?

Ein Sanktionspaket wie jetzt gegen Russland beschlossen, hat es in dieser Form wohl noch nie gegeben (Ausnahme: Nordkorea/Iran/Irak). Und es ist erkennbar, dass diese Maßnahmen kurzfristig wirken. Richtig ist aber auch, dass die Abschnürung Russlands von der globalen Wirtschaftszusammenarbeit die gesamte Bevölkerung des Landes empfindlich treffen wird. Das gilt wahrscheinlich auch für uns. Trotzdem herrscht allenthalben die Einsicht vor, dass man der russischen Aggression nicht nur mit Appellen begegnen kann. Die Bereitschaft, auf wirtschaftliche Sanktionen zu setzen, ist groß – auch unter Linken. Und war die Embargopolitik gegenüber dem Apartheid-Regime in Südafrika nicht erfolgreich? Die Ukrainer*innen würden diese Politik mittragen. Unter dem Strich führt kein Weg an der Logik vorbei, dass der Preis, den das Putin-Regime für seine Aggression zu zahlen hat, sehr hoch sein und die Vorteile der Besatzung überwiegen muss.

Aber Vorsicht: Die vielfältigen Interdependenzen in der Welt aufsprengen zu wollen, kann nicht gut gehen. Nach den Negativerfahrungen mit nicht eingehaltenen Versprechungen aus dem Iran-Nuklearabkommen bleibt zudem die strikte Forderung: Sanktionen sind konditioniert zu verhängen und müssen sukzessive aufgehoben, durch weitreichende Kooperationsangebote ersetzt werden, wenn ein Friedensprozess in Gang kommt.

Wie gehen wir mit der Aufrüstungsoffensive der Bundesregierung um?

Ein zusätzliches 100-Milliarden-Rüstungsprogramm lehnen wir ab; das pauschale Zwei-Prozent-Aufrüstungsziel ist unsinnig. Immerhin zeigt das in Aussicht gestellte, 100 Milliarden Euro umfassende Sondervermögen, dass die Schuldenbremse ausgedient hat und sehr viel Geld vorhanden ist. Es könnte durch Vermögensabgaben noch aufgestockt werden. Der Kampf um die Verteilung dieser Mittel hat begonnen. Wir werden uns dafür stark machen, dass erhebliche Mittel für die zivile Konfliktbearbeitung, für eine nachhaltige Entwicklungspolitik, für die ökologische Transformation und die soziale Abfederung der ökonomischen Folgen der Sanktionspolitik aufgewandt werden. Das ist wirkliche Sicherheitsvorsorge. Unser Ceterum Censeo bleibt, alle ad-hoc-Maßnahmen mit grundsätzlichen Perspektiven eines stabilen Friedens in Europa zu verknüpfen.

Was den Mittelabfluss an die Streitkräfte angeht, gilt es zuvörderst zu klären, wo das ganze Geld bleibt, das die Bundeswehr Jahr für Jahr zu verbrennen scheint – wenn die Aussage stimmt, dass die Truppe nicht einsatzbereit sein sollte.

In diesem Rahmen sollten wir neu über eine Bundeswehr als Verteidigungsarmee nachdenken. Dabei können wir an eine Debatte aus den 80er Jahren unter der Überschrift »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit« anknüpfen. Nur ein Hinweis: Das kleine Finnland etwa hat sehr wenig Panzer, mit denen man eine raumgreifende Offensive durchführen könnte, aber eine »schlagkräftige« Artillerie. Es ist bei modernem Kriegsgerät zugegebenermaßen sehr schwierig, zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zu unterscheiden. Wie ein anderes Streitkräftedispositiv aussehen würde, wie hoch die Kosten einer möglichen Umrüstung sind, wissen wir nicht genau. Ein solches Konzept kann nicht ohne militärischen Sachverstand entwickelt werden. Dazu wird Die Linke ihre Einstellung gegenüber der Bundeswehr ändern müssen – ohne ihren Anspruch auf eine Welt ohne Armeen aufzugeben.

Noch eine gedankliche Provokation zum Schluss: Die baltischen Staaten, Polen, alle osteuropäischen Nachbarn halten die Nato auf absehbare Zeit für ihre Risikoversicherung. Das gilt nach dem russischen Angriffskrieg umso mehr. Jetzt orientieren sich auch unsere nördlichen Nachbarn Finnland und Schweden auf diesen Schutzschirm. Sind wir da gut beraten, wenn wir den Austritt Deutschlands aus den militärischen Strukturen der Allianz fordern? Andererseits: Wozu solle es gut sein, dass sich an der Nahtstelle der Konfrontation immer zerstörerische Waffensysteme und immer mehr Soldaten gegenüberstehen? Über Initiativen zur De-Eskalation und Abrüstung wird man zu gegebener Zeit sprechen müssen – im Bündnis.

Paul Schäfer war von 2005 bis 2013 verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Er engagiert sich nach wie vor in der Linkspartei, ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« und gehört dem Willy Brandt-Kreis an. Auf seiner Webseite www.paulschaefer.info widmet er sich friedens- und sicherheitspolitischen Themen sowie globalen Fragen und Alternativen. 2014, als die Ukraine-Krise ein erstes Mal eskalierte, gab er im VSA-Verlag das Buch »In einer aus den Fugen geratenden Welt. Linke Außenpolitik: Eröffnung einer überfälligen Debatte« heraus. In dem hier veröffentlichten Text führt er diese Debatte unter dem Eindruck des russischen Krieges gegen die Ukraine fort.

Ukraine-Krise Die Stunde der Bellizisten

Quelle: https://www.rosalux.de/news/id/46167/die-stunde-der-bellizisten

Führt die Ukraine-Solidarität zu einer Identifikation mit NATO-Politik oder einer neuen Friedensbewegung? Von Thomas Klein

Thomas Klein, Jahrgang 1948, Ostberlin, Mathematiker und Zeithistoriker, Linksoppositioneller in der DDR und in der Bundesrepublik. Er ist Mitglied der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Der verbrecherische Überfall von Putins Russland auf die Ukraine scheint das historische Gedächtnis und die friedenspolitische Vernunft abgeschaltet zu haben. Eine kritische Reflexion der Kriegsziele Russlands und der Interessenpolitik der NATO ist ausgesetzt. Übriggeblieben ist, immerhin, die weltweite Ächtung von Russlands Angriffskrieg.

Mit dem Angriffskrieg hat Russland nicht «nur» das Völkerrecht, sondern auch die Sicherheitsgarantien gebrochen, die Moskau der Ukraine im Budapester Memorandum 1994 – im Gegenzug zur Übergabe der auf ukrainischem Territorium stationierten Atomwaffen – gegeben hatte. Was aber hat Putins Russland bis jetzt erreicht? Die «hirntote» NATO (Emmanuel Macron) scheint wiedererwacht, die zerstrittene EU steht vermeintlich wiedervereinigt mit den USA «wie ein Mann» hinter der zunehmend zerbombten Ukraine, und in der UN-Vollversammlung verurteilen die allermeisten Staaten den russischen Angriffskrieg. Dabei verweist gerade der Charakter jener vier Despotien, die dort offen Russlands Überfall billigten – nämlich Nordkorea, Eritrea (oft auch als «Nordkorea Afrikas» bezeichnet), Syrien und Belarus –, auf die Natur dieser unsäglichen Allianz. Selbst China und Serbien wollten Russland nicht über ihre Stimmenthaltung hinaus unterstützen.

Inzwischen erwägen Schweden und Finnland offen den NATO-Beitritt, der Drang hinein in die EU an Russlands Peripherie wächst, und die Russische Föderation würde, falls es ihr gelänge, in der Ukraine ein russlandfreundliches Regime zu installieren, von sich aus westwärts an die NATO heranrobben. Was die eskalierenden Sanktionen des Westens in der schwachen Wirtschaft Russlands anrichten werden, ist noch unklar – fest steht hingegen, dass die russische Bevölkerung die Hauptlast tragen wird.

Das alles dürfte Russland wenig gefallen. Der Westen fürchtet seinerseits eine mögliche Allianz der gewaltigen Atommacht Russland und des wirtschaftlichen Riesens China. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass die jährlichen Militärbudgets der USA und ihrer NATO-Partner die Militärausgaben Russlands fast um das Zwanzigfache übersteigen.

Die monströsen Geschichtslügen des russischen Präsidenten lassen sich ohne großen Aufwand widerlegen;[1] ihre Funktion zur Legitimation der russischen Militärintervention ist offenkundig. Putins Einlassungen, so bizarr sie auch die Geschichte verzerren, entlarven jedoch seine Konstruktion der Rolle Russlands auch außerhalb der Grenzen der Föderation – vor allem seine Verurteilung der Leninschen Nationalitätenpolitik (Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Sezessionsrecht der Völker Russlands) als Ursache des 70 Jahre später erfolgten – und von Putin als verhängnisvoll beklagten – Untergangs der Sowjetunion sowie seine Rüge an die Adresse Stalins, dessen Revision der Leninschen Nationalitätenpolitik sei politisch inkonsequent gewesen.

Dass aus Putins Sicht aber Stalins Verträge mit Nazideutschland 1939 Lob verdienen, entlarvt ihn als großrussischen Chauvinisten, der vom Russischen Reich in den Grenzen von 1914 träumt. Putin sieht sich als Garant der Rechte aller Russ*innen auch außerhalb der russischen Föderation, was nicht nur im Baltikum, in Georgien und der Moldau-Republik Angst auslösen dürfte. Er erweist sich damit als russischer Imperial-Nationalist, ganz im Sinne des von ihm verehrten antibolschewistischen Bürgerkriegskommandeurs Anton Iwanowitsch Denikin, den er ehrenhalber nach Moskau umbetten ließ.

Putin reichert seine Propaganda überdies mit Versatzstücken des stalinistischen Sowjetpatriotismus an. Zugleich versteht er es, den Stalinismus mit Hinweisen auf die verhängnisvolle Rolle des Westens in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs (Münchner Abkommen, gescheiterte Verhandlungen der Sowjetunion mit dem Westen für eine Allianz gegen Nazideutschland)[2] zur Rechtfertigung des deutsch-sowjetischen Vertragswerks von 1939 wie der zeitgenössischen russischen Politik in Dienst zu nehmen.

Neben den jetzt verkündeten Kriegszielen Russlands (Demilitarisierung und »Entnazifizierung« der Ukraine) reagierte Putin zuvor beiläufig auch auf den Abriss der Lenin-Denkmäler in der Ukraine: «Wollen Sie die Entkommunisierung?», fragte Putin. «Nun, uns passt das sehr gut. Aber wir dürfen nicht, wie man so schön sagt, auf halbem Weg stehen bleiben. Wir sind bereit, Ihnen zu zeigen, was eine echte Entkommunisierung für die Ukraine bedeutet. »

Mario Keßler bewertet dies wie folgt: »Lenins erklärter Internationalismus und Putins Großrussischer Chauvinismus sind in der Tat inkompatibel. Putins Interpretation der Geschichte zielt zugleich auf die Auslöschung linken Denkens wie auch jeder Erinnerung an die Tradition ukrainischer Staatlichkeit ab. All dies sollte insbesondere Sozialistinnen und Sozialisten deutlich machen, dass im Moskauer Kreml ihr erbitterter Feind sitzt.«[3] Jutta Ditfurth meint, «das bewusstlose Reden vom ‚verrückten‘ Putin» müsse ein Ende haben. Er verfolgt einen Plan für ein neues großrussisches Reich vom Mittelmeer bis zum Nordmeer, seine Eurasien-Geostrategie […]. Putin ist keine Einzelperson, sondern der Protagonist der reaktionären, nationalistischen und autoritären russischen Fraktion. Auch deshalb ist er der Held deutscher Nazis.»[4]

Die deutsche Linke und der Krieg

Damit kommen wir zu den Linken, den «Linken» und der Partei DIE LINKE. Unter ihnen soll es ja immer noch Leute geben, die in Putin einen Sachwalter antifaschistischen Sowjetpatriotismus sehen oder ihn (Stalin hin oder her) für «einen Linken» halten. Dazu bedarf es allerdings diverser Scheuklappen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Es ist schier unerträglich, wenn «Linke» verschämt zur dortigen Diskriminierung Homosexueller schweigen, die taktische Allianz von Putins Russland mit rechtsnationalistischen Parteien und neofaschistischen Bünden «übersehen», das Ausmaß von Zensur und Repression gegen putinkritische Oppositionelle (so fragwürdig manche dieser Strömungen auch sein mögen) herunterspielen und die Mediengleichschaltung, welche inzwischen Breschnewsche Dimensionen annimmt, verharmlosen.[5]

Die Mehrheit der kommunistischen und linken Parteien in Europa hat mit teilweise scharfen Verurteilungen des russischen Überfalls reagiert[6] – auch die Partei DIE LINKE. Gregor Gysi sagte sogar, dass das, was er zuvor an (womöglich zutreffenden) Beurteilungen zur Mitverantwortung der NATO artikuliert habe, seit Kriegsbeginn als erledigt zu betrachten sei. Doch hier liegt er falsch. Denn es ist ein großer Unterschied, ob man die Verbrechen von NATO-Mitgliedern als Rechtfertigung oder Verharmlosung des russischen Überfalls in Anschlag bringt[7] oder ob man gemäß der Maxime handelt, dass Linke in einem Machtkampf kapitalistischer Antagonisten durch Parteinahme für eine Seite nichts zu gewinnen haben. Das war 1914 so und ist es auch 100 Jahre später.

Manche Linke begründen ihre Zurückhaltung gegenüber der russischen Kriegspartei mit der Maxime «Unser Feind steht im eigenen Land». Doch die Konflikte nehmen mehr und mehr globalpolitischen Verflechtungscharakter an; dadurch wird diese Maxime kurzsichtig. Russland führt einen verbrecherischen Angriffskrieg, aber deshalb sind die Interventionen des Westens (zuletzt in Panama 1989, Irak 1991, Somalia 1992, Sudan 1998, Jugoslawien/Serbien 1999, Afghanistan 2001, Irak 2003 und Libyen 2011) mit hunderttausenden Toten und Millionen Geflüchteten nicht im Nachhinein legitimiert. Das NATO-Land Türkei führt im eigenen Land, in Syrien und im Irak Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Das alles gerät jetzt aus dem Blick, ebenso wie die zahlreichen «Aufstandsbekämpfungsprogramme» der Geheimdienste, Regime-Change-Versuche und unterstützte Putsche oder wirtschaftliche Destabilisierungen (etwa in Ländern Süd- und Mittelamerikas vor und nach 1990).

Die NATO-Osterweiterung

Die Osterweiterung der NATO – also die Aufnahme von Ostdeutschland; dann von Polen, Tschechien, Ungarn (1999); Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Slowakei, Lettland, Litauen, Estland (2004); Albanien, Kroatien (2009); Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) – wird von russischer Seite als wortbrüchig qualifiziert; in jedem Fall berührte sie eindeutig russische Sicherheitsinteressen. Käme nun noch der – inzwischen eher unwahrscheinliche – Beitritt der Ukraine hinzu, wäre die von Russland völkerrechtwidrig annektierte Krim nach westlicher Lesart ebenso NATO-Schutzgebiet wie die ostukrainischen Sezessionsgebiete[8] – ein Pulverfass. Dies hat neben dem Westen nun auch die Ukraine realisiert. Das Fenster zu einer alternativen, nichtprovozierenden, gemeinsamen Lösung für Sicherheit und Zusammenarbeit durch Schaffung einer europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands ist vom Westen als «Sieger der Geschichte» hochmütig geschlossen worden.

Und dennoch: Das alles rechtfertigt in keiner Weise den russischen Überfall. Er ist nicht die «legitime Antwort» auf westliche Machtpolitik, sondern deren Übernahme. In allen Konfliktzonen wird die Opposition gegen diese Gewaltpolitik kompromisslos ausgeschaltet.[9]

Die Wahrheit stirbt zuerst

Im Krieg stirbt die Wahrheit bekanntlich zuerst. Und überall setzt man auf das Vergessen. Es ist die Stunde der Bellizisten und Patrioten. Dagegen haben Linke anzukämpfen, ohne einen der aufeinanderprallenden Antagonisten zu schonen, zu entschuldigen oder zu legitimieren.

So bleibt es wahr, dass in der Ukraine auch rechtsextreme Milizen in der Tradition der antisowjetischen Kampfverbände, die einst an der Seite Nazideutschlands kämpften, agieren, darunter das Regiment Asow, die Miliz «Rechter Sektor» und die Aidar-Brigade, die besonders brutal gegen die prorussischen Rebellen in der Ostukraine vorgegangen sind. Dort kämpften sie gegen nicht weniger zimperliche prorussische Milizen, die nun von regulären russischen Truppen unterstützt werden.

Das Minsker Abkommen haben beide Seiten – gewissermaßen gemeinsam – erledigt. Der russische Einmarsch hat fatalerweise den schon vorher in der Ukraine grassierenden Kult um den Nazikollaborateur Stepan Bandera und die Rehabilitierung der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) sowie der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) verstärkt. Aber die (russische) Rede vom «Genozid» an der ostukrainischen russischen Minderheit ist umso abwegiger, als die russische militärische und logistische Unterstützung der sezessionistischen Volksrepubliken kaum geleugnet werden kann. Ebenso wenig kann allerdings die Diskriminierung der Russ*innen im westlichen Machtbereich der ukrainischen Regierung bestritten werden.[10] Als Kriegslegitimation war die Legende vom Genozid für Putin daher durchaus brauchbar, wobei immer wieder das Pogrom von Odessa gegen prorussische Aktivist*innen vom 2. Mai 2014 angeführt wird.

Und dennoch: Die ukrainische Mehrheitsbevölkerung hat von einer Orientierung auf Russland inzwischen nichts mehr zu erwarten. Obgleich in der ersten Wahl nach der prowestlichen «Orangen Revolution» der prorussische Kandidat Viktor Janukowitsch gewann, war der Majdan-Aufstand alles andere als ein (so die russische Lesart) «faschistischer Putsch», auch wenn hier die erwähnten Rechtsextremisten kräftig mitmischten. Sein Ergebnis war der Austausch einer korrupten prorussischen Elite gegen eine ebenso korrupte prowestliche Elite. Die teilweise agrarischen ukrainischen Westoligarchen sind, anders als die russlandorientierten industriellen Ostoligarchen, schon aus finanziellem Eigeninteresse für eine EU- und Westbindung.

Der diskriminierende Umgang der prowestlichen Administrationen mit der russischen Minderheit trug dazu bei, dass diese Minderheit auf der Krim und in der Ostukraine keine Alternative zu ihrer Orientierung auf Russland mehr sah. Trotzdem markierten sowohl die russische Annexion der Krim 2014 als auch die russische Anerkennung der ostukrainischen Sezession 2022 einen Bruch des Völkerrechts. Dass die Mehrheit der dortigen ukrainisch-russischen Bevölkerungsminderheit diese Schritte dennoch begrüßte, ist evident.

Die «Zeitenwende» in Deutschland

In Deutschland reagiert man auf die Mediengleichschaltung und das Verbot unabhängiger Sender in Russland mit der wenig souveränen Entscheidung einer Empfangsblockade russischer Staatsmedien. Russische Bürger*innen in der Bundesrepublik, die sich nicht eindeutig gegen Putin positionieren, verlieren mitunter ihre Arbeit. Jene publizistische und politische Minderheit nicht-lobbyistischer deutscher Akteure, die sich 30 Jahre lang (vergeblich) um eine Verständigung mit Russland bemühten, werden jetzt nicht nur für ihre Illusionen kritisiert, sondern auch als «nützliche Idioten Moskaus» oder gar «Putins Komplizen» stigmatisiert und zuweilen auch beruflich diskriminiert. Man setzt sie umstandslos gleich mit dem unappetitlichen «Gas-Putin»-Lobbyisten Gerhard Schröder.

Darüber hinaus werden nun 100 Milliarden Euro für die Aus- und Hochrüstung der Bundeswehr zur Verfügung gestellt, damit aus der internationalen Eingreiftruppe wieder eine «schlagkräftige Landesverteidigungsarmee» (Lindner: «eine der schlagkräftigsten in Europa») wird. Die Grünen und die linken Sozialdemokrat*innen werden auch diese Kröte schlucken. Die Kriegsindustrie, schon lange durch deutsche Waffenexporte im guten Geschäft, erwartet nun Spitzengewinne. Allenthalben wird eine modifizierte Wiederbelebung der Wehrpflicht als Dienstpflicht erwogen.

Derzeit nimmt der Einsatz international operierender Söldnerlegionen auf beiden Seiten und an allen Fronten massiv zu. Pazifismus und Antimilitarismus werden mehr und mehr marginalisiert. Die Solidarität und überwältigende Hilfsbereitschaft für die ukrainischen Kriegsopfer und Flüchtlinge werden überwölbt vom Sound der Kriegshysterie und Frontberichterstattung. Der äußere Feind steht wieder im Osten, den inneren Feind argwöhnt man zunehmend wieder links. Die «Abschreckungskultur» des Kalten Krieges erwacht, ein neuer «Eiserner Vorhang» zieht sich zu, und zwei Drittel der deutschen Bevölkerung begrüßen die Wiederaufrüstung – es ist wie ein Zurück in die Zukunft der 50er Jahre. Die Lösung der globalen Menschheitsfragen – des Hungers, des Klimawandels, der soziale Ungleichheit – gerät einmal mehr ins Hintertreffen. Schöne neue Welt.

Eine neue Friedensbewegung?

Die gesellschaftliche Linke muss diesem reaktionären Sog in den Bellizismus widerstehen. Nur, wenn sie nicht ins Kriegsgeheul einstimmt, kann sie politisch bestehen. Denn wir wissen, was geschieht, wenn länderübergreifende Koalitionen emanzipatorischer und sozialistischer Kräfte ihren Internationalismus zugunsten eines aggressiven Patriotismus aufkündigen. Das haben schon vor hundert Jahren Entstehung, Verlauf und Folgen des verheerenden Ersten Weltkriegs gezeigt. Der zeitgenössische europaweite Aufschwung neofaschistischer Strömungen und Parteien droht, die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zu entwerten. Entgegen der trügerischen Hoffnung, mit dem Ende der Blockkonfrontation sei nach 1990 auch die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen gebannt, scheint die Konjunktur solcher Kriege nun erneut begonnen zu haben. Dabei zeigen die Jugoslawien-Nachfolgekriege, welche entsetzlichen Folgen der Triumph eines chauvinistischen Nationalismus, religiösen Fanatismus und militärischen Interventionismus zeitigen. Es war der bisher blutigste europäische Krieg nach 1990, international nur übertroffen vom Terror islamfaschistischer Regime.

Es stellen sich zwei Fragen: Führt die Solidarität mit den Kriegsopfern in der Ukraine, die Unterstützung der verfolgten Kriegsgegner*innen in Russland und der Kampf gegen den russischen imperial-militärischen Expansionismus in eine bedingungslose Identifikation mit der Politik von NATO und Selenski-Ukraine? Bedeutet der Widerstand gegen kapitalistische Geopolitik und westliche Doppelmoral womöglich auch die Verharmlosung oder gar Rechtfertigung russischer Machtpolitik, im Inneren wie nach außen?

Eine internationalistische Linke, die diesen Namen verdient, muss beide Fragen entschieden mit «Nein» beantworten.[11] Es geht um nicht weniger als die Revitalisierung eines weltweiten Bündnisses der vielschichtigen sozialen Bewegungen, die endlich auch wieder die übergreifenden Zusammenhänge herstellt: Gegen Militarismus, militaristischen Interventionismus und Aufrüstung, gegen die tödlichen Grenzen der Festung Europa sowie für die Geltung globaler sozialer Rechte und der Menschenrechte. Ein erster Schritt wäre die Wiedergeburt einer neuen internationalen Friedensbewegung. Die Frage lautet: Wird es eine solche internationale Friedensbewegung geben?

[1] Zu Putins geschichtsklitterndem Bild der Ukraine, das der Legitimation des Krieges dient, siehe Mario Keßler, Putins imperiale Träumereien, in: „Jacobin“, 27.2.2022, https://jacobin.de/artikel/putins-imperiale-traumereien-konnten-zum-verhangnis-ukraine-krieg-invasion-lenin-sowjetunion-internationalismus. Zu Putins Dekuvrierung als großrussischer Chauvinist siehe Thomas Kuczynski, Vielvölkerstaaten in Europa und ihr Schicksal, in: „Lunapark21“, Heft 57.

[2] Besonders prägnant in Putins Rede zum 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg am 19. Juni 2020. Die Webseite der russischen Botschaft, auf der man diese nachlesen konnte, ist derzeit nicht erreichbar.

[3] Mario Keßler, a.a.O.

[4] Vgl. das Interview mit Jutta Ditfurth: Ukraine-Krieg als „willkommene Ausrede für Aufrüstung der Bundeswehr“, in: „Frankfurter Rundschau“, 1.3.2022, www.fr.de/politik/ukraine-krieg-bundeswehr-aufruestung-interview-jutta-ditfurth-news-91380249.html.

[5] Siehe die Erklärung des Sekretariats des Parteivorstands der DKP vom 25.2.2022, https://hamburg.dkp.de/erklaerung-des-sekretariats-des-parteivorstands-der-dkp-vom-25-2-2022, und die Erklärung des Sekretariats des Landesvorstands der DKP Brandenburg vom 26.2.2022, die den „russischen Militäreinsatz“ als friedenspolitische Maßnahme analog der Grenzsicherung am 13. August 1961 bewertet.

[6] Vgl. Stimmen linker und kommunistischer Parteien zum Krieg in der Ukraine, in: „junge welt“ vom 26.2.2022, S. 3.

[7] Hinsichtlich der russischen Anerkennung der „vom Genozid bedrohten“ sezessionistischen ukrainischen Volksrepubliken wird häufig auf die „Blaupause“ der Anerkennung des von Serbien abgespaltenen, „vom Genozid bedrohten“ Kosovo im NATO-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien verwiesen. Auch dem deutschen Überfall auf Polen 1939 ging die Argumentation voraus, man müsse die „Auslandsdeutschen“, also die deutsche Minderheit in Polen, vor antideutschen Pogromen schützen. Vgl. Ingar Solty, Die geopolitischen Konsequenzen der Eskalation des Ukrainekonflikts, www.rosalux.de/news/id/46023. Auf die Beihilfe der KP der Russischen Föderation – Arm in Arm mit dem Klerus der Russisch-Orthodoxen Kirche – konnte sich Putin immer verlassen. Siehe etwa Sjuganow: „Die Anerkennung der DVR und der LVR sollte Russlands entschlossene Antwort auf die US-Provokationen sein!“ Vgl. https://kprf.ru/party-live/cknews/208562.html.

[8] Michael von der Schulenburg, In der Ukraine könnte das Fundament für einen europäischen Frieden gelegt werden, in: „Berliner Zeitung“, 11.2.2022, www.berliner-zeitung.de/wochenende/in-der-ukraine-koennte-das-fundament-fuer-einen-europaeischen-frieden-gelegt-werden-li.209288.

[9] „Auf dem politischen Trümmerfeld des postsowjetischen Raums kämpfen die Gruppen einer sozialen und demokratischen Opposition um ihre Existenz, nicht um die Macht.“ Sebastian Gerhardt, Putins Stärke, Putins Schwäche, 24.2.2022, https://planwirtschaft.works/2022/02/24/putins-staerke-putins-schwaeche.

[10] Gemäß dem neuen Sprachgesetz von 2019 soll die russische Sprache in Behörden sowie von Dienstleistern und in der Presse nicht mehr verwendet werden. Die Gewalttaten der neofaschistischen Partei Swoboda, die sich in der Tradition der ukrainischen Nazikollaborateure in der SS-Division „Galizien“ sehen, treffen auch die russische Bevölkerungsgruppe in der Ukraine. Vgl. Tomasz Konicz, Nazis mittendrin, www.ag-friedensforschung.de/regionen/Ukraine/faschos5.html.

[11] Instruktiv der Aufruf „Den Krieg in der Ukraine stoppen – eine neue Antikriegsbewegung aufbauen“ der Interventionistischen Linken (IL) vom März 2022, https://interventionistische-linke.org/beitrag/den-krieg-in-der-ukraine-stoppen-eine-neue-antikriegsbewegung-aufbauen. Siehe auch: Manifest gegen den Krieg, https://www.heise.de/tp/features/Manifest-gegen-den-Krieg-6549580.html.