Sondervermögen Bundeswehr: Panikpolitik

Quelle: IPG-Journal

Außen- und Sicherheitspolitik 15.03.2022 | Herbert Wulf

Panikpolitik

Die Modernisierung der Bundeswehr ist überfällig. Wir dürfen das Pferd jedoch nicht von hinten aufzäumen. Es braucht eine nüchterne Bedarfsanalyse.

Zuerst Finanzen bereit zu stellen und dann zu fragen, was damit geschehen soll, ist die falsche Reihenfolge. Als Reaktion auf Russlands Aggression kündigte Bundeskanzler Scholz ein „Sondervermögen Bundeswehr“ von 100 Milliarden Euro an. So verständlich der Wunsch zur raschen Modernisierung der Bundeswehr sein mag, so wenig ist er Ergebnis einer nüchternen Analyse. Es ist Panikpolitik, die der Bundeswehr kaum nützt.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist durch den Krieg Russlands eine dringende Notwendigkeit. Auch die Bundeswehr, als Rückgrat unserer Verteidigung, bedarf der Reform und neuer strategischer Ausrichtung. Doch dies vor allem durch mehr Geld in Angriff zu nehmen, führt zur Verschwendung knapper Ressourcen. Vorrangig ist eine strategische Debatte über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr nötig, nicht aber eine riesige Geldspritze.

Natürlich kann die Bundeswehr mehr finanzielle Mittel gebrauchen, um Panzer, Hubschrauber, Schiffe, Kampfflugzeuge oder Drohnen zu beschaffen. Aber für welchen Zweck? Um weiterhin Auslandseinsätze zu ermöglichen oder sie effizienter zu gestalten? Um bei Staatsversagen irgendwo auf der Welt eingreifen zu können? Um den in unserer Verfassung niedergelegten Auftrag zur Landesverteidigung durchführen zu können? Um den baltischen Ländern bei einer Aggression Russlands beizustehen? Um die Ostflanke der NATO zu stärken? Und soll dies im Rahmen einer auch militärisch unterfütterten Rolle der EU passieren, wie dies schon länger vom französischen Präsidenten Macron gefordert wird? Oder geht es sogar – gemeinsam mit den USA – um den Stopp der chinesischen Marineaktivitäten im Südchinesischen Meer? Oder gegen die Iraner in der Straße von Hormus, wenn unsere Ölversorgung bedroht werden sollte? Angesichts der völlig neuen sicherheitspolitischen Lage sind dies ernsthafte Fragen, die zunächst einmal geklärt sein müssen, bevor mit vollen Händen Geld ausgegeben wird.

Es gibt keinen Grund, überstürzt ein so riesiges Sondervermögen für die Bundeswehr anzukündigen. Der Krieg in der Ukraine wird dadurch keinen Tag früher enden und die Neuausrichtung der Bundeswehr geschieht ebenso wenig kurzfristig.

Aber, so heißt es, die Bundeswehr ist unterfinanziert. Sie wurde kaputtgespart. Kampfflugzeuge sind nur bedingt einsatzfähig, U-Boote tauchen nicht, die schon lange avisierten Fregatten werden nicht ausgeliefert, Hubschrauber und Lufttransportkapazitäten sind Mangelware. Ersatzteile fehlen an allen Ecken und Enden. Die Maschinengewehre taugen nicht bei den hohen Temperaturen in Mali. Es fehlt an warmer Kleidung und Zelten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es sei daran erinnert, dass die Ausgaben für Verteidigung (nach NATO-Kriterien) in Deutschland seit 2014 von knapp 34 Milliarden Euro auf über 53 Milliarden im Jahr 2021 erhöht wurden. Es ist ein Mythos, dass die Bundeswehr schlecht ausgerüstet ist, weil sie zu wenig Geld bekommt. Mangelnde Finanzen sind nicht das eigentliche Problem, sondern verkrustete Strukturen bei der Beschaffung, strukturelle Defizite bei Entwicklung, Produktion und Beschaffung und erhebliche zeitliche Verzögerungen bei der Auslieferung der bestellten Waffen.

Belege dieser miserablen Lage gibt es allenthalben. Die Probleme des Lufttransportflugzeugs A 400 sind ein Paradebeispiel für eine verzögerte und überteuerte Lieferung – zudem unterhalb der zugesagten Leistungen. Schon 2018 bemängelte der Wehrbeauftragte, dass nur 50 Prozent der Flotte einsatzbereit seien. Seit der ersten parlamentarischen Befassung mit dem Transportflugzeug hat sich das Vorhaben um mehr als zwölf Jahre verzögert. Noch immer sind die Flugzeuge nicht ausgereift, ein Armutszeugnis für den Hersteller. Dies ist nicht das einzige Gerät, mit dem sich die Luftfahrtindustrie verhoben hat und damit die Bundeswehr in Schwierigkeiten bringt. Deutliche Parallelen zeigen sich auch beim deutsch-französischen Transporthubschrauber NH90. Das Verteidigungsministerium bezifferte 2018 die durchschnittlichen zeitlichen Verzögerungen bei Großprojekten auf fünf Jahre und drei Monate.

Zweifellos bedarf also die Bundeswehrbeschaffung dringend einer gründlichen Reform. Sie ist auch schon mehrfach angekündigt worden. Doch die bisherigen Reformvorhaben wurden nur kümmerlich umgesetzt. Neben den viel zu bürokratischen Beschaffungsabläufen gibt es vor allem zwei Gründe für diese Misere.

Zwar hat es erstens immer Bekenntnisse zur Auswahl der besten Systeme für die Bundeswehr gegeben. Die Soldatinnen und Soldaten sollen schließlich vorbildlich ausgerüstet und geschützt sein. De facto wurde in der Praxis jedoch immer darauf geachtet, dass bei der Auftragsvergabe möglichst deutsche Firmen berücksichtigt werden. Auch wenn das hieß, dass bei der Leistungsfähigkeit der Systeme, bei den Terminen der Auslieferung und beim Preis Abstriche gemacht werden mussten. Bei der Beschaffung von Waffensystemen fehlt weitgehend der Wettbewerb.

Zweitens gibt es bei der Rüstung einen Hang zur Verwendung von Hochtechnologie – ein Trend, der in den USA und der dortigen Rüstungswirtschaft als „over engineering“ oder als „Rüstungsbarock“ beschrieben wird. Immer mehr Technologie wird in ein Waffensystem gepackt. Die Streitkräfte möchten auf dem neuesten Stand der Technik sein. Und die Rüstungsindustrie neigt nicht nur zur Selbstüberschätzung hinsichtlich der eigenen technologischen Leistungsfähigkeit, sondern „muss“ auch durch immer neue technologische Anforderungen den ursprünglich anvisierten Preis des Waffensystems anheben.

Fehlende Finanzen sind also nur ein Teil des Problems. Deshalb ist es auch falsch, jetzt den Schwur zu leisten, in Zukunft das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nicht nur einzuhalten, sondern zu übertreffen. Das ist Symbolpolitik. Diesem Zwei-Prozent-Ziel unterliegt die absurde Logik, dass es in einer florierenden Wirtschaft – also bei einem hohen BIP – schwer zu erreichen ist, bei wirtschaftlichem Niedergang aber fast automatisch erzielt wird. Es ist grundsätzlich falsch, eine volkswirtschaftliche Größe wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zum zentralen Kriterium verteidigungs- und sicherheitspolitischer Entscheidungen zu machen.

Der richtige Weg wäre, akute wie potenzielle Herausforderungen und Gefährdungen zu benennen und die zur Abwehr erforderlichen Kapazitäten der Bundeswehr, einschließlich der erforderlichen Ausrüstung, zu definieren. Zuerst muss jedoch die Debatte über die strategische Ausrichtung geführt werden. Hieraus ergibt sich der finanzielle Rahmen, der gegebenenfalls unter oder auch über zwei Prozent des BIP liegen kann.

Stattdessen wird das Pferd nun von hinten aufgezäumt. Jetzt werden zuerst Finanzmittel versprochen, um dann zu entscheiden, wozu die Mittel eingesetzt werden. Mit der Steigerung der Ausgaben geht nicht zwingend eine der militärischen Leistungsfähigkeit oder Effizienz einher. Die Höhe des Haushaltes oder der Anteil der Ausgaben am BIP sagen überhaupt nichts über die militärischen Fähigkeiten der Streitkräfte aus. Plakativ ausgedrückt: Mehr Geld ist nicht gleich mehr Sicherheit. Bei aller Dramatik der Ereignisse der letzten Wochen gilt es, nicht in Panik oder Schockstarre Entscheidungen zu treffen, sondern einen kühlen Kopf zu bewahren, eine sorgfältige Analyse durchzuführen, um dann sach- und situationsgerecht zu entscheiden. Man kann nur hoffen, dass die Bundestagsabgeordneten von ihrem Recht Gebrauch machen, über den Haushalt zu entscheiden, und zuerst die strategische Debatte einfordern, um danach über die Finanzen abzustimmen.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist ehemaliger Leiter des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC). Er ist heute Fellow am BICC und am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Essen/Duisburg.

Ein neues Zeitalter der Aufrüstung

Quelle t-online Christoph Coeln – 22.3.22

Russland setzt im Ukraine-Krieg bereits eine neue Generation Waffen ein. Weitere militärische Eskalationen werden befürchtet. Der Sicherheitsexperte Ulrich Kühn sieht ein neues Zeitalter der Aufrüstung gekommen. 

t-online: Herr Kühn, Russland hat im Ukraine-Krieg offenbar ein neues Waffensystem getestet, das als „Wunderwaffe“ gilt. Warum setzt Russland dieses System ausgerechnet jetzt ein?

Ulrich Kühn: Es kann sein, dass Wladimir Putin dem Westen damit seine Durchsetzungsfähigkeit und militärische Stärke demonstrieren will. Es kann aber auch etwas anderes sein, dass nämlich dem russischen Militär langsam die Hochpräzisionswaffen ausgehen und man deswegen solche Systeme einsetzt. Das wiederum wäre ein Zeichen der Schwäche, denn es würde bedeuten, dass sich die russischen Munitionsdepots leeren. Ganz genau wissen wir das noch nicht.

Handelt es sich denn wirklich um eine „Wunderwaffe“?

Die Idee ist so neu nicht, die gab es schon im Kalten Krieg. Das Neue an diesem System ist, dass die Kinschal wegen ihrer semiballistischen Flugkurve während der gesamten Zeit innerhalb der Atmosphäre fliegen kann. Zusammen mit der Manövrierfähigkeit, mit der die Kinschal angeblich ausgestattet ist, macht es das gegnerischen Abwehrsystemen sehr schwer, eine solche Rakete vom Himmel zu holen. Und wenn das Trägersystem dann noch mit Decoys ausgestattet ist, also mit Täuschobjekten, sinken die Abwehrchancen zusätzlich.

Hohe US-Militärs, wie der General John E. Hyte, sprechen davon, dass sich die Nato gegen diese Systeme nicht verteidigen kann. Das klingt einigermaßen beunruhigend.

Es ist nicht so, dass es auf westlicher Seite gar keine Abwehrmöglichkeiten gibt. Systeme wie die Patriot sind durchaus effektive Abwehrsysteme, die ausgelegt sind, um ballistische Raketen und ihre Flugkörper herunterzuholen. Ob das bei der Kinschal aber schon möglich ist, dafür gibt es derzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse.

Dennoch schleicht sich ein Gefühl der Verwundbarkeit ein.

Der Krieg in der Ukraine wird unabhängig vom Einsatz dieser neuen strategischen Waffen zu einem Wiederaufflammen der Sicherheitsdebatte führen. Dabei geht es um die Frage, in welcher Form wir die Länder an der Ostflanke der Nato unterstützen, denn wir dürfen eines nicht vergessen: Durch den Ukraine-Krieg verschiebt sich die Karte. Bisher hatte die Nato eine Grenze mit Russland im Baltikum und in Polen. Jetzt verläuft die Grenze auch entlang von Ländern wie der Slowakei, Ungarn, Rumänien und, wenn man die Seegrenze im Schwarzen Meer dazuzählt, auch Bulgarien. Diese Länder werden mit gutem Recht fragen: Tut die Nato militärisch genug für unsere Sicherheit?

Welche Antwort sollten wir ihnen geben?

Wir werden sehr bald eine neue Stationierungsdebatte führen, wie man diese Länder konventionell rückversichern kann. Ganz konkret: Was müssen da für Verbände hingesetzt werden, wie viele Soldaten müssen dort stehen, welche Luftabwehrsysteme können und wollen wir dahin setzen? Das ist auch eine Kostenfrage, denn Luftabwehrsysteme sind kostspielig.

Es droht uns also eine neue Aufrüstungsspirale?

Ja, ich sehe leider eine klare Remilitarisierung auf Europa zukommen. Ob das Ganze einen Rüstungswettlauf bedeutet, wissen wir noch nicht. Aber ich möchte es nicht ausschließen. Und ich würde auch nicht ausschließen, dass die Nato irgendwann eine neue Debatte beginnt über die mögliche Stationierung nuklearer oder zumindest von Dual-Use-Systemen in Osteuropa, also solcher Systeme, die konventionelle und nukleare Sprengköpfe tragen können.

Putin wirft uns also in die Zeit des Kalten Krieges zurück?

Man muss das leider so sagen. Ich würde sogar sagen, dass wir uns in einer längeren Krise befinden, die unter Umständen schwerer sein wird als die Kuba-Krise 1962 und die eine klare nukleare Dimension besitzt.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass Putin den Konflikt auch auf Nato-Gebiet ausweitet?

Momentan gibt es keine Anzeichen dafür, dass Putin oder sein Militär eine weitere Eskalation gegen die Nato forciert. Was ich aber sehe, ist die Gefahr unbeabsichtigter Eskalation. Beispielsweise an der Grenze der Ukraine zur Slowakei. Dort gibt es einen Flugplatz, der sehr nah an der Grenze liegt. Wenn Russland diesen Flugplatz mit Hochpräzisionslenkwaffen bombardieren sollte, kann es durchaus passieren, dass ein oder zwei davon auf Nato-Gebiet landen. Das passiert in einem heißen Krieg schon mal.

Dann würde der Bündnisfall nach Artikel 5 eintreten. Das würde aber nicht zwangsläufig eine nukleare Eskalation bedeuten.

Das ist richtig. Es gibt eine Hotline zwischen hochrangigen russischen und amerikanischen Militärs, um etwa ein solches Szenario wie mit der verirrten Rakete schnell aufzuklären. Die Chance einer nuklearen Eskalation ist momentan sehr gering, aber sie ist eben auch nicht bei null, und ich könnte mir vorstellen, dass sie in den kommenden Wochen noch steigt, je mehr Putin mit dem Rücken zur Wand steht. Er muss Nuklearwaffen ja nicht unbedingt gegen die Nato einsetzen, er könnte sie auch gegen die Ukraine einsetzen.

Mit taktischen Nuklearwaffen?

Nuklearwaffen mit einer kürzeren Reichweite und unter Umständen auch einem kleineren Gefechtskopf, der eine geringere Sprengkraft hat. Aber was heißt in diesem Fall schon „klein“?

Es gibt keinen „kleinen“ Atomkrieg.

Ein Einsatz von Nuklearwaffen zum jetzigen Zeitpunkt würde bedeuten, dass wir ein 77 Jahre lang bestehendes Tabu gebrochen sehen würden. Das wäre das Schlimmste, was wir erleben könnten. Und ich hoffe sehr, dass das nicht passieren wird.

Wie sieht es mit einer Eskalationsstufe darunter aus, dem Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen?

Nachdem der Krieg für Putin gar nicht nach Plan verläuft, Russland sich jetzt auf den Beschuss durch klassische Artillerie verlegt und dabei anscheinend auch thermobarische Systeme einsetzt, wäre das natürlich die nächste Eskalationsstufe. Was wir bislang noch nicht gesehen haben, ist der Einsatz chemischer Waffen, wie Russland es im Syrienkrieg gemacht hat. Aber es gibt zu denken, dass es von russischer Seite diese öffentlich vorgebrachten Lügen gibt, dass es angeblich B- und C-Waffenprogramme in der Ukraine gebe. Das sind klare Lügen. Die Uno hat sich dazu ja auch schon entsprechend geäußert. So was lässt natürlich die Möglichkeit offen, dass Russland False-Flag-Aktionen und möglicherweise C-Waffen einsetzt, um es dann der ukrainischen Seite in die Schuhe zu schieben. Auch das haben wir bereits in Syrien gesehen. Das wäre extrem schlimm. Natürlich zuerst für die Zivilbevölkerung. Es würde aber auch den Druck auf den Westen erhöhen, irgendetwas zu tun. Vor diesem Irgendetwas warne ich als jemand, der sich seit Jahren mit solchen Eskalationsdynamiken beschäftigt.

Weil?

Weil das in der Konsequenz bedeutete, dass die Nato mit Truppen in die Ukraine hineingehen, russische Stellungen beschießen und Präzisionsschläge gegen russisches Territorium vornehmen müsste. Und da wäre es dann angebracht, die Worte von Joe Biden zu wiederholen: Dann wären wir mitten im Dritten Weltkrieg.

Dr. Ulrich Kühn ist Leiter des Forschungsbereichs „Rüstungskontrolle und Neue Technologien“ am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Er ist außerdem ein Non-Resident Scholar des Nuclear Policy Program, Carnegie Endowment for International Peace, sowie Gründer und Ständiges Mitglied der trilateralen Deep-Cuts-Kommission. Vor seinem Wechsel zum IFSH arbeitete Ulrich Kühn für das Vienna Center for Disarmament and Non-Proliferation, die Helmut-Schmidt-Universität und das Auswärtige Amt.

Winfried Wolf: 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine

Winfried Wolf: 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine (Auszüge)

Komplettfassung: alle 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine Winfried Wolf

1

Die uneingeschränkte Verantwortung für den Ukraine-Krieg trägt die russische Regierung

Die russische Führung begann am Morgen des 24. Februar 2022 einen Krieg gegen die Ukraine. Es handelt sich um einen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land. Dieser Krieg ist ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Es gibt für ihn Ursachen, Erklärungen, Hintergründe – aber keinerlei Entschuldigung.

Von der russischen Führung ist der sofortige Rückzug hinter die russischen (und weißrussischen) Grenzen vom Stand 23. Februar 2022 zu fordern. Jede Stunde Fortgang des Kriegs kostet Menschenleben, zerstört unnötig Werte, richtet sich auch gegen die innerrussische demokratische Zivilgesellschaft, lässt das Ansehen der russischen Regierung gegen Null sinken, trägt zur weltweiten Hochrüstung bei, stärkt den weltweiten Militarismus und insbesondere den westlichen Imperialismus und gefährdet in wachsendem Maß den Weltfrieden – was die Menschheit an die Schwelle eines atomar geführten Kriegs führen kann.

Die Folgen der Auseinandersetzung für die Weltwirtschaft sind nicht absehbar; sicher ist, dass die weltweite Inflation gestärkt und der Anstieg der Energiepreise beschleunigt wird. Damit bezahlen die einfachen Leute einen erheblichen Teil der Kriegskosten.

Es ist Aufgabe der weltweiten Friedensbewegung, durch vielfältige Aktivitäten, nicht zuletzt durch Demonstrationen, unsere Antikriegspositionen und unsere Solidarität mit der Antikriegshaltung der Zivilgesellschaften in der Ukraine und in Russland zum Ausdruck zu bringen und Druck auf Russland auszuüben, die Truppen zurückzuziehen und wieder den Weg von Dialog und Verhandlungen zu beschreiten.

Gleichzeitig müssen wir uns gegen die Hochrüstungspolitik des Westens, der Nato, der EU, der Regierung in Berlin und gegen die Waffenlieferungen in die Ukraine, mit denen der Krieg verlängert und intensiviert wird, einsetzen.

Die Politik permanent gesteigerter Sanktionen ist abzulehnen; sie trifft in erster Linie die Bevölkerung in Russland. Sie zielt darauf ab, die russische Regierung zum Äußersten zu treiben und die Energieexporte in die EU zu stoppen. Sie nimmt die Gefahr einer Weltwirtschaftskrise und eines Finanzcrashs mit unabsehbaren Folgen bewusst in Kauf. Vor allem steigert sie die Gefahr der Ausweitung dieses Kriegs hin zu einem Weltenbrand, zu einem atomar geführten Dritten Weltkrieg.

2

Wir, die Friedensbewegung, linke Gruppen und Parteien und fortschrittliche Publikationen, lagen falsch

Ein großer Teil der traditionellen Antikriegsbewegung – darunter die Zeitung gegen den Krieg selbst und ich als Person – haben sich getäuscht, als wir bis wenige Stunden vor Beginn des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine davon ausgingen, dass die russische Regierung nicht den Krieg sucht. Wir gingen fälschlich davon aus, dass die breit angelegten Manöver der russischen Streitkräfte im Grenzgebiet zur Ukraine und auf belorussischem Boden im Januar und bis zum 23. Februar lediglich der Versuch seien, damit Druck aufzubauen, um eine Verhandlungslösung – oder eventuell eine „Absicherung“ der „Volksrepubliken“ in der Ost-Ukraine, möglicherweise ergänzt um eine völkerrechtliche Anerkennung  der Integration der Krim in die Russische Föderation – zu erreichen.

Diese Fehleinschätzung hing eng zusammen mit dem bisherigen Verlauf der West-Ost-Konfrontation seit 1990/91, in dem Russland fast ausschließlich reaktiv agierte. Eine vergleichbare Einschätzung wurde auch in fortschrittlichen bürgerlichen Kreisen vertreten – stellvertretend hierfür genannt sei der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi oder der Industrielle und Top-Manager Oliver Hermes, Vorsitzender des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft. Selbst die Regierung in Kiew ging bis zum 23. Februar nicht davon aus, dass eine direkte und flächendeckende Invasion durch russische Truppen stattfinden würde. Es gab nicht einmal eine Mobilmachung der ukrainischen Armee.

Trotz der vielen, die vergleichbar falsch lagen, gilt: Wir haben uns getäuscht. Diejenigen, auch Teile der Linken, hatten Recht, die von einem grundsätzlich aggressiven Charakter der Regierung Putin und davon ausgingen, dass Russland ein typisch imperialistisches Land sei.

Jenseits der Debatten über den Charakter des russischen Staates ist meines Erachtens davon auszugehen, dass es hier einen Umschlag von Quantität in eine neue Qualität gibt. Elemente eines solchen aggressiven Potentials in der Politik des Kreml waren auch früher zu beobachten; vorherrschend in der russischen Politik war jedoch bis Anfang 2022 das Berechenbare, die Ratio. Das scheint seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr der Fall zu sein.

3

Innere Dynamik in Russland, die zum Angriffskrieg führte

Es gibt eine Reihe von Ursachen für die Veränderungen in der russischen Politik. Diese wurzeln in starkem Maß in der aggressiven Politik des Westens.

An dieser Stelle ist es jedoch zunächst notwendig, die innerrussischen Ursachen hervorzuheben. In Russland gab es nach dem Zusammenbruch der nichtkapitalistischen oder „staatssozialistischen“ Sowjetunion im Jahr 1991 die Wiederherstellung einer kapitalistischen Wirtschaft.

Es handelt sich um einen Kapitalismus mit speziellen Ausprägungen: mit einer privatkapitalistischen Wirtschaft, die von zwei oder drei Dutzend Oligarchen kontrolliert wird, und die koexistiert mit einem starken staatlichen Sektor. Der letztgenannte staatliche Wirtschaftsbereich hat seine ökonomische Basis im staatlichen Rohstoffsektor und im militärisch-industriellen Komplex, wobei es enge Verbindungen zum in größeren Teilen staatlichen Finanzkapital gibt.[1] Dabei haben wir den Grundcharakter der russischen Gesellschaft nicht beschönigt. So wurde die politische Situation in Russland in der jüngsten Zeitung gegen den Krieg von Anfang Februar 2022 – verfasst also vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – wie folgt charakterisiert: „Russland ist ein autoritär regiertes Land, in dem die Menschenrechte verletzt und oppositionelle – auch kritische-demokratische – Medien ausgegrenzt und verboten werden. Die Schließung der verdienstvollen „Memorial“-Aufklärungsinstitution ist ein Beispiel.“[2]

Diese Grundeinschätzung hat sich mit der russischen Invasion in die Ukraine bestätigt. Sie wurde mit dem einstimmigen Beschluss der Duma vom 22. Februar, die beiden ostukrainischen „Volksrepubliken“ als „unabhängige Staaten“ anzuerkennen und der bizarren Sitzung des russischen Sicherheitsrats am 23. Februar dokumentiert. Auf diesem Treffen des Sicherheitsrats ließ Putin im Stil eines feudalen Alleinherrschers die Vertreter unterschiedlicher Dienste und Gremien förmlich antanzen und vorführen.

Putins Rede zur Begründung des Kriegs enthielt irrationale, absurde Passagen, so die Hinweise, die Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden beziehungsweise die Behauptung, an der Spitze der ukrainischen Regierung stünden „Drogenabhängige“.

Diese Rede war vor allem von einem großrussischen Chauvinismus geprägt, so wenn Putin die Eigenstaatlichkeit der Ukraine – die Moskau ja selbst 1991 anerkannt und mehr als ein Vierteljahrhundert lang akzeptiert hat – mit höhnischen Bemerkungen in Frage stellte. Und es war Wladimir Iljitsch Lenin, der vor diesem – historisch entwickelten – unmenschlichen Charakterzug in der russischen Politik gewarnt hatte.[3] Es passt dann in dieses Bild, dass Putin in derselben Rede zur Begründung des Kriegs eben diesen W. I. Lenin dafür verantwortlich machte, dass die Ukraine überhaupt sich als Staat herausbilden konnte.

Richtig ist: Die ukrainische Sprache war bis zum Sieg der Oktoberrevolution 1917 im zaristischen Russland unterdrückt und jede Form von Eigenstaatlichkeit des Landes und alle Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit waren abgelehnt worden. Es war die siegreiche Revolution von 1917 in deren Gefolge zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes Ukrainisch als Sprache anerkannt und die Ukraine sich als Republik – innerhalb der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) – herausbilden konnte. Zweifellos gab es auch innerhalb der UdSSR Phasen einer russisch-chauvinistische Politik gegenüber der Ukraine, insbesondere in der Stalin-Ära. Es gab jedoch auch positive, dem entgegengesetzte Tendenzen. Bilanz: Das Gesamtbild ist widersprüchlich, auch wenn ukrainisch-nationalistische Personen wie Petro Poroschenko, Wolodymir Selenskyj und Vitali Klitchko dies nicht wahrhaben wollen.

4

Absolut verantwortungslos ist Putins Drohung mit einem Atomkrieg

In der Rede von Wladimir Putin zur Begründung des Kriegs gibt es eine Passage, in der er alle diejenigen, die sich „einmischen“ würden, mit drastischen Worten warnt. Russland würde sich für einen solchen Fall alle, auch äußerste Gegenmaßnahmen, vorbehalten. Putin hat damit faktisch erklärt, dass Russland gegebenenfalls Atomwaffen als Antwort auf eine solche „Einmischung“ einsetzen würde.[4] Es waren bislang der Westen und hier die Nato, die einen atomaren Erstschlag als „Prävention“ in ihre Militärstrategie einbezogen haben – und die einen solchen atomaren Erstschlag auch aktuell, im Rahmen der „Modernisierung der Atomwaffen“, als integralen Bestandteil der Militärstrategie sehen. Bisher hat einzig die US-Regierung mit den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki im August 1945 das zivilisatorische Tabu des Einsatzes von Atomwaffen gebrochen.

Wenn die Regierung in Moskau nun ihrerseits zumindest indirekt mit einem atomaren Erstschlag (als „Antwort“ auf welche Art „Einmischung“ auch immer) droht, so ist dies verbrecherisch.

Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen. Sie richten sich von ihrem Charakter her immer gegen die Zivilbevölkerung, da sie unterschiedslos menschliches (und anderes) Leben in einer großen Region töten. Unser grundsätzliches Nein zu Atomwaffen gilt selbstverständlich auf Weltebene. Die indirekte Drohung, diese einzusetzen, wird von uns in aller Schärfe verurteilt. Mit dieser Drohung wurde es auch der US-Regierung und der Nato erleichtert, an der Eskalationsspirale zu drehen.

5

Westliche Aufrüstung und Einkreisungspolitik

Um es nochmals klarzustellen: Die Verantwortung für den aktuellen Krieg liegt allein bei der russischen Führung; für sie sind der russische Präsident Wladimir Putin und seine enge Umgebung direkt verantwortlich. Diese Festzustellung muss ergänzt werden um eine Kritik an der Politik des Westens. Die irrationale Reaktion Putins erfolgt als Reaktion auf eine rationale, kriegstreiberische Politik der Nato. Eine solche Politik ist auf fünf Ebenen zu erkennen:

Erstens gibt es den Bruch der Vereinbarungen von 1990, die Nato nicht nach Osten auszuweiten.[5] Seit 1990 gab es eine systematische Ausweitung dieses Militärbündnisses in Richtung der russischen Grenzen – mit einer Erhöhung der Zahl der Nato-Mitgliedsländer von 16 im Jahr 1990 auf aktuell 30. Dies musste von Russland als Politik der Einkreisung empfunden werden.

Zweitens gibt es eine systematische westliche Politik der Militarisierung entlang der östlichen Grenzen Russlands durch die Stationierung von Nato-Truppen und Raketensystemen (u.a. in den baltischen Staaten und in Rumänien), durch die Aufrüstung der Ukraine und durch eindeutig gegen Russland gerichtete Manöver“ („Defender 2020“ und die beiden nachfolgenden „Defender“-Großmanöver 2021 und 2022).

Drittens haben die USA einseitig Abrüstungsverträge gekündigt, die gegen Ende der Sowjetunion bzw. direkt nach 1990 abgeschlossen wurden.

Viertens setzte der Westen spätestens seit Ende der 1990er Jahre zu einem neuen Wettrüsten an, das Parallelen zu dem Wettrüsten in den 1980er Jahren aufweist und das auf ein Totrüsten hinausläuft. Im vergangenen Jahr 2021 lagen die Nato-Rüstungsausgaben beim Sechszehnfachen der Rüstungsausgaben Russlands – Tendenz bei diesem Abstand steigend. Das „2-Prozent-Ziel“, das bereits vor einigen Jahren von allen Nato-Mitgliedsländern beschlossen wurde, dient der Steigerung dieses Rüstungswettlaufs. (Zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts sollen für Rüstung ausgegeben werden).

Und schließlich fünftens haben die USA – begleitet von den Atommächten Großbritannien und Frankreich – mit dem seit einem Jahrzehnt betriebenen Projekt „Modernisierung der Atomwaffen“ einen atomaren Rüstungswettlauf in Gang gesetzt. Die deutschen Regierungen unter Angela Merkel und aktuell unter Olaf Scholz unterstützten und unterstützen diesen Prozess, indem sie auch einer Stationierung „modernisierter“ Atomwaffen auf deutschem Boden und der Fortsetzung der Politik der „atomaren Teilhabe“ zustimmen und für deren Einsatz neue Kampfflugzeuge ordern wollen. Das heißt: Auch vor dem 24. Februar 2022 stand fest, dass die Bundeswehr sich aktiv an einem gegen Russland gerichteten atomaren Krieg beteiligt.

6

Unverantwortliche Politik in Kiew

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat als einen Hintergrund die Rechtsentwicklung und die antirussische Politik in Kiew.

Bis 2014 gab es in Kiew eine offizielle Politik, mit der der Ost-West-Konflikt weitgehend ausbalanciert wurde. Das trug dem Charakter der Ukraine als einem großen Grenzland zu Russland, als einem Land, in dem mindestens 30 Prozent ethnische Russinnen und Russen sind und in dem rund 50 Prozent im Alltag russisch reden, Rechnung.

2014 gab es mit dem Sturz der Regierung Wiktor Janukowytsch und der Verhinderung einer – damals noch mit der Zustimmung Moskaus und Berlins getroffenen – Vereinbarung, wonach es in einem angemessenen zeitlichen Abstand Neuwahlen geben würde – einen vom Westen massiv unterstützten „regime-change“, der einem Staatsstreich gleichkam.

In einer unmittelbaren ersten Reaktion beschloss die 2014 neu gebildete, westlich orientierte Regierung in Kiew, Russisch als zweite Amtssprache abzuschaffen. Es kam im Gefolge zu massiven, gewalttätigen Akten gegen die russische Minderheit. Einen abstoßenden Höhepunkt bildeten dabei die Vorgänge in Odessa am 2. Mai 2014. Damals wurden mehr als 40 Personen im Gewerkschaftshaus von einem ukrainisch-nationalistischen Mob eingeschlossen, das Gebäude wurde in Brand gesetzt; 42 Menschen verbrannten bei lebendigem Leib beziehungsweise beim Sprung aus dem brennenden Gebäude. Erst im Kontext dieser Ereignisse kam es zur Abspaltung der beiden „Volksrepubliken“ in der Ostukraine. 2015 wurde das „Minsker Abkommen“ geschlossen, an dem Frankreich, Deutschland, die Ukraine und Russland beteiligt sind.

Gemäß diesem Abkommen sollte den beiden überwiegend russisch-sprachigen Bezirken in der Ostukraine eine Teilautonomie zugestanden und die Verfassung der Ukraine entsprechend geändert werden. Danach sollte es, auf dieser Basis, regionale Wahlen geben und die abtrünnigen Regionen wieder in den Staat Ukraine voll integriert werden. Die drei Regierungen, die es seither in Kiew gab, weigerten sich jedoch sieben Jahre lang, das Minsker Abkommen umzusetzen – unter anderem, indem sie es ablehnten, sich mit den Vertretungen der Volksrepubliken auch nur an einen Tisch zu setzen. Und die westlichen Signatarmächte Deutschland und Frankreich übten keinen größeren Druck auf Kiew aus, dieses Abkommen umzusetzen.

Es gab schließlich in den Monaten vor Kriegsbeginn eine Reihe ukrainisch-nationalistischer Akte, die das Klima anheizten und die in Moskau als Provokation empfunden werden mussten.

Ende Februar 2022 sollte probeweise das ukrainische Stromnetz mehrere Tage lang vom russischen Stromverbund abgekoppelt werden; spätestens 2023 sollte die Ukraine dann unabhängig vom russischen Stromnetz sein und im Übrigen möglichst Strom nach Westen exportieren. 55 Prozent des ukrainischen Stroms basieren auf Atomenergie. Dieser Anteil soll deutlich ausgebaut werden, wovon vor allem die französische und die US-amerikanische Atomindustrie profitieren will.

Als provokativ antirussisch empfunden wird vor allem das 2019 beschlossene Gesetz, wonach in der Ukraine alle Publikationen, die in russischer Sprache erscheinen, zugleich in ukrainischer Sprache publiziert werden müssen.

Dieses Gesetz, das Anfang 2022, kurz vor Kriegsbeginn, Gültigkeit erlangte, bedeutet das Aus für ein halbes Hundert Zeitungen, Zeitschriften und Verlage, die in erster Linie in russischer Sprache publizieren. Die antirussische Politik, die die Regierungen in Kiew betreiben, mündete darin, dass in die Verfassung der Ukraine das Ziel eines Nato-Beitritts hineingeschrieben wurde. Das heißt, ein Land, dessen Name übersetzt „Grenzland“ bedeutet, will sich direkt an der Grenze zu Russland einem gegen Russland gerichteten Militärbündnis anschließen.

Putins Ausfälle gegen Kiew, in denen von „Nazis“ und „Faschisten“ die Rede ist, sind in der vorgetragenen Form absurd. Sie finden allerdings eine gewisse Basis in der Tatsache, dass es in der Ukraine spätestens seit 2014 eine offene Ehrung faschistischer und antisemitischer Personen und Gruppen gibt, dass in dem Land offen faschistische Kräfte geduldet werden, solche auch in die ukrainische Arme aufgenommen wurden.

Das trifft zu auf das sogenannte Asow-Bataillon, inzwischen Teil der ukrainischen Armee, dessen Kommandant Andrij Biletzki den Kampf gegen die ostukrainischen Volksrepubliken als einen „Kreuzzug für die weiße Rasse […] gegen die von Semiten geführten Untermenschen“ ausgerufen hat.[6] Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, der in den Tagen des Krieges in vielfacher Form in allen deutschen Medien als großer Demokrat präsentiert wird, ging während der Maidan-Proteste 2014/15 eine Allianz mit der rechtsextremen und antisemitischen Swoboda-Partei ein. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung, die Klitschko und seine Partei UDAR seit vielen Jahren massiv fördert, ging deshalb auf eine gewisse Distanz zu Klitschko; die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kritisierte Klitschko deshalb massiv. In der Ukraine wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten an vielen Orten Hunderte Stepan-Bandera-Statuen aufgestellt. In Kiew wurde – ebenfalls betrieben vom Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko – der „Moskau Prospekt“ in „Stepan Bandera-Prospekt“ umbenannt.

Stepan Bandera war ein ukrainischer Nationalist, Faschist, Kriegsverbrecher und glühender Antisemit, der mit dem NS-Regime zusammenarbeitete und dessen ukrainischer Kampfverband OUN (bzw. OUN-B) an der Ermordung von Tausenden Jüdinnen und Juden und Polinnen und Polen beteiligt war. Gegen die vielfältigen Ehrungen von Bandera in der Ukraine protestierten die Regierungen in Warschau, Moskau und Tel Aviv.

Wiederaufrüstung ist das Wort der Stunde – Ist der Pazifismus endgültig passé?

Philosophischer Stammtisch – Give peace a chance – Aber wie? | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur33.885 Aufrufe – 21.03.2022

Wiederaufrüstung ist das Wort der Stunde. Mit Putins Invasion der Ukraine scheint Pazifismus endgültig passé: Aggressoren kann man nur militärisch besiegen oder abschrecken, Gewalt nur mit Gegengewalt beenden. Notwendige Einsicht oder fataler Fehlschluss?

Russlands Invasion der Ukraine wird als Zeitenwende beschrieben. Vorbei der Glaube an einen Kontinent des Friedens durch Völkerrecht und Handel. Geschlossen wird die Notwendigkeit zur Wiederaufrüstung und zu harten Wirtschaftssanktionen betont. Selbst die Schweiz trägt die EU-Sanktionen mit; das neutrale Schweden beschliesst Waffenlieferungen. Fast scheint es, als sei Pazifismus im Angesicht des Grauens endgültig passé, das Pochen auf gewaltfreien Widerstand nichts als der naive Traum verweichlichter Gemüter, die Friedensbewegung ein Relikt vergangener Tage.

Doch lässt sich Gewalt nur mit Gegengewalt wirksam begegnen? Das eigene Land und dessen Werte letztlich nur kriegerisch schützen? Oder zeigt nicht gerade der Krieg in der Ukraine, dass militärische Gewalt selbst im Verteidigungsfall die schlechteste aller Lösungen ist, weil sie das Leiden der Bevölkerungen verlängert und intensiviert? Give peace a chance – aber wie?

Barbara Bleisch und Wolfram Eilenberger diskutieren am Philosophischen Stammtisch mit dem Philosophen Wilfried Hinsch und der Publizistin Elke Schmitter.

Sternstunde Philosophie vom 20.03.2022