Ukrainekrieg und Militarismus – „Diesen Krieg hätte man verhindern können“ – Interview mit Wolfram Wette

Quelle: Kontext  Ausgabe 572 Gesellschaft

Von Oliver Stenzel (Interview)

Datum: 16.03.2022

Ukrainekrieg und Militarismus – „Diesen Krieg hätte man verhindern können“

Pazifismus und Engagement gegen Aufrüstung haben gerade wenig Konjunktur, bleiben aber wichtig und richtig, meint der Historiker Wolfram Wette. Ein Gespräch über die Friedensbewegung, Kriegsprävention und die Gefahren einer Militarisierung der Welt als Folge des Ukrainekriegs.

Wolfram Wette, Jahrgang 1940, gilt als einer der renommiertesten Militärhistoriker Deutschlands – mit einem für sein Fach ungewöhnlichen Schwerpunkt: Er forschte intensiv zu Kriegsprävention und Pazifismus. Von 1975 an arbeitete er am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg, ab 1998 war er Professor für Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Wette ist Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung und unter anderem Mitglied des pazifistischen Arbeitskreises Darmstädter Signal sowie des Vereins „Gegen Vergessen – für Demokratie“. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen „Weiße Raben. Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933“ und „Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“, beide erschienen im Donat-Verlag.  (os)

Herr Wette, in der Friedensbewegung herrscht wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine Ratlosigkeit. Ist momentan eine schlechte Zeit für Pazifisten?

Auf den ersten Blick haben wir es mit einem Scheitern des Projekts „Ernstfall Frieden“ zu tun, das an Gustav Heinemanns Satz anknüpft: „Der Frieden ist der Ernstfall!“ In der Friedensbewegung ist man schockiert und stellt sich die Frage: Haben alle, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für ein dauerhaftes Friedensprojekt gearbeitet haben, etwas falsch gemacht?

Haben sie? Oder anders: Was war richtig, was falsch?

Zunächst: Eine moderne Friedensbewegung muss man wohl mit dem Buchenwald-Schwur „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ beginnen lassen. Diese Forderung richtete sich an jene, die in der Vergangenheit Krieg zu verantworten hatten, und das waren die Deutschen selbst. Es war ein Appell an die Bevölkerung zu begreifen, dass wir ein neues Kapitel in unserer Geschichte aufschlagen müssen.

Die Friedensforderung war also nach innen gerichtet.

Nach innen, es ging um eine Mentalitätsveränderung, weg von einer militaristischen, hin zu einer demokratisch-friedlichen. Daran haben nach 1945 Generationen gearbeitet. Es gab Bewegungen von unten, die sich der Remilitarisierung Deutschlands entgegengestellt haben, es gab aber auch ein großes Lernen in den politischen Eliten, die sich von kriegerischen Überlegungen verabschiedeten und sagten: Zukunft ist nur noch mit Sicherheitspolitik zu gestalten, das heißt mit Kriegsverzicht.

Darauf aufbauend, haben wir Jahrzehnte erlebt, in denen das militärische, machtpolitische Denken in die Defensive geraten und sich neue Mehrheiten für friedlichere Lösungen gefunden haben. Machtpolitisch geprägte Menschen haben das als „postheroisch“ zu verunglimpfen versucht, nach dem Motto: Wer von militärischer Macht nichts versteht, soll gefälligst von der Politik die Finger lassen. Doch eine große Mehrheit hat im Sinne Heinemanns begriffen: Nicht der Krieg, sondern der Frieden ist der Ernstfall. Jetzt wird diese fundamentale Einsicht massiv in Frage gestellt.

Das Friedensprojekt, das stark nach innen gerichtet war, ist nun herausgefordert durch einen Angriffskrieg, der nicht von Deutschland ausgeht. Wie reagiert man darauf?

Im aktuellen Krieg in der Ukraine ist die Kriegsschuldfrage zunächst einmal klar: Russland hat, aus welchen Gründen auch immer, das Land überfallen. Aber alle anderen Probleme, die damit zusammenhängen, scheinen aktuell wenig interessant zu sein. Es drängt sich der Eindruck auf, als falle die lange Vorgeschichte von Putins Aggression der offensichtlichen Kriegsschuld Putins zum Opfer. Eine wirkliche Analyse der Kriegsursachen gibt es zurzeit nicht.

Ein Versäumnis in ihren Augen?

Stets ist zu fragen, ob mit jedem Krieg, der beginnt, die Diplomatie versagt hat, oder ob in der Vorgeschichte die Fehler zu suchen sind. Zurzeit ist es unpopulär, solch eine Frage überhaupt zu stellen.

Aber ich bin überzeugt: Auch dieser Krieg hätte verhindert werden können. Kriege sind keine übernatürlichen Erscheinungen, keine Schicksale. Kriege sind Menschenwerk, deshalb gilt grundsätzlich: Auch die Kriegsverhinderung ist Menschenwerk und damit der Erhalt des Friedens möglich – eine mehr als wichtige Aufgabe.

Nun hört man sagen, Putin hat den Krieg gewollt, ergo ließ er sich nicht verhindern. Aber so ist es eben nicht, Putin hat eine Entwicklung durchgemacht. Die zurückliegenden Jahrzehnte sind dabei von allergrößter Bedeutung, wenn man verstehen will, was jetzt los ist. Zum Beispiel habe ich die Beobachtung gemacht, dass die Rolle der USA nach dem Kalten Krieg, nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Bildung der neuen Länder, die zuvor zur Sowjetunion gehört hatten, die NATO-Osterweiterung mit ihren verschiedenen Etappen, dass all das fast völlig außerhalb jeder Diskussion ist. Darauf ist aufmerksam zu machen, ohne gleich ein abschließendes Urteil darüber abzugeben.

Auch ohne abschließendes Urteil: Wo hätte der Westen aufmerksamer sein müssen?

Es hätte größere Aufmerksamkeit auf die Bedrohtheitsgefühle der Russen gerichtet werden müssen. Wenn man sich selbst sagt, ich bedrohe doch niemanden, ist das nur die eine Seite des Problems. Wenn der andere sich bedroht fühlt, ist das die andere Seite. Deshalb ist in der Friedens- und Konfliktforschung viel von Bedrohtheitsvorstellungen und -gefühlen die Rede – weil das eben subjektive, aber auch kollektive Empfindungen sind, die man ernst zu nehmen hat – und das ist nicht genügend getan worden.

Hätte nach dem Ende des Kalten Kriegs mehr Augenmerk auf eine globale Friedens- oder Sicherheitspolitik gelegt werden sollen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die „Nie wieder Krieg“-Parole im Wesentlichen auf das bis dahin aggressive Deutschland ausgerichtet. Die Siegermächte – USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – haben zwar auch die UNO-Charta unterschrieben, die auf Krieg verzichtet, in der Praxis gleichwohl immer wieder Krieg geführt und das militärische Instrument als relativ normales Mittel der Politik eingesetzt. Es gab den Korea-Krieg, den Vietnam-Krieg, den Afghanistan-Krieg der Russen, den des Westens, die Suez-Krise, den Falklandkrieg und viele andere – da war keine gebrochene Tradition wie in Deutschland, sondern eine Kontinuität von militärisch gestützten Interessen.

Dennoch gehörte, Sie haben es erwähnt, die Forderung „Nie wieder Krieg“ auch zu den Grundlagen der Charta der Vereinten Nationen bei ihrer Gründung 1944. Nun war die UNO in den letzten Jahrzehnten mit Kriegsprävention nicht sehr erfolgreich. Müsste versucht werden, sie wieder zu stärken?

Die Versuche, den Krieg rechtlich einzudämmen, gehen noch weiter zurück. Der Versailler Vertrag 1919 hat eine wichtige Rolle gespielt, der Briand-Kellogg-Pakt von 1929, der das Verbot des Angriffskrieges beinhaltete, galt weltweit als ein Fanal für die Zukunft. Es hat sich nur später herausgestellt: So schön es ist, dass man den Angriffskrieg ächtet und mit internationalen Gerichten darüber wacht, es ist sehr schwer, ihn überhaupt zu definieren und später juristisch zu fassen. Denn spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden alle militärischen Handlungen auf der Welt, ganz egal, wie sie aussehen, immer als Verteidigung ausgegeben. Ob am Hindukusch, am Suezkanal, auf den Falklandinseln oder sonst irgendwo, alle haben immer nur verteidigt.

Auch jetzt wieder.

Der russische Außenminister Lawrow sagte vor kurzem in Antalya – eigentlich ganz im Sinne der deutschen Führung von 1941, die behauptet hatte, Deutschland sei mit seinem Überfall auf die Sowjetunion nur einem Angriff der Roten Armee zuvorgekommen, habe also einen Präventivkrieg begonnen –, Russland sei das eigentliche Opfer. Der Westen habe mit scharfen Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine „wie ein Tollwütiger“ reagiert, es gehe dem Westen um eine Aggression gegen alles, was russisch ist. Die Schuldumkehr ist ein beliebtes Mittel von Aggressoren. Das macht die Schwierigkeit der rechtlichen Einhegung von Kriegen aus. Ich glaube, das Problem liegt tiefer.

Und zwar wo?

Man muss zum Frieden bereit sein, es kommt ganz maßgeblich auf den Willen zum Frieden an. Für mich war erhellend, was der kenianische Uno-Botschafter Martin Kimani am 23. Februar gesagt hat: Alle unsere Grenzen in Afrika sind durch Kolonialregime gezogen worden. Wir empfinden das als ungerecht und unmöglich, trotzdem haben wir uns entschlossen, die Grenzen zu akzeptieren. Alles andere hätte keine Zukunft. Es läge ein Jahrhundert von afrikanischen Kriegen vor uns, wenn wir es anders machen würden.

Also der Grundsatz, dass man endlich mal die Grenzen als unverrückbar betrachtet und keine Politik mehr mit Krieg betreibt, wenn das alle akzeptieren würden, dann wären wir schon weiter. Aber das ist jetzt von Russland nicht akzeptiert worden. Welch abenteuerliche Vorstellung, die Ukraine sei eigentlich kein Staat; das ist eine Revitalisierung geopolitischer Ansichten – ein Rückfall in Eroberungspolitik früherer Zeiten.

Die internationalen rechtlichen Institutionen, zu denen auch Grenzen gehören, scheinen es also im Moment nicht richten zu können. Sobald ein Akteur den Friedenswillen nicht teilt, sind Krisen und Konflikte möglich.

Es besteht die große Gefahr, dass es international zu einer gravierenden Neuorientierung kommt. Solche Stimmung wie in der Bundestagssondersitzung am 27. Februar, wo man sich in einem bislang nicht für möglich gehaltenen Ausmaß darüber einig war, dass die Rüstungsanstrengungen in Deutschland zu verdoppeln sind, verbunden mit ähnlichen Stimmungen in anderen Ländern, die sich bedroht fühlen, das wirkt wie ein Signal, dass die Devise jetzt weltweit nicht mehr Frieden heißt, sondern Vorbereitung auf kriegerische Auseinandersetzungen. Und immer wo aufgerüstet wird, entstehen Feindbilder – und frohlocken die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes. Da werden die Diplomaten weniger wichtig – und Friedensbemühungen eher belächelt als bestärkt. Man geht einen hochgefährlichen Weg in militärische Eskalationsspiralen hinein mit der Folge, dass genau das geschieht, was wir eigentlich nach 1945 als großes Lernziel vermeiden wollten.

Blicken wir genauer auf Deutschland: Sie haben einmal den Kosovokrieg als Präzedenz- und Sündenfall zugleich bezeichnet, weil es erstmals der Einsatz der Bundeswehr in einem Angriffskrieg war. Sind jetzt die Waffenlieferungen für einen kriegführenden Staat, verbunden mit dem Bekenntnis zu Aufrüstung, für Sie auch ein Präzedenz- und Sündenfall?

Also, es ist zunächst einmal ein Bruch mit allem, was man bisher verkündet hat. Man hat in der Bundesrepublik ja schon seit den 1950er Jahren Waffenexport betrieben, aber gleichzeitig gesagt, spätestens ab den Siebzigern, wir wollen es nur sehr restriktiv handhaben, wollen nicht an kriegführende Länder liefern, nicht in Spannungsgebiete, nicht an Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Trotz dieser Beschränkungs-Rhetorik sind weiter massiv Waffen verkauft worden, selbst an kriegführende Länder, zuletzt an Saudi-Arabien, das mit dem Jemen im Krieg steht. Man hat also die Grundsätze stets unterlaufen, und alle Anstrengungen, das zu unterbinden, haben bis jetzt nicht zum Erfolg geführt. In dieser Kontinuität gesehen sind die Waffenlieferungen an die Ukraine nur teilweise eine Neuigkeit. Damit ist die Tradition der angeblich restriktiven Rüstungsexportpolitik nun endgültig kassiert.

Und kommt auch nicht wieder?

Dass man jetzt Waffen in die Ukraine exportiert, heißt ja keinesfalls, dass es falsch war, gegen die Exporte von Rüstung zu sein und zu argumentieren. Es bleibt dabei, dass mit Waffen zugleich die Option für Kriegführung exportiert wird; dass eine Welt, die vollgepumpt ist mit Waffen aus den Industrieländern, immer gefährlicher wird. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass man ein neues Rüstungsexportgesetz nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa etablieren will, womit endlich die Restriktionen auch durchsetzbar seien. Für all das gibt es natürlich zurzeit wenig Grundlage.

Welche Folgen könnte das haben?

Ich habe die Befürchtung, dass der enorme Aufrüstungssprung in der Bundesrepublik Wellen auslöst mit Militarisierungstendenzen in der ganzen Welt und dass eine reale Steigerung von Sicherheit dabei nicht herauskommt. Langfristige Sicherheit ist nur möglich, wenn sich alle Kräfte darauf richten, die internationale Vernetzung – eine strukturelle Basis von Frieden – und den politischen Willen zu Gewaltverzicht miteinander zu verbinden. Es kann ja sein, dass das nicht gelingt, aber dann sähe es übel aus. Das ist die Alternative, die wir haben und die ich sehe: Einerseits eine Militarisierung der Welt, ein neuer kalter Krieg, mit der Gefahr eines realen Krieges, oder wieder Anknüpfung an die vielen positiven Erfahrungen, die wir auch mit der Pazifizierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte gemacht haben.

In Ihrem Buch „Militarismus in Deutschland“ von 2008 haben Sie konstatiert, dass Sie keine breitflächige Militarisierung sehen in der Gesellschaft, dass der „Humus für die Entwicklung eines neuen Militarismus“ noch fehle. Sehen Sie das immer noch so?

Im Moment ist das noch schwer durchschaubar. Ich habe nur in den vergangenen Jahrzehnten beobachtet, dass die Abneigung gegen alles Kriegerische und damit auch die Distanz zum Militär immer mehr gestiegen ist, und das korrespondierte ja mit einer sich verfestigenden pazifistischen Grundeinstellung in der Bevölkerung. Ob sich die Haltung eines großen Teils der Bevölkerung – wir sprechen von 80 Prozent – jetzt durch den Ukrainekrieg geändert hat, ist durch Meinungsumfragen meines Wissens noch nicht ermittelt.

Der Soziologe Harald Welzer scheint zumindest pessimistisch zu sein: Er sieht in einem taz-Interview „einen totalen Rollback“, beklagt Militarisierung von Sprache und womöglich auch von Mentalitäten. Und tatsächlich hat sich die Sprache – in den Medien – ja schon teilweise geändert, hin zu einer gewissen Pathetisierung und Emotionalisierung des Krieg-Führens. Ich kann mich nicht erinnern, dass in der medialen Berichterstattung über frühere Kriege so viele „Helden“ unterwegs waren, dass der Widerstand einer Kriegspartei nicht etwa „hartnäckig“, sondern „heldenhaft“ oder „tapfer“ war. Künden diese sprachlichen Veränderungen schon von einer neuen Militarisierung?

Wir haben ja viel Erfahrung mit den Helden in Deutschland. Hier war der Held über das kriegerische 20. Jahrhundert hinweg keineswegs der, der einen Strauchelnden aus dem Wasser gezogen und ihn damit gerettet hat. Sondern Held war zumeist, wer sich unterwürfig in das militärische Ordnungssystem eingepasst und Krieg geführt hat. Das heißt, für mich ist der Begriff des Helden in Deutschland mit sehr negativen Begleiterscheinungen verknüpft, keinen positiven. Wenn heute der ukrainische Präsident Selenskyj zum „heldenhaften Widerstand“, zur Verteidigung des ukrainischen Vaterlandes aufruft, dann hat das doch eine etwas andere Konnotation. Das sollte man beachten. Aber die Sprache ist immer der Vorbote und Ausdruck dessen, was unter der Zunge liegt.

Bemerkenswert ist auch, dass im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg ein teils sehr sorgloser Umgang mit einigen Begriffen stattfindet: Dass etwa der CDU-Politiker Norbert Röttgen häufig davon spricht, Putin führe einen „Vernichtungskrieg“, auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang hat sich schon so geäußert. Der Begriff wurde ja bislang eher auf Kriege wie den deutschen Überfall auf die Sowjetunion gebraucht.

Das Verwenden dieses Begriffes und anderer Begriffe belegt für mich, dass eine Ent-Historisierung sich Raum greift, dass viele Menschen heute gar nicht mehr wissen, was für einen Charakter der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion hatte. Man weiß wohl, dass es sich um einen deutschen Angriffskrieg handelte. Aber dass es zugleich ein systematischer Vernichtungskrieg war – wobei „Vernichtung“ eben nicht nur die Schäden meint, die durch einen einzelnen militärischen Angriff auf ein Objekt geschehen, sondern eine flächendeckende, planmäßige Vernichtung von Bevölkerung und von Infrastruktur, um auf dem eroberten Gebiet ein neues Herrschaftssystem mit neuen Menschen aufzubauen. Und das nun leichtfertig mit Zerstörungen zum Beispiel von Hochhäusern in der Ukraine in Verbindung zu bringen, ist historisch unzulässig. Jenes Ausmaß an Vernichtungswillen, das vom damaligen nazistisch infizierten Deutschland ausgegangen ist, das haben die russischen Streitkräfte in der Ukraine sicherlich nicht.

Ist das schlicht historische Unkenntnis oder ein bewusst fahrlässiger Gebrauch des Begriffs?

Ich fürchte, das ist Ausfluss eines reaktivierten Feindbilddenkens. Es passt alles in die Schablone: Der aggressive russische Bär im Osten, der uns bedroht, dem alles Böse zuzutrauen ist, diese jahrhundertealte Vorstellung. Außerdem: Wenn man einen Begriff wie „Vernichtungskrieg“ verwendet für das, was aktuell im Ukrainekrieg passiert, dann ist das eine Relativierung und Verharmlosung des deutschen Vernichtungskrieges von 1941 bis 1944. Das ist genauso zu kritisieren, wie wenn etwa ein Gegner der Corona-Maßnahmen sich einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ auf die Jacke klebt und damit verharmlost, was mit dem Judenstern verbunden war. Das ist schon Teil politischer Propaganda, indem man die eigenen Verbrechen verkleinert dadurch, dass man sie mit anderen Verbrechen vergleicht, die aber bei weitem nicht die Dimension oder Intensität aufweisen.

Wie kommt man aus einer Situation wie der jetzigen raus? Wie müsste sich, im Hinblick auf kommende Krisen oder mögliche Eskalationsherde, die Politik verhalten?

Wie es schon immer war im Krieg: Rein kommt man schnell, raus aber ganz schwer.

Ein paar Sachen kann man, glaube ich, als sicher feststellen, über andere kann man nur Vermutungen äußern:

Sicher ist, dass durch die Anwendung von Waffengewalt, wie wir es zurzeit erleben, eine Revitalisierung der ukrainischen Nation stattgefunden hat. Man kann auch sehen, dass der Hass der Bedrohten auf die Angreifer massiv angestiegen, und dass eine dauerhafte Entfremdung von Russland und der Ukraine eingetreten ist, genau das Gegenteil von dem, was sich die russische Führungsspitze – nach allem, was ich weiß – erhofft hat.

Und das sind alles jenseits des Waffenhandwerks langfristig wirksame, negative Erscheinungen, die alle Anstrengungen, Frieden wieder herzustellen, schwieriger machen.

Wenn es zu einer Block-Konfrontation kommen sollte, die militärisch abgestützt ist, wird es darauf hinauslaufen, dass die mit dem Krieg produzierte Verfeindung von Russland und der Ukraine mittelfristigen Bestand hat. Und es ist zurzeit schwer vorstellbar, wie die beiden Kontrahenten eine Brücke zueinander finden sollen.

Das Konzept „Ernstfall Frieden“ bleibt jedoch in Kraft, auch wenn das erforderliche Vertrauen erst ganz allmählich wieder aufzubauen ist. Alles andere verfestigt den Kriegszustand, der weit über die Ukraine hinausgehen kann.

Appell: Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz

Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!

Am 24. Februar überfiel Russland unter Präsident Wladimir Putin die Ukraine. Schon jetzt hat dieser Krieg Tausende Opfer gefordert und Hundert­tausende die Heimat gekostet.

Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Putin trägt die volle Verantwortung für die Toten und die Menschen auf der Flucht. Putins Begründungen für den Krieg sind Lügen und Propaganda.

Wir machen uns große Sorgen über die Zukunft von Frieden und Sicherheit in Europa und der Welt. Diese Angst verbindet uns mit den Hundert­tausenden Menschen, die nach Beginn des Krieges allein in Köln, Berlin, München, Frankfurt, Hamburg und Hunderten anderen Städten auf die Straße gingen und dort ihrer Empörung über Putins Krieg, ihre Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, ihrer Angst vor einer weiteren Eskalation und ihrem Wunsch nach Frieden und Sicherheit Ausdruck verliehen. Mit ihnen gemeinsam haben wir gegen Putins Krieg und für Frieden demonstriert.

Diese Demonstrationen waren die größten Friedens­demonstrationen seit den Protesten gegen den Irakkrieg im Jahr 2003. Noch am selben Tag, an dem in Berlin die Menschen gegen den Krieg auf die Straße gingen, präsentierte die Bundesregierung mit Unterstützung der CDU/CSU ein Maßnahmen­paket, das die größte Aufrüstung Deutschlands seit Ende des Zweiten Weltkriegs vorsieht. Eine massive Hochrüstung der Bundeswehr hilft den Menschen in der Ukraine nicht. Die neu anzuschaffenden Waffen werden die Ukrainer:innen in ihrem Kampf und Recht auf Selbstverteidigung nicht unterstützen.

Schon jetzt übersteigen die »Verteidigungs­ausgaben« aller 30 NATO-Staaten die russischen um fast das Zwanzigfache. Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfflugzeugen und bewaffnungsfähigen Drohnen als Abschreckung unter atomaren Militär­blöcken ist sinnlos. Die NATO-Länder und auch Deutschland haben schon vor 2014, das heißt lange bevor es den Ukraine­konflikt gab, begonnen, ihre Rüstungs­ausgaben deutlich zu steigern. Teile der Hochrüstungs­pläne finden sich schon im Koalitions­vertrag, weit vor den ersten Warnungen vor einer bevorstehenden russischen Invasion. Dieser Krieg und die fürchterlichen Bilder der Toten und Zerstörungen in der Ukraine können jedoch eine radikale Kursänderung in der deutschen Außenpolitik und die höchste Steigerung der deutschen Rüstungs­ausgaben seit dem Zweiten Weltkrieg – gar durch eine Grundgesetz­änderung – nicht rechtfertigen.

Eine solche Wende der deutschen Außenpolitik um 180 Grad, mit entsprechend dramatischen Folgen auch für die Innenpolitik – für den Sozialstaat, für Liberalität und Mitmensch­lichkeit – ganz ohne breite gesellschaftliche Debatte, ohne parlamentarische, ja sogar ganz ohne inner­parteiliche Debatte zu beschließen, wäre ein demokratiepolitischer Skandal.

Zusätzlich zu den bisherigen 49 Milliarden Rüstungs­ausgaben im Haushalt 2022 sollen noch in diesem Jahr 100 Milliarden als Sondervermögen eingestellt werden, das der Bundeswehr über mehrere Jahre zur Verfügung stehen soll. Diese Summe entspricht den Ausgaben mehrerer Bundesministerien, darunter so wichtige Ressorts wie Gesundheit (16,03 Mrd.), Bildung und Forschung (19,36 Mrd.), Innen, Bau und Heimat (18,52 Mrd.), Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12,16 Mrd.), Wirtschaft und Energie (9,81 Mrd.), Umwelt (2,7 Mrd.), Zusammenarbeit und Entwicklung (10,8 Mrd.) sowie Ernährung und Land­wirtschaft (6,98 Mrd.).

Zukünftig sollen dann dauerhaft 2% des Brutto­inlands­produkts für Rüstung ausgeben werden. Damit würden diese Ausgaben auf deutlich über 70 Milliarden Euro jährlich steigen. Gleichzeitig will die Bundes­regierung an der „Schulden­bremse“ festhalten, was langfristig die Frage unserer demokratischen Prioritäten aufwirft und die Gefahr massiver Kürzungen im sozialen, im kulturellen, im öffentlichen Bereich mit sich bringt. Diese politische Weichenstellung zusätzlich mit einer Grundgesetz­verankerung auch für zukünftige Regierungen verpflichtend zu machen, lehnen wir im Namen der Demokratie ab. Nicht Hochrüstung, sondern Sicherheit und soziale Gerechtigkeit sind Auftrag des Grundgesetzes.

Wir fordern statt Entscheidungen, die quasi über Nacht und im kleinsten Kreis getroffen werden, die breite demokratische Diskussion über ein umfassendes Sicherheits­konzept, das die Sicherheit vor militärischen Angriffen genauso einschließt wie pandemische und ökologische Aspekte und dem das Konzept der Einheit von Sicherheit und gemeinsamer Entwicklung zugrunde liegt.

Wir sind konfrontiert mit Krieg und unendlichem Leid, mit Flucht, mit Armut und sozialer Unsicherheit, mit einer globalen Pandemie, die aufgezeigt hat, wie unsere Gesundheitssysteme auf Kante genäht sind, mit einer öffentlichen Infrastruktur, deren jahrzehnte­lange Vernachlässigung uns heute teuer zu stehen kommt, einer Kulturszene, die auf dem Zahnfleisch geht, und mit einer Klima­katastrophe, die genauso wenig vor Staats­grenzen Halt macht und immense Investitionen in Zukunfts­technologien und soziale Abfederung erforderlich macht.

Die auf Jahrzehnte geplante Hochrüstung beendet das Sterben in der Ukraine nicht, macht unsere Welt nicht friedlicher und nicht sicherer. Wir können sie uns im Namen der Zukunft nicht leisten.

22. März 2022

Der Appell: Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz

Initiator*innen

  • Jan Dieren, (SPD, Mitglied des Deutschen Bundestags)
  • Klaus Dörre, (Soziologe, Universität Jena)
  • Julia Schramm, (Autorin und Mitglied des Bundesvorstands von DIE LINKE)
  • Ingar Solty, (Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung)
  • Andrea Ypsilanti, (SPD-Mitglied, Sprecherin Institut Solidarische Moderne)

Organisationen

  • Attac
  • Bundesweite Vernetzung der TVStud-Bewegung
  • DIDF (Föderation demokratischer Arbeitervereine)
  • Die Falken
  • Eltern gegen Krieg und Aufrüstung
  • European Alternatives
  • FAIRstrickt – Initiative für faire Textilien
  • Forum Demokratische Linke 21
  • Humanistische Union
  • Institut Solidarische Moderne (ISM)
  • Jusos Bayern
  • Kairos Europa e.V.
  • medico international
  • Naturfreunde
  • Naturfreundejugend
  • Verein demokratischer Ärzt*innen

Erstunterzeichner*innen (Auswahl)

  • Hartmut Rosa, Soziologe, Professur allgemeine und theoretische Soziologie Universität Jena
  • Stephan Lessenich, Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung und Direktor des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt/M.
  • Ulrich Brand, Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien
  • Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler, Köln
  • Frank Deppe, Philipps-Universität Marburg
  • Erdmut Wizisla, Leiter des Bertolt Brecht-Archivs und Walter Benjamin-Archivs in der Akademie der Künste
  • Margot Käßmann, Evangelische Theologin
  • Andreas Lob-Hüdepohl, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Mitglied des Deutschen Ethikrates
  • Heino Falcke
  • Gabriele Schmidt, Landesbezirksleiterin ver.di NRW
  • Hans-Jürgen Urban, geschäftsführender Vorstand der IGM
  • Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender und Vorstandsmitglied für Hochschule und Forschung der GEW
  • Jürgen Peters, Gewerkschafter
  • Annelie Buntenbach, Gewerkschafterin (IG BAU/DGB) und ehem. MdB Bündnis 90/Die Grünen
  • Wolfgang Däubler, Arbeitsrechtler, Universität Bremen
  • Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen
  • Sarah-Lee Heinrich, Bundessprecherin Grüne Jugend
  • Timon Dzienus, Bundessprecher Grüne Jugend
  • Maximilian Becker, Aktivist für Klimagerechtigkeit
  • Dierk Hirschel, DL21 in der SPD
  • Şeyda Kurt, Autor*in, Berlin/Köln
  • Hilde Matheis, SPD
  • Gregor Gysi, Mitglied des deutschen Bundestag, Die Linke
  • Dagmar Enkelmann, Vorstandsvorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung
  • Jakob Augstein, Journalist und Verleger
  • Max Uthoff, Kabarettist
  • Volker Lösch, Regisseur, Berlin
  • Milo Rau, Regisseur und Autor
  • Christoph Hochhäusler, Regisseur und Autor
  • Corinna Harfouch, Schauspielerin
  • Katja Riemann, Schauspielerin
  • Robert Stadlober, Schauspieler
  • Annette Frier, Schauspielerin
  • Kathrin Röggla, Schriftstellerin
  • Eugen Ruge, Schriftsteller
  • Michael Wildenhain, Schriftsteller
  • Franziska Drohsel, SPD, ehem. Juso-Vorsitzende 2007-2010
  • Max Czollek, Lyriker
  • Sasha Marianna Salzmann, Schriftstellerin
  • Christian Baron, Schriftsteller und Journalist
  • Thorsten Nagelschmidt, Schriftsteller und Musiker
  • Jörg Sundermeier, Verleger
  • Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin, Philosophie Magazin
  • Natascha Strobl, Rechtsextremismusforscherin und Autorin
  • Wolfgang M. Schmitt, Youtuber und Podcaster
  • Sebastian Hotz, Humorist
  • Bela B., Musiker, Die Ärzte
  • Konstantin Wecker, Musiker
  • Torsten Scholz, Musiker, Beatsteaks
  • Sebastian Krumbiegel, Musiker, Die Prinzen
  • Sookee, Musikerin und Aktivistin
  • Ravi Ahuja, Professor für moderne indische Geschichte, Göttingen
  • Evelyn Annuß, Gender Studies, Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien
  • Michelle Becka, Sozialethikerin an der Theologischen Fakultät der Universität Würzburg
  • Julia Becker, Osnabrück
  • Daniel Bendix, Theologische Hochschule Friedensau
  • Veronika Bennholdt-Thomsen, Sozialanthropologin, Institut für Landschaftsplanung, Boku, Wien
  • Andreas Bieler, Professor für Politische Ökonomie und Fellow am Centre for the Study of Social and Global Justice an der School of Politics and International Relations der University of Nottingham, UK
  • Hans-Jürgen Bieling, Professur für Politik und Wirtschaft/Politische Ökonomie, Institut für Politikwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen
  • Manuela Bojadžijev, Humboldt Universität Berlin
  • Stefan Borrmann, Vertrauensdozent der Hans Böckler Stiftung
  • Kathrin Braun, Forschungskoordinatorin, Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung, Universität Stuttgart
  • Sabeth Buchmann, Kunstgeschichte der Moderne und Nachmoderne, Institut für Kunst- und Kulturwissenschaft, Akademie der bildenden Künste, Wien
  • Oliver Christ, Osnabrück
  • Danica Dakic-Trogemann, Leiterin MFA-Studiengang/Bauhaus-Universität Weimar
  • Ute Daniel, Neuere und Neueste Geschichte, TU Braunschweig
  • Ulrich Duchrow, Evangelischer Theologe, Heidelberg
  • Andreas Fisahn, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Bielefeld
  • Ehrenfried Galander
  • Mechtild Gomolla, Erziehungswissenschaft – Interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg
  • Sigrid Graumann, Rektorin, Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe und Mitglied des Deutschen Ethikrats
  • Rüdiger Hachtmann, Historiker
  • Susanne Heeg, Institut für Humangeographie, Universität Frankfurt
  • Josef Held, apl. Prof. am Institut für Erziehungswissenschaften, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
  • Sabine Hess, Direktorin des Göttingen Centers for Global Migration Studies
  • Marianne Hirschberg, Professorin für Behinderung, Inklusion und soziale Teilhabe, Universität Kassel
  • Uwe Hirschfeld, Dresden
  • Stefanie Hürtgen, Associate Professor, Universität Salzburg, Permanent Fellow am Frankfurter Institut für Sozialforschung
  • Melanie Jaeger-Erben, Professorin für Technik- und Umweltsoziologie, BTU Cottbus-Senftenberg
  • Annemarie Jost, Professorin für Sozialpsychiatrie, BTU Cottbus-Senftenberg
  • Juliane Karakayali, Evangelische Hochschule Berlin
  • Fabian Kessl, Bergische Universität Wuppertal
  • Mario Kessler, Historiker
  • Clemens Knobloch, Linguist, Prof. em., Universität Siegen
  • Caroline Kramer, Humangeographin, Karlsruher Institut für Technologie
  • Matthias Kreck, Hochschullehrer
  • Bettina Lösch, Universität Köln
  • Daniel Loick, Universität Amsterdam
  • Isabell Lorey, Kunsthochschule für Medien Köln
  • Birgit Mahnkopf, Professorin für Europäische Politik im Ruhestand
  • Nicole Mayer-Ahuja, Soziologin, Universität Göttingen
  • Wolfgang Menz, Soziologe, Universität Hamburg
  • Morus Markard, Berlin
  • Oliver Nachtwey, Departement Gesellschaftswissenschaften, Universität Basel
  • Martina Neuburger, Geografisches Institut, Universität Hamburg
  • Sarah Nies, Institut für Soziologie, Georg-August-Universität Göttingen
  • Rolf Nobel, Prof. em. für Fotografie, Hochschule Hannover
  • Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung, Offenbach am Main
  • Jörg Reitzig, Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen
  • Steffi Richter, Universität Leipzig
  • Rainer Rilling, apl. Professor für Soziologie, Philipps-Universität Marburg
  • Katharina Sass, Ph.D., Associate Professor, Department of Sociology, University of Bergen
  • Dieter Sauer, Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V., München
  • Barbara Schäuble, Hochschullehrerin Berlin
  • Albert Scherr, Soziologe, Pädagogische Hochschule Freiburg
  • Ingo Schmidt, Direktor des Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada
  • Helen Schwenken, Osnabrück, Direktorin des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück
  • Franz Segbers, Sozialethiker, Konstanz
  • Christian Steiner, Fachsprecher Geographie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
  • Heinz Sünker, Institute for Peace Analysis and Developing Democracy (IPAADD), Wuppertal
  • Uwe Vormbusch, Soziologie II: Soziologische Gegenwartsdiagnosen, FernUniversität in Hagen
  • Felix Wemheuer, Universität zu Köln
  • Markus Wissen, Professor für Gesellschaftswissenschaften mit dem Schwerpunkt sozial-ökologische Transformationsprozesse, Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin

Geheime Milliardendeals: Schweizer Rohstoffhandel füllt Putins Kriegskasse

THEMEN / Wirtschaft

Quelle: Deutsche Welle (DW)

Wie Putin den Krieg finanziert

Geheime Milliardendeals: Schweizer Rohstoffhandel füllt Putins Kriegskasse

Der Krieg in der Ukraine bringt ein Schweizer Geschäftsmodell ins Blickfeld, das auf dem Prinzip des „Wegschauens“ basiert. Den Rohstoffhandel. Mit ihm werden Milliarden umgesetzt – woran auch Russland verdient.

Die Schweiz ist dafür bekannt, ein wichtiges Finanzzentrum zu sein. Weniger im Blickpunkt, aber viel bedeutender ist jedoch der Rohstoffhandel. Gerade die Schweiz – ein Land fernab großer Handelsrouten, ohne Zugang zum Meer, ohne ehemalige Kolonialgebiete und ohne nennenswerte eigene Rohstoffe – ist eines der weltweit wichtigsten Handelszentren für Rohstoffe. „Die Branche hat in der Schweiz deutlich mehr Anteil am Bruttoinlandsprodukt als der Tourismus oder die Maschinenindustrie,“ sagt Oliver Classen von der Nichtregierungsorganisation Public Eye.

Ganz im Verborgenen werden hier gewaltige Umsätze gemacht. Das über die Schweiz abgewickelte Handelsvolumen wird auf knapp 1000 Milliarden Dollar geschätzt, so ein Bericht der Regierung in Bern von 2018. Die fünf nach Umsatz größten Schweizer Firmen sind nicht Banken oder Pharmafirmen, sondern Rohstoffhändler. Die meisten der 900 Unternehmen, die im Rohstoffhandel aktiv sind, sitzen in Genf, Zug oder Lugano.

Russische Rohstoffe werden über die Schweiz gehandelt

Rund ein Drittel des weltweit gehandelten Erdöls wird in Genf ge- und verkauft. Ebenso werden in der Schweiz zwei Drittel des weltweiten Handels mit sogenannten unedlen Metallen wie Zink, Kupfer oder Aluminium und zwei Drittel des international gehandelten Getreides abgewickelt. Davon profitiert auch Russland. Etwa 80 Prozent der russischen Rohstoffe werden über die Schweiz vertrieben, so ein Bericht der Schweizer Botschaft in Moskau. Damit fließt auch russisches Öl und Gas quasi über Schweizer Schreibtische.

Die Öl- und Gasexporte sind die Haupteinnahmequelle Putins. Sie machen zwischen 30 und 40 Prozent des russischen Staatshaushalts aus. Allein mit Ölexporten haben russische Staatskonzerne 2021 rund 180 Milliarden Dollar verdient. Geld, dass nun in den Krieg fließen kann.

Die Schweizer Rohstoffhändler würden weiterhin wegschauen, was der russische Staat mit diesem Geld macht, beklagte Angela Mattli von der Nichtregierungsorganisation Public Eye in einer Rede anlässlich der Friedensdemo in Bern. Und das „ganz legal im Rahmen der Schweizer Gesetzgebung, deren Lücken für Rohstoffhändler sperrangelweit offenstehen.“

Auch in der Politik regt sich Kritik. „Die Schweiz muss jetzt der russischen Kriegsfinanzierung den Hahn zudrehen“, fordert Cedric Wermuth von den Schweizer Sozialdemokraten, im Rundfunk SRF. Sie halte wirkungsvollste Hebel in der Hand – den Rohstoffhandel und die Vermögen der reichen Russen. Bislang betreffen die Sanktionen der EU und der USA aber nicht den Handel mit Rohstoffen, auch wenn die USA selbst inzwischen kein russisches Öl mehr importieren wollen.

Die Schweiz pflegt geschichtstreu ihren Neutralitätsstatus und erlässt nicht eigenmächtig Sanktionen. Nach dem Schweizer Embargogesetz schließt sie sich nur Sanktionen anderer an. Das heißt, es passiert nur etwas, wenn Haupthandelspartner oder der UN-Sicherheitsrat wirtschaftliche Einschränkungen beschließen.

Zudem fasst die Schweiz ihr goldenes Kalb, den Rohstoffhandel, bislang mit Samthandschuhen an.Auch in der Schweiz wird gegen Putin demonstriert. Bislang wird der Rohstoffhandel aber nicht angetastet und er gewinnt an Bedeutung. Allein in den Jahren 2003 bis 2011 haben sich die Nettoerträge aus dem Schweizer Rohstoffhandels von 2 auf 20 Milliarden Schweizer Franken verzehnfacht.

Finanzplatz ist die Basis des Rohstoff-Handelsplatzes

Dazu muss man wissen, dass Rohstoffe oft direkt zwischen Regierungen gehandelt werden und über Rohstoffbörsen. Außerdem werden sie im freien Handel vertrieben. Auf diesen Direktverkauf haben sich die Unternehmen in der Schweiz spezialisiert. Ein wichtiger Grund: Hier gibt es genug vom wichtigsten Rohstoff für den Rohstoffhandel: Kapital.

Allein für eine Tankerladung Rohöl müssen je nach aktuellem Preis schnell mal 100 Millionen Dollar aufgebracht werden. Geld, dass Unternehmen nicht in der Portokasse haben. Die richtigen Finanzierungsinstrumente für solche Geschäfte wurden in der Schweiz entwickelt.

Häufig werden dabei sogenannte Akkreditive genutzt. Dabei gibt die Bank dem Händler einen Kredit und bekommt als Sicherheit ein Dokument, mit dem sie zum Inhaber der Ware wird. Sobald der Käufer die Rohstoffe bei der Bank bezahlt hat, wird ihm im Gegenzug dieses Dokument und damit der Besitz an den Rohstoffen übergeben. Dadurch hat der Händler einen großen Kreditrahmen, ohne auf Kreditwürdigkeit geprüft zu werden – und die Bank hat als Sicherheit den Warenwert.

Kaum jemand weiß Genaues

Es handelt sich um einen sogenannten Transithandel, bei dem nur das Geld über die Schweiz fließt. Die gehandelten Rohstoffe berühren in der Regel nie Eidgenössischen Boden, sondern gehen vom Herkunftsland direkt ins Empfängerland. Entsprechend landen keine Informationen über den Umfang des Handels bei der Schweizer Zollverwaltung. Lediglich die Schweizerische Nationalbank veröffentlicht einige Daten, die aber den Rohstofffluss nicht genau erfassen. Damit ist nur eines klar: Alles ist unklar.

„Der ganze Rohstoffhandel ist untererfasst und unterreguliert,“ sagt Elisabeth Bürgi Bonanomi von der Universität in Bern. „Sie müssen sich Daten ziemlich zusammensuchen, und nicht alle Informationen sind erhältlich.“ Wer kauft von wem welche Rohstoffe zu welchen Preisen – das bleibt somit im Dunkeln. Auch die Eigentümer der nicht börsennotierten Rohstoffhändler in der Schweiz sind meist nicht bekannt. Sie befinden sich, abgesehen von der börsennotierten Glencore, alle in privater Hand. „Da gibt es eine ganze Reihe von Firmen, die unter dem Radar der Behörden fliegen und deren eigentliche Nutznießer nicht bekannt sind, weil sie beispielsweise in undurchsichtigen Offshore-Holdings verwaltet werden“, sagt Classen. Eine gute Investitionsmöglichkeit also auch für russische Oligarchen.

Ohne Regulierung laufen schmutzige Geschäfte leichter

Die mangelnde Regulierung ist für Rohstoffhändler sehr reizvoll – zumal viele Rohstoffe in nicht-demokratischen Ländern abgebaut werden. „Im Unterschied zum Finanzmarkt, wo Regeln bestehen zur Bekämpfung von Geldwäsche, zur Bekämpfung von illegalen oder illegitimen Finanzflüssen und eine Finanzmarktaufsichtsbehörde existiert, gibt es das für den Rohstoffhandel aktuell nicht“, sagte David Mühlemann von Public Eye gegenüber der ARD.

„Es braucht eine Regulierung des Rohstoffhandels. Man braucht Transparenz über die Zahlungen von Rohstoffhändlern an Regierungen, insbesondere an autokratische Regime, die diese Gelder in ihre eigenen Taschen umleiten oder im schlimmsten Fall auch Kriege finanzieren“, so Mühlemann. „Dabei geht es nicht nur um Russland.“ Die Rohstoffhändler seien inzwischen auch häufig Kreditgeber für ganze Länder, erklärt Oliver Classen von Public Eye. So habe beispielsweise Glencore dem Tschad über eine Milliarde Dollar als Kreditlinie gegeben und dafür den Zugriff auf deren Rohöl-Vorkommen bekommen.

Reicht die Finanzmarktaufsicht?

Obwohl der Schweizer Bundesrat das Problem anerkennt, vertraut er weiterhin auf eine indirekte Aufsicht der Rohstoffhändler durch die Banken selbst,“ heißt es bei Amnesty International. Diese seien jedoch nicht verpflichtet, sich dafür zu interessieren, mit wem ihre Kunden Geschäfte machen – wohin ihr Geld also letztendlich geht. „Der Regierung scheint das auszureichen. In ihren Augen besteht keine Notwendigkeit für ein Rohstoffgesetz oder eine spezielle Aufsichtsbehörde.“

Die Nichtregierungsorganisation Public Eye fordert schon seit Jahren, dass in der Schweiz eine Rohstoffmarktaufsicht eingeführt werden müsse – eine unabhängige Behörde nach dem Vorbild der Finanzmarktaufsicht. Vor Jahren hatten die Schweizer Grünen eine Regulierung des Rohstoffhandels angestoßen, die 2015 im Schweizer Parlament scheiterte. Nun wollen sie erneut vorschlagen, dass es eine entsprechende Regulierungsbehörde eingerichtet wird.

Thomas Matterm, für die Schweizerische Volkspartei (SVP) im Nationalrat, pocht dagegen auf die Neutralität der Schweiz und äußert sich gegen eine neue Aufsichtsbehörde: „Wir brauchen nicht noch mehr Regulierung, auch nicht im Rohstoffbereich.“

Solange aber in der Politik diskutiert wird und andere westlichen Länder nicht den Handel mit Rohstoffen sanktionieren, so lange können Schweizer Rohstoffhändler weiter mit russischen Rohstoffen verdienen und Putins Kriegskasse auffüllen.

Russische Bomben, ukrainische Nadelstiche

Quelle: ORF https://orf.at/stories/3254407/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

  1. März 2022, 20.09 Uhr

Russische Bomben, ukrainische Nadelstiche

Mit unverminderter Härte setzt Russland bei seinem Angriffskrieg auf die Ukraine den Beschuss von Städten wie Mariupol, Charkiv und Kiew fort. Noch können die ukrainischen Truppen die Städte verteidigen – und im Gegenzug mit „Nadelstichen“ der russischen Armee schwere Schäden zufügen. Gleich fünf russische Generäle sind laut übereinstimmenden Medienberichten seit Kriegsbeginn gefallen.

Laut international übereinstimmenden Medienberichten wurde am Samstag Generalleutnant Andrej Mordwitschew Kommandant der 8. Armee, getötet. Schon zuvor fielen Witali Gerasimow (44), Stabschef der 41. Armee aus Nowosibirsk, Andrej Suchowetzki (47), Vizechef dieser Armee, Andrej Kolesnikow (45), Chef der 29. Armee aus Chita, und Oleg Mitjajew (48), Chef der 150. Schützendivision der 8. Gardearmee aus Nowotscherkassk.

Dazu kommt wohl auch der tschetschenische General Magomed Tuschajew, der bereits in den ersten Kriegstagen mit einer Spezialtruppe nahe dem Flughafen Hostomel bei Kiew, von ukrainischen Kräften gestellt und getötet wurde. Die tschetschenische Führung behauptet allerdings, Tuschajew sei am Leben.

Kommunikationsprobleme und gezielte Angriffe

Die Experten des österreichischen Bundesheeres sehen dafür mehrere Ursachen. „Aufgrund der Aufklärungsunterstützung durch die NATO, speziell durch die USA, kann davon ausgegangen werden, dass die ukrainischen Streitkräfte in der Lage sind, die Hauptquartiere hoher russischer Kommanden immer wieder gezielt anzugreifen“, sagte Oberst Markus Reisner.

„Dies ist in einem Fall dokumentiert“, so der Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie. „Dazu kommt, dass die russischen Kräfte offensichtlich unter Kommunikationsproblemen leiden. Dies führt dazu, dass sich die Kommandanten mit ihren beweglichen Gefechtsständen nahe an die vordersten Frontlinien bewegen. Hier können sie bei mangelnder Eigensicherung aber Ziel von Scharfschützen werden. Auch dies ist in zumindest einem Fall belegt.“

Zentralistische Kommandostruktur

Die Todesumstände sind oft unklar, schreibt die „Presse“. Ein Scharfschütze soll Suchowetzki getötet haben, Mitjajew soll bei Mariupol in einen Hinterhalt geraten sein, von seinem Körper zirkulieren Bilder. In mindestens einem Fall war Artillerie oder eine Drohne im Einsatz. „Die direkte Präsenz kann allerdings auch andeuten, dass die Truppe angeschlagen ist und eine moralische Stärkung wirklich benötigt“, schreibt die „Presse“. Bei Kriegsbeginn ging man von 20 Generälen der Russen in der Ukraine aus. Die US-Armee verlor in den vergangenen 50 Jahren einen General, das war 2014 in Kabul. Internationale Militärexperten sehen auch noch einen anderen Grund, der generell das Kriegsgeschehen beeinflusse: Die russische Kommandostruktur sei extrem zentralistisch – und damit auch starr. Die ukrainische Militärführung würde hingegen lokalen Kommandanten mehr Entscheidungsfreiheiten geben – und damit sei man recht erfolgreich.

Kleine Kampftrupps

Die Tugend der ukrainischen Truppen stammt freilich aus einer Not heraus: An Gerätschaft ist man den russischen Truppen weit unterlegen. So müsse man sich einerseits gegen schwere Artilleriebeschüsse auf die Städte und an den Frontlinien stemmen, für Gegenangriffe setzt man aber auf eine Strategie der Nadelstiche: In kleinen Trupps wird mit entsprechenden Waffen, die man zur Verfügung hat, angegriffen – und das recht effektiv. Auch gezielte Schläge gegen Nachschubrouten sorgen laut Experten dafür, dass sich die Frontlinien in den vergangenen Tagen kaum verändert haben, Russland also kaum weiterkommt.

Laut Schätzung 7.000 Russen gefallen

US-Schätzungen gehen laut „New York Times“ davon aus, dass bereits mehr als 7.000 Soldaten aus Russland in der Ukraine getötet wurden. Dabei handle es sich um vorsichtige Schätzungen, andere liegen noch darüber. So sind es ukrainischen Angaben zufolge bisher etwa 14.400 Tote aufseiten Moskaus. Selbst wenn man von der vergleichsweise niedrigeren US-Angabe ausgehe, seien die Zahlen erschreckend, so die „New York Times“. Laut ukrainischen Angaben antwortete Moskau bisher auch nicht auf Anfragen via Rotem Kreuz, die Leichen von russischen Soldaten zu übernehmen. Getötete Soldaten sind nicht nur militärisch ein Problem. In vergangenen Kriegen hatten trauernde Mütter und Partnerinnen von gefallenen Soldaten in Russland mit ihren Vorwürfen viel Aufsehen erregt – und das bei Kriegen mit weit weniger Toten. Für die Kreml-Propaganda könnte das noch zu einem ernsthaften Problem werden.

Hohe Verluste auch bei Material

Die Zahl der Verwundeten und Gefangenen dürfte nach Erfahrungswerten mindestens viermal so hoch sein. Dann wären mindestens 20.000 Mann ausgefallen, vielleicht sogar 30.000 – von derzeit rund 200.000 russischen Soldaten und Separatisten in dem Land. Die Ukraine verkündete auch, bereits erste Lager für russische Kriegsgefangene zu errichten und sich dabei an internationales humanitäres Recht zu halten. Das US-Verteidigungsministerium schätzte, dass die russischen Streitkräfte gut zehn Prozent ihrer Kampfkraft eingebüßt hätten. In Geheimdienstkreisen heißt es, dass sie das wegstecken könnten.

Nachschub offenbar auf dem Weg

Das Blog Oryx, hinter dem ein niederländischer Militäranalyst steht, versucht auf Basis von Fotos und Videos, die in sozialen Netzwerken geteilt werden, den Verlust an Kriegsmaterial zu beziffern. Laut Oryx verlor Russland bisher (Stand Samstag) insgesamt 1.500 Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Waffensysteme, Transporter und auch Flugzeuge und Helikopter. Auf ukrainischer Seite zählte man knapp 400. Oryx zählt nur durch Bilder und Recherchen bereits belegte Verluste und räumt ein, dass diese weit höher sein könnten. In sozialen Netzwerken kursieren allerdings bereits Bilder von Militärkonvois in Russland, die wohl als Verstärkung für die kämpfenden Truppen gedacht sind. Und bereits länger wird berichtet, dass das Regime von Baschar al-Assad in Syrien Tausende Soldaten zur Verfügung stellt. Diese sollen vor allem bereits eroberte Gebiete sichern. Noch wurde allerdings keine Truppenverlegung beobachtet.

Kampfmoral der russischen Truppen sinkt

Moskau selbst veröffentlichte Opferzahlen bisher nur zögerlich. Am 2. März gab der Kreml zum ersten und bis dato letzten Mal offizielle Zahlen von Opfern an. Laut russischem Verteidigungsministerium wurden 498 russische Soldaten getötet. Zudem seien 1.597 weitere verletzt worden. Wie die „New York Times“ unter Berufung auf nicht namentlich genannte Beamte schrieb, gehen die geschätzten Zahlen zurück auf Analysen von Medienberichten, Satellitenbildern, Videomaterial sowie Angaben aus Russland und der Ukraine.

Debatte

Ukraine-Krieg: Wie machtlos ist der Westen?

Für die Truppen, so hieß es laut „New York Times“ von einem hochrangigen Beamten aus dem Pentagon, könnten die hohen Verluste zum Problem werden. Es gebe Hinweise auf eine nachlassende Kampfmoral. Die Hinweise benannte der Beamte nicht. Als Gründe würden mangelhafte Führung, kaum Informationen über Sinn und Zweck des Einsatzes und der unerwartet heftige Widerstand angenommen. Dabei gehe es allerdings um die Bodentruppen.

Keine Luftüberlegenheit

Das könnte auch eine der Erklärungen sein, warum Russlands Streitmacht außerhalb von Kiew weitgehend ins Stocken geraten ist. Auch nach drei Wochen haben die russischen Invasoren die ukrainische Hauptstadt nicht eingekesselt. Und auch an vielen anderen Orten im Land halten die ukrainischen Streitkräfte der russischen Armee bisher stand. Selbst die Lufthoheit haben die russischen Streitkräfte nach wie vor nicht errungen.

Probleme bei Truppenversorgung

Nach Einschätzung der britischen Geheimdienste hat Moskau Probleme, die eigenen Truppen mit Lebensmitteln und Benzin zu versorgen. Dass Russland keine Kontrolle über den Luftraum habe und sich kaum über unbefestigtes Gelände bewege, verhindere, dass die russische Armee effektiv mit dem Nötigsten versorgt werden könne, hieß es am Freitag in einem Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums.

Die Gegenangriffe ukrainischer Kräfte zwängen Russland dazu, viele Soldaten dafür einzusetzen, ihre eigenen Versorgungswege zu verteidigen. Das schwäche die russische Kampfkraft deutlich, hieß es. In den vergangenen Tagen hat Russland seine Luftangriffe in der Ukraine zunehmend verschärft. Damit, so hieß es aus dem Pentagon, könnte Russlands Präsident Wladimir Putin versuchen, die schlechte Leistung seines Militärs auf dem Boden auszugleichen.

Schwenk auf Plan B

Die ursprünglichen Kriegsziele seien durch die ukrainischen Kräfte rasch unterbunden worden, sagte der Strategieexperte des österreichischen Bundesheeres, Philipp Eder, am Freitag im Ö1-Mittagsjournal. „Die Masse des Landes ist nach wie vor unbestritten nicht in russischer Hand“, so Eder. Die russische Armee sei nach wie vor schlagkräftig, sie müsse nun aber umplanen, „um einen Abnützungskrieg erfolgreich führen zu können“. Auf dem Gefechtsfeld passiere derzeit sehr viel, und es werde blutig gekämpft. Solange keine Zielsetzung erreicht ist, ist Putin nach Eders Einschätzung auch nicht zu Friedensgesprächen bereit. „Das wird noch ein langer Prozess werden.“

Kiew hält sich bedeckt

Über ukrainische Verluste und Truppenstärken ist viel weniger bekannt ist als über russische. Die ukrainische Armee hatte sich bisher bei Angaben zu Verlusten in den eigenen Reihen bedeckt gehalten und lediglich die Zahl angeblich getöteter russischer Soldaten genannt. Zuletzt gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski die Zahl der in den eigenen Reihen getöteten Soldaten mit 1.300 an. Der britische Geheimdienst schätzt die Zahl auf 3.000, andere Schätzungen liegen zwischen 2.000 und 4.000.

Viele zivile Opfer

Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf dokumentierte am Freitag den Tod von 816 Zivilpersonen seit dem Einmarsch russischer Truppen. Dem Büro lagen zudem verifizierte Informationen über 1.333 Verletzte vor. Die meisten Opfer seien wegen schweren Artillerie- und Raketenbeschusses zu beklagen gewesen. UNO-Funktionäre gehen aber von einer weit höheren Opferzahl in der Ukraine aus. Hintergrund sei, dass Informationen mit Verzögerung eingingen und viele Berichte noch bestätigt werden müssten.

Reuters/Ukraine State Emergency Service Reste eines abgeschossenen russischen Kampfjets in Tschernihiw

Nach Angaben aus der Ukraine liegt die Zahl der getöteten Zivilisten deutlich höher. Allein in der belagerten südostukrainischen Hafenstadt Mariupol sind ukrainischen Angaben zufolge bisher weit mehr als 2.000 Zivilisten getötet worden. Angaben des UNO-Nothilfebüros (OCHA) zufolge hätten Hunderttausende Menschen zudem durch Kriegsschäden keinen Zugang mehr zu Strom oder Wasser. Auch die Opferzahlen in kleinen Dörfern sind derzeit kaum abzuschätzen.

Links:

Sanktionen gegen Russland: Massiv, aber nicht immer wirksam

Quelle: Tagesschau

Sanktionen gegen Russland: Massiv, aber nicht immer wirksam

Klaus-Rainer Jackisch, hr

14.03.2022

Noch nie hat der Westen derart scharfe Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt wie jetzt. Die dortige Bevölkerung spürt die Folgen deutlich. Dennoch sind einige Maßnahmen nicht so wirkungsvoll, wie sie zunächst scheinen.

Die Farbe war noch nicht trocken, die Reparaturarbeiten nicht abgeschlossen, die Handwerker noch halb an Bord, da raste die 87 Millionen Euro teure Jacht „Graceful“ die Elbe hinauf. Mit hoher Geschwindigkeit verschwand sie über Nord- und Ostsee schnell in die russische Enklave Kaliningrad am Frischen Haff. „Graceful“ heißt das Nobel-Schiff von Wladimir Putin, das längere Zeit bei der Hamburger Werft Blohm + Voss überholt wurde. Kurz vor dem Angriff auf die Ukraine ließ Putin die Jacht in Sicherheit bringen.

Italien und Frankreich fackeln nicht lange

Das versuchten auch zahlreiche russische Oligarchen mit ihren Schiffen – und waren damit recht erfolgreich. Macht und Reichtum mit Luxus zur Schau zu stellen, erfüllt viele russische Geschäftsleute mit Stolz. Selbst wertvollste Gemälde von Monet, die eigentlich ins Museum gehören, schippern so auf russischen Jachten über die Weltmeere.

Während sich die Hamburger Behörden schwer damit taten, nach Verhängung der westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland auch weitere Schiffe in den dortigen Werften zu konfiszieren, fackelten italienische und französische Behörden nicht lange: Sie griffen sofort durch und beschlagnahmten zahlreiche glitzernden Prunk-Schiffe russischer Oligarchen entlang der gesamten Riviera und Côte d’Azur.

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Die Vermögen russischer Oligarchen sollen eingefroren werden. In Deutschland ist aber bislang wenig passiert.

Bevölkerung bekommt Sanktionen zu spüren

Nicht nur die mehr als 860 Personen auf den Sanktionslisten der EU spüren, dass es der Westen dieses Mal ernst meint mit der Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Auch der Bevölkerung in Russland dämmert, dass die guten Zeiten vorbei sind. In Moskau stürmten die Menschen IKEA-Filialen, nachdem der schwedische Konzern angekündigt hatte, sein Geschäft in Russland einzustellen. Sie zählen zu den umsatzstärksten des Unternehmens. Schnell wurden noch Kochtöpfe, Geschirr und Billy-Regale eingekauft, bevor die Filialen schlossen.

Mode-Läden wie Zara, H&M oder Massimo Dutti schlossen ihre Geschäfte. Im Luxuskaufhaus GUM gibt es ganze Etagen mit leeren Regalen. Prada, Gucci oder Louis Vuitton, alle sehr beliebt bei statusbewussten Russen, zogen ihre Waren ab. Westliche Autohersteller, von VW bis General Motors, schlossen ihre Produktion oder liefern keine Fahrzeuge mehr. Mittlerweile fehlt es an allem: von Henkell Freixenet-Sekt bis zu Smartphones von Apple. Im Heimkino zog Spielfilm-Gigant Netflix den Stecker. Kaum ein westliches Unternehmen, das nicht die Reißleine gezogen hat – häufig aus Image-Gründen, vielfach aus Überzeugung.

In russischen Supermärkten gibt es zunehmend Versorgungsprobleme. In vielen Läden sind die Regale leer. Es fehlt an Nudeln, Mehl, Reis und anderen Grundnahrungsmitteln. Viele Einheimische machen Hamsterkäufe, es gibt erste Rationierungen. Selbst der Kreml musste mittlerweile zugeben, die Maßnahmen träfen das Land spürbar: „Die Sanktionen sind hart, sie bereiten Probleme“, so Sprecher Dmitri Peskow. „Aber Russland hat das nötige Potenzial, um den Schaden auszugleichen.“

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Eigenes Zahlungssystem hält Kreislauf aufrecht

Neben der Konsumgüterbranche machte auch der Finanzsektor Ernst: VISA, Mastercard und American Express stellten ihre Geschäfte ein. Wer mit diesen Karten von Russland ins Ausland fahren will, kann dort keine Hotelrechnung bezahlen, keinen Mietwagen buchen und auch nicht Shoppen gehen. Wichtige Reiseländer für Russen wie die Türkei oder Zypern berichten über leere Hotels und verwaiste Strände. Problematisch ist der Einsatz der Karten auch, wenn internationale Onlinehändler bezahlt werden sollen. Die sind bei der Bevölkerung beliebt. Dort funktionieren die Karten nicht mehr. Auch PayPal stellte seinen Dienst ein.

Allerdings sind Russen, die Kreditkarten lieben und gerne bargeldlos zahlen, von den innerrussischen Zahlungssystemen nicht komplett abgeschnitten. Schon nach dem Einmarsch auf die ukrainische Halbinsel Krim ließ der Kreml ein innerrussisches Zahlungssystem einführen – unter dem zynisch anmutenden Namen „Mir“: Das heißt „Frieden“. „Mir“ war von Anfang an aber eher Zwang und Druck: Händler in Russland mussten das System akzeptieren und anbieten, auch wenn sie das gar nicht wollten. Jetzt fungiert das Zahlungssystem tatsächlich als Notmaßnahme.

Selbst wenn auf einer Karte das VISA- oder Mastercard-Label prangt, kann sie in der Regel im innerrussischen Zahlungsverkehr weiter eingesetzt werden. Die großen russischen Banken stellen sicher, dass die Zahlung über „Mir“ weiter funktioniert. Die Auswirkungen innerhalb des Landes halten sich also in Grenzen. Außerdem bauen die Kreditinstitute auch ihre Kooperation mit dem chinesischen Kreditkarten-Anbieter Unionpay aus. Dadurch können Transaktionen teilweise auch im Ausland wieder abgewickelt werden.

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SWIFT-Ausschluss bleibt löchrig

Ähnlich löchrig sind auch die ersten verhängten Sanktionen gegen das Zahlungssystem SWIFT. Es erleichtert international tätigen Unternehmen die Abrechnung erheblich. Binnen kürzester Zeit können dort Forderungen ohne große Überprüfung beglichen werden, weil die angeschlossenen Nutzer als vertrauenswürdig gelten. Operativ übernehmen dann Geschäftsbanken die Transaktion.

Zwar befinden sich auf der Sanktionsliste der Institute, die von SWIFT ausgeschlossen wurden, zahlreiche große russische Banken. Doch die Institute, die bei der Abrechnung der Erdgas- und Rohöl-Lieferungen eine bedeutende Rolle spielen, stehen nicht darauf. Dazu gehören die Sber-Bank und die Gazprom-Bank. Konkret bedeutet dies: Russische Gas- und Öllieferungen können weiter relativ reibungslos bezahlt und abgewickelt werden. „Die westlichen Regierungen waren und sind nicht bereit, eine Energiekrise zu riskieren“, sagt Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Deshalb seien die zentralen russischen Banken in diesem Sektor nicht auf der Sanktionsliste.

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Energieabhängigkeit verhindert härteres Durchgreifen

Tatsächlich bezieht Deutschland rund 30 Prozent seines Rohöls aus Russland. Von den russischen Gaslieferungen sind in Europa vor allem Italien und Deutschland hochgradig abhängig. Hierzulande kommen rund 55 Prozent des Gases von dort. Andere wichtige Lieferanten wie die Niederlande und Norwegen können nicht einfach einspringen, weil sie bereits an ihre Kapazitätsgrenzen kommen. Die Europäische Union, die wortgewaltig fordert, die Abhängigkeit in diesem Sektor zu reduzieren, muss selbst kleinklaut zugeben, dass der Weg ziemlich steinig ist. Der für den „Green Deal“ zuständige EU-Kommissar Frans Timmermans sagte: „Es ist hart, verdammt hart. Aber es ist möglich.“

Konkret würde ein sofortiges völliges Abschneiden der russischen Öl- und Gaslieferungen in Deutschland nach Ansicht von Experten zu Versorgungsengpässen und auch Stromausfällen führen. Die Bundesregierung hat sich deshalb bislang dagegen ausgesprochen, die Maßnahmen entsprechend zu erweitern. Insgesamt sind die SWIFT-Sanktionen gegen Russland also deutlich weniger wirksam als sie auf den ersten Blick scheinen.

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Maßnahmen gegen Zentralbank wirken stark

Wesentlich schärfer sind die Maßnahmen gegen die russische Zentralbank, die in dieser Form ihresgleichen suchen. Sie unterbinden sämtliche Geschäftstätigkeiten und Interaktionen mit der Notenbank in Moskau. Dadurch werden insbesondere die Devisenreserven eingefroren. Das Land besitzt Rücklagen in Höhe von rund 630 Milliarden US-Dollar. Davon liegt ein großer Teil im Ausland. Auch bei der Bundesbank gibt es ein Geschäftskonto, das aber nur relativ geringe Guthaben aufweisen soll.

Die Abschottung einer Zentralbank und die Sperrung ihres Zugangs zu Auslandskonten verursacht tendenziell große Probleme, die auch den innerrussischen Geldmarkt beeinträchtigen können. Unruhig und nervös rutschte Zentralbank-Chefin Elwira Sachipsadowna Nabiullina deshalb auf ihrem Stuhl hin und her, als sie der Bevölkerung versichern wollte, die Versorgung mit Bargeld sei garantiert. Zwar gab es zeitweise einen Ansturm auf Bankautomaten und Konten, teilweise auch leere Geldterminals. Insgesamt gelang es der Zentralbank bislang aber, größere Ausfälle zu vermeiden. Die Situation könnte sich verschärfen, sollten die verfügbaren Rücklagen dahin schmelzen.

Rubel derzeit international fast wertlos

Hinzu kommt der dramatische Absturz des Rubel gegenüber anderen Währungen. Die Notenbank sah sich gezwungen, die Leitzinsen auf 20 Prozent zu erhöhen – ein Sprung von über zehn Prozentpunkten. Durch die Einschränkung ihrer Rücklagen und die gekappte Zusammenarbeit mit westlichen Notenbanken ist es für Moskau schwierig, auf den Finanzmärkten wirkungsvoll zu intervenieren und die Währung zu stützen. Lediglich die angeordneten Kapitalmarktkontrollen – etwa, dass Außenstände russischer Unternehmen an westliche Staaten in Rubel zu begleichen sind – konnte die Talfahrt der Währung etwas eindämmen. Allerdings hemmt das zusätzlich die Geschäftstätigkeit – denn russische Rubel möchte im Moment keiner haben.

Unter dem Strich gibt es also ein gemischtes Bild: Die Sanktionen sind so hart wie nie zuvor, aber sie sind teilweise nicht konsequent und geben Russland die Möglichkeit für viele Schlupflöcher. Wollte man das Land tatsächlich an seiner Achillesferse treffen, müsste man den Bezug von Gas- und Öl komplett einstellen, sagen Experten. Dadurch würde die Finanzierung des Krieges deutlich erschwert. Diese Maßnahme würde aber zu erheblichen Verwerfungen der westlichen Wirtschaft führen. Dazu sind derzeit die wenigsten bereit.