Zeitenwende beim Rüstungshaushalt

IMI-Standpunkt 2022/008 (Update: 4.3.2022)

Zeitenwende beim Rüstungshaushalt

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 28. Februar 2022

Von einer „Zeitenwende“ sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg am 27. Februar 2022. Und in der Tat übersteigt das, was er darin angekündigt hat, alles, was bis kürzlich auch nur ansatzweise für möglich gehalten worden wäre. Der russische Angriff auf die Ukraine ebnet so auch den Weg für eine beispiellose Militarisierung Deutschlands, die eine Reihe von Bereichen betrifft, besonders aber die Rüstungsausgaben.

Chronisch unterfinanziert?

Dem angesichts der aktuellen Eskalation häufig und bewusst erweckten Eindruck, die Bundeswehr sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten systematisch kaputtgespart worden, muss entschieden entgegengetreten werden. Seit der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stieg das Budget der Bundeswehr von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. (2021) steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen (siehe IMI-Standpunkt 2019/058).

Wenn die Truppe nun etwa in Person von Heeresinspekteur Alfons Mais argumentiert, sie stehe „blank“ da, so ist das nicht auf eine mangelnde Finanzierung, sondern auf chronisch verschwenderische Strukturen zurückzuführen. Noch 2014 kritisierte die damalige Staatssekretärin für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung, Katrin Suder: „Waffensysteme kommen um Jahre zu spät, Milliarden teurer als geplant – und dann funktionieren sie oft nicht richtig oder haben Mängel.“

Im ersten Bericht über das Rüstungswesen aus dem Jahr 2015, dessen Aufgabe es ist, die Defizite im Beschaffungswesen offenzulegen, hieß es, die untersuchten Rüstungsgroßprojekte wiesen eine durchschnittliche Verspätung von 51 Monaten auf und lägen insgesamt 12,9 Mrd. Euro über dem ursprünglich geplanten Preis. Trotz aller Beteuerungen mehrerer folgender VerteidigungsministerInnen ist es offenbar nicht gelungen, hier eine „Verbesserung“ (sofern eine effizientere Beschaffung von Waffen als solche bezeichnet werden kann) zu erreichen.

Im nunmehr 14. Bericht zu Rüstungsangelegenheiten vom Dezember 2021 ist nachzulesen: „Aktuell beträgt die Verzögerung im Mittel 52 Monate gegenüber der ersten parlamentarischen Befassung und neun Monate gegenüber den aktuellen Verträgen. Die Veranschlagung der betrachteten Projekte im Haushalt 2021/54 […] liegt rund 13,8 Mrd. Euro über der Veranschlagung zu Projektbeginn.“

Vor Kriegsbeginn: Finanz- vs. Verteidigungsministerium

Noch unter Kanzlerin Angela Merkel gab die damalige Bundesregierung die ambitionierte Zusage, bis 2023 eine voll ausgestattete schwere Brigade (ca. 5.000 SoldatInnen), bis 2027 eine Division (15.000-20.000 SoldatInnen) und bis 2032 drei Divisionen in die NATO einzuspeisen. Die Ampel übernahm diese äußerst kostspielige Zusage in ihrem Koalitionsvertrag: „Die NATO-Fähigkeitsziele wollen wir in enger Abstimmung mit unseren Partnern erfüllen und entsprechend investieren.“

Noch Anfang Februar 2022 klaffte aber zwischen dem, was das Finanzministerium im Finanzplan bis 2026 für die Bundeswehr vorgesehen hatte und dem, was das Verteidigungsministerium zu benötigen meinte, um die NATO-Fähigkeitsziele umsetzen zu können, eine gewaltige Lücke – eine rund 38 Mrd. Euro große Lücke, um genau zu sein. Während für 2022 noch einmal eine deutliche Erhöhung auf 50,33 Mrd. Euro vorgesehen ist, gingen anschließend die Vorstellungen von Finanz- und Verteidigungsministerium ganz erheblich auseinander, wie die Oldenburger Zeitung am 12. Februar 2022 berichtete: „Danach benötigt die Bundeswehr im Jahr 2023 statt der vom Finanzministerium bislang in der mittelfristigen Planung vorgesehenen 47,3 Milliarden Euro 53,7 Milliarden Euro. Dieses Delta wächst jährlich: 2024 werden statt 47,1 Milliarden Euro 55,4 gebraucht, 2025 57,2 statt 46,7 Milliarden. Und 2026 beträgt der Bedarf statt 46,7 stolze 59,1 Milliarden Euro. Der Fehlbetrag summiert sich insgesamt auf 37,6 Milliarden Euro. […] In einer ersten Reaktion hatte das Finanzministerium die Forderungen zurückgewiesen.“

Noch Anfang Februar 2022 stand die Bundeswehr unter erheblichem Druck – schließlich ermahnte der Staatssekretär im Finanzressort, Werner Gatzer, das Verteidigungsministerium Anfang Februar 2022, es sei deutlich zu großzügig mit den sogenannten Verpflichtungsermächtigungen umgegangen worden. Was das hieß, erläuterte der Blog Augengeradeaus: „Mit den so genannten Verpflichtungsermächtigungen kann das Verteidigungsministerium Verträge für Rüstungsgüter abschließen, deren Kosten erst in den nächsten Jahren fällig werden. […] Die Forderung nach realistischer Planung enthält den dezenten Hinweis, dass das Wehrressort in den vergangenen Jahren, laienhaft gesprochen, ungedeckte Schecks auf die Zukunft erhalten hat.“

Damit diese ungedeckten Schecks nicht platzen, nahm der Druck auf eine Erhöhung des Rüstungshaushaltes bereits vor dem russischen Angriff deutlich zu. Doch was nun angekündigt wurde, übersteigt alle Erwartungen bzw. Befürchtungen.

Nach Kriegsbeginn: Scholz öffnet die Geldschleuse

In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 kündigte Kanzler Olaf Scholz eine Reihe von Maßnahmen an, besonders drastisch sind die Aussagen zu den künftigen Militärausgaben, die die Einrichtung eines einmaligen „Sondervermögens“ sowie dauerhaft deutlich höhere Militärausgaben betreffen.

Während die Bundeswehr selbst vorrechnete, zur Erreichung der NATO-Planziele würden ihr in den Jahren 2022 bis 2026 rund 38 Mrd. Euro fehlen, soll sie nun deutlich mehr als das erhalten: „Wir werden dafür ein Sondervermögen ‚Bundeswehr‘ einrichten“, kündigte Scholz in seiner Regierungserklärung an. „Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen.“

Das Geld werde mit dem Bundeshaushalt 2022 bereitgestellt, der am 9. März 2022 vorgelegt werden soll. Dies schaffe die Möglichkeit, ab 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten zu können, heißt es dazu in der FAZ. Die Dimension dieses Sondervermögens wird beispielsweise in der Europäischen Sicherheit und Technik erläutert: „Mit den beabsichtigten 100 Milliarden Euro verdoppelt der Bund seine Sondervermögen, zu denen unter anderem der Energie- und Klimafonds und die Rücklagen für die Flüchtlingshilfe gehören.“

Doch damit nicht genug: „Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, so Scholz ebenfalls in seiner Regierungserklärung. Unklar ist, ob diese Erhöhungen mit dem Sondervermögen verrechnet werden, der Bundeswehrverband jedenfalls geht davon aus, dass sie zusätzlich hinzukommen werden: „Bundesvermögen werden außerhalb des Bundeshaushaltes bewirtschaftet – für die Bundeswehr heißt das, dass die nun angekündigten 100 Milliarden Euro nicht mit dem Verteidigungsetat für das laufende Jahr verrechnet werden, sondern tatsächlich „on top“ kommen.“

Laut Statista belief sich das deutsche Bruttosozialprodukt im Jahr 2021 auf 3.570 Mrd. Euro, wäre für ihn bereits die Scholzsche Formel angewandt worden, hätte sich der Militärhaushalt statt der tatsächlich eingestellten 46,9 Mrd. Euro auf mindestens 71,4 Mrd. Euro belaufen müssen. Unklar ist gegenwärtig noch, ob die Erhöhungen bereits 2022 oder 2023 bzw. 2024 umgesetzt werden. Klar ist aber, dass mit einem sprunghaften Anstieg der Ausgaben zu rechnen sein wird, der sich durch eine Kopplung ans Bruttoinlandsprodukt bei fortgesetztem Wirtschaftswachstum auch verstetigen wird.

Wer von diesen Mehrausgaben profitieren wird, beschrieb die Welt: „Während vor kurzem die Lobbyisten der Rüstungskonzerne noch alles unternahmen, um bei einer sich abzeichnenden Lücke im Wehretat mit ihrem Projekt zum Zuge zu kommen, scheint die Geldfrage jetzt gelöst. Von einem neuen Super-Verteidigungsetat profitieren nicht nur größere deutsche Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, Krauss-Maffei Wegmann, Hensoldt, Diehl und Heckler & Koch oder europäische Hersteller wie Airbus und der Lenkwaffenkonzern MBDA. Milliardenbeträge werden auch an US-Rüstungskonzerne wie Lockheed Martin und Boeing fließen.“

Wieviel ist genug?

Mehr als fraglich ist, ob die Bundeswehr-Strukturen überhaupt „sinnvoll“ derartige Gelder verarbeiten könnten, was durchaus auch von BefürworterInnen höherer Ausgaben bezweifelt wird. Zudem hat die NATO als Ganzes ihre Militärausgaben in den letzten Jahren bereits deutlich erhöht: sie stiegen nach NATO-Angaben von 895 Mrd. Dollar (2015) auf 1106 Mrd. (2020) an. Demgegenüber sanken die russischen Ausgaben laut SIPRI von 85 Mrd. Dollar (2015) auf 61,7 Mrd. Dollar (2020).

Die NATO-Militärausgaben sind also heute bereits rund 18mal höher als die Russlands. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt, wie derzeit leider offensichtlich wird. Im Gegenteil, diese Ausgaben und die mit ihr zusammenhänge Politik sind sicher auch ein Teil des Problems und nicht der Lösung.

Politologe Sauer im Interview „Russland hat keine Hightech-Waffen in der Hinterhand“

Quelle: ntv  – 08.03.2022

Politologe Sauer im Interview „Russland hat keine Hightech-Waffen in der Hinterhand“

Der russische Überfall auf die Ukraine ist steckengeblieben, nun droht der Zivilbevölkerung noch größeres Leid. Zugleich laufen Verhandlungen. Aber kann Russland noch ein Partner sein? Und wie groß ist die Gefahr eines Angriffs auf NATO-Gebiet oder gar eines Atomschlags? Der Experte für Sicherheitspolitik von der Universität der Bundeswehr in München, Frank Sauer, antwortet darauf im Interview.

ntv.de: Der Krieg dauert schon fast zwei Wochen. Hat sich das russische Militär blamiert?

Frank Sauer: Mit vorschnellen Schlussfolgerungen muss man vorsichtig sein, weil wir nur einen Ausschnitt des Geschehens sehen. Wir sehen vor allen Dingen das ukrainische Narrativ. Aber ich kann inzwischen schon mit Bestimmtheit sagen, dass Russland in verschiedenen Bereichen, auch im Militärischen, deutlich schlechter abschneidet als erwartet.

Manche sagen ja, da wird jetzt erst mal das alte Material vorgeschickt und irgendwann kommen die neuen Panzer. Gibt es dafür aus Ihrer Sicht Anhaltspunkte?

Wir sehen überwiegend natürlich die Sachen, von denen Russland viel hat. Wir sehen T72-Panzer, den T80, wir sehen diese Schützenpanzer, die teils noch aus den 70er und 80er Jahren stammen. Von neuen Panzern wie dem T14 Armata hat Russland vielleicht zwanzig Stück – und ob davon überhaupt zehn fahren, geschweige denn gefechtsbereit sind, wage ich zu bezweifeln. Insofern überrascht mich das nicht, und es ist auch nicht so, dass da noch irgendwelche Hightech-Waffen in der Hinterhand gehalten werden.

Glauben Sie, dass es jetzt blutiger wird, dass Russland jetzt eine Taktik wie in Syrien anwendet?

Ich befürchte das, ja.

Kann man noch einschätzen, was Putin eigentlich erreichen will? Nüchtern betrachtet hat er nicht mehr viel zu gewinnen.

Ich sehe noch keinen Anlass, davon auszugehen, dass Putin etwas anderes will als das, was er von Anfang an kommuniziert hat. Ich gehe davon aus, dass er die territoriale Integrität der Ukraine, die Souveränität der Ukraine und die Ukraine als eigenständiges Land beseitigen will. Dazu muss er die Selenskyj-Regierung beseitigen und eine Regierung installieren, auf die er direkten Einfluss nehmen kann. Dass er dieses politische Ziel, selbst wenn er militärisch auf lange Sicht gewinnen sollte, auf keinen Fall mehr erreichen kann, scheint ihn bisher nicht weiter zu irritieren. Das ist zumindest das, was man von außen konstatieren kann.

Am Donnerstag sollen sich die Außenminister der Ukraine und Russlands treffen. Was erwarten Sie davon?

Nicht viel. Ich glaube, dass Russland weiterhin auf seiner Maximalforderung beharren wird. Im Prinzip verlangt Russland ja die vollständige Kapitulation der Ukraine und eine Verhandlung nach russischem Diktat. Dazu scheint mir Putin auf militärischem Wege die Verhandlungsbedingungen zu seinen Gunsten verändern zu wollen. Wenn das gelingt, muss die Ukraine unter Umständen irgendwann Konzessionen machen. Aktuell sieht es nicht so aus, als ob die Ukraine das möchte, und so bleiben diese Verhandlungen festgefahren. Russland verlangt im Prinzip die totale Selbstaufgabe. Nachvollziehbarerweise weigert sich die Ukraine und wehrt sich vehement.

Kann Russland überhaupt noch ein Verhandlungspartner sein? Man braucht doch eigentlich ein Mindestmaß an Vertrauen.

Ich komme ja eigentlich aus der Rüstungskontrolle und habe im Kleinklein so die Schwierigkeiten miterlebt, die Russland der internationalen Gemeinschaft oder zumindest westlichen Verhandlungspartnern in den letzten paar Jahren bereitet hat.

Das Vertrauen, das man über bestimmte Rüstungskontrollinstrumente nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat aufbauen können, ist mit dieser Invasion Putins nahezu vollständig verpufft. Wir werden über Jahre und Jahrzehnte vermutlich unter großer Mühe hoffentlich wieder an einen Punkt kommen, wo wir Vertrauen zurückgewinnen können, um Risiken für alle Beteiligten kollektiv zu reduzieren. Niemand will wieder in so eine ultra-angespannte Kalte-Kriegs-Situation zurück, wo sich zwei völlig unversöhnliche Blöcke gegenüberstehen und sich permanent mit der nuklearen Eskalation bedrohen.

Nur eins ist klar: Putin hat uns da um Jahrzehnte zurückgeworfen. Insbesondere Westeuropa entwickelt deswegen jetzt ganz andere Positionen und nimmt dafür zu Recht auch die eigene Wehrhaftigkeit viel stärker in den Blick.

Haben Sie eine Vorstellung, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte?

Es sind verschiedene Varianten denkbar. Etwa eine Konsolidierung der Spaltung der Ukraine. Über den Süden kommt Russland ja noch am besten voran. Und wenn Odessa unter russische Kontrolle gerät und ein oder zwei weitere Städte im Süden und es eine Landbrücke von der Krim in den Osten der Ukraine gibt, dann könnte man schon davon ausgehen, dass das schwer zurückzudrehen sein wird.

Wenn zusätzlich auch noch Kiew fällt, dann ist natürlich noch eine neue Variante möglich. Dann hätte man eine Teilung des Landes, die viel weiter westlich läge als an der Grenzlinie zu den Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Es ist aber auch möglich, dass das System Putin implodiert und der Krieg auf diese Weise endet. So könnte die Ukraine sich dann möglicherweise gänzlich vom russischen Einfluss befreien. Ich kann nicht in die Glaskugel gucken. Zurzeit rechne ich auf jeden Fall nicht damit, dass der Krieg sehr bald endet. Ich glaube, dass Putin an seinen militärischen Zielen festhält und diese langsam, deutlich langsamer als von ihm selbst erwartet, aber stoisch weiterverfolgen wird. Mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung in der Ukraine.

Halten Sie einen Angriff Russlands auf NATO-Gebiet für realistisch?

Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich es für wahrscheinlicher, dass Russland versucht, im Cyberraum Nadelstiche zu setzen. Denkbar ist aber ein versehentlicher Angriff. Dass ein Konvoi mit Waffenlieferungen beschossen wird. Oder dass ein russisches Flugzeug versehentlich in den Luftraum eines baltischen Staates eindringt. Diese Gefahr ist absolut real. Mit einem gezielten konventionellen Angriff auf NATO-Territorium rechne ich nicht, weil Putin keinerlei Geräusche in diese Richtung gemacht hat. Nachdem was ich weiß, zeichnet sich auch auf dem Boden dahingehend nichts ab. Vielleicht nicht zuletzt auch, weil die NATO ja sofort reagiert und ihre Kräfte in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten verstärkt hat.

Wie schätzen Sie das ein, dass Putin die „Abschreckungswaffen“ in Alarmbereitschaft versetzt hat? Ein Atomschlag wäre doch Selbstmord, oder?

Na ja, das hängt sehr davon ab. Seine Äußerung war eindeutig erstmal nur ein politisches Signal. Mit Blick auf die tatsächlichen Bewegungen im nuklearen Apparat in Russland gibt es keinerlei besonderen Vorkommnisse, die vermuten ließen, dass da etwas vorbereitet wird oder irgendwie eine Alarmstufe in nennenswerter Weise erhöht worden wäre. Es sind ein paar U-Boote ausgelaufen, aber auch wieder welche zurückgekommen. Es sind ein paar mobile ballistische Interkontinentalraketen in den Wald gefahren, aber das könnte durchaus eine normale Rotation sein. Nichts hat sich da zahlenmäßig dramatisch erhöht.

Es deutet nichts darauf hin, dass man da in einem überschaubaren Zeitraum mit irgendetwas Atomarem auf dem Gefechtsfeld rechnen müsste. Insofern kann man Putins Botschaft aktuell einfach nur zur Kenntnis nehmen. NATO und US-Administration haben das getan und ganz richtig reagiert, also es gelassen hingenommen und nicht etwa mit gleichen Mitteln erwidert. Putin hat eben auf sein Nukleararsenal gezeigt und gesagt: Das vergesst ihr bitte nicht bei all euren Sanktionen und bei den Waffenlieferungen an die Ukraine. Und von einem Schlagabtausch mit strategischen Atomwaffen sind wir sicher noch weiter entfernt. Auch Putin weiß: Wer als Erster schießt, ist als Zweiter tot. Gerade als jemand, der sich schwerpunktmäßig mit diesen Fragen beschäftigt, raubt mir das aktuell keinen Schlaf. Die Lage der Zivilbevölkerung macht mir die größeren Sorgen.

Viele Experten sagen, am Ende werde sich Russland durchsetzen. Ist der Widerstand der Ukrainer da überhaupt sinnvoll?

Das haben nicht wir zu entscheiden. Das entscheidet die Ukraine. Wir haben lange genug immer nur über deren Köpfe hinweggeredet. Wenn die Ukraine kämpfen will, und zur Selbstverteidigung hat sie jedes Recht, dann kann und muss man sie nach Kräften unterstützen. Aber das jetzt von außen zu beurteilen und nach dem Motto: „Ergebt euch doch lieber! Dann wird es auch nicht so schlimm.“ Nein, das ist nicht meine Haltung.

Mit Frank Sauer sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

Dr. Frank Sauer lehrt und forscht an der Universität der Bundeswehr in München und ist Experte für Sicherheitspolitik, über die er auch regelmäßig im Podcast „Sicherheitshalber“ diskutiert.

Angriffskrieg auf die Ukraine: Doch Putins Geschäfte mit dem Westen gehen weiter – MONITOR

Angriffskrieg auf die Ukraine: Doch Putins Geschäfte mit dem Westen gehen weiter – MONITOR – 10.958 Aufrufe – 07.03.2022 –

Nach dem Einmarsch Putins in die Ukraine gibt sich der Westen entschlossen: Russland soll mit schärfsten Sanktionen bestraft werden. Doch diese lassen Putins Machtzentrum unberührt: Die Energieexporte. Während Putin Völkerrecht bricht, lassen sich Europa und auch Deutschland weiter Öl, Gas und Kohle aus Russland liefern und auch die USA beziehen weiter russisches Öl. Milliarden aus dem Westen fließen so noch immer nach Russland. Geld, was Putins Krieg in der Ukraine Tag für Tag weiter finanziert. Und auch das Vermögen vieler Oligarch:innen, die Druck auf Putin ausüben könnten, liegt längst gut versteckt im Ausland.

Autor:innen: Jan Schmitt, Véronique Gantenberg, Jakob Faust. Der Beitrag gibt den Recherchestand vom 3. März 2022 wieder.

Fragen zum Verlauf des Krieges

Einen Guerilla-Krieg kann Putin sich nicht leisten“

Ex-General Erich Vad | heute-journal – 447.624 Aufrufe – 02.03.2022 –

Der ehemalige Bundeswehrgeneral Erich Vad sieht Russland der Ukraine militärisch weiterhin stark überlegen. Putin könne sich aber nicht leisten, in einen langen Krieg mit der Ukraine verwickelt zu werden: „Da ist jeder Tag ein Tag zu viel für ihn“. Bei der Unterstützung der Ukraine mit schweren Waffen warnt Vad vor der Gefahr, über einen Stellvertreterkrieg selbst zur Kiegspartei zu werden – das müsse man „politisch sehr, sehr gut steuern“.


Prof. Masala (Bundeswehrhochschule München): „Kapitale Fehler, die wir den Russen nicht zugetraut haben“ | heute-journal

353.490 Aufrufe  04.03.2022

Treibstoffmangel, unzureichende Verpflegung für die eigenen Soldaten – der Sicherheitsexperte Prof. Carlo Masala beobachtet beim Vorgehen der russichen Armee in der Ukraine eine „grottenschlechte Logistik“. Er spricht von kapitalen Fehlern, “die wir den Russen nicht zugetraut haben“: Die Armee sei in ihrer Operationsfähigkeit “nicht moderner geworden“. Zu deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine sagt Masala: Weitere Boden-Boden-Raketen aus Deutschland könnten den “Vormarsch verlangsamen“.


Ukraine: Alle im Widerstand | ARTE Reportage

73.069 Aufrufe –  07.03.2022 –

Überall in der Ukraine mobilisieren sich die Ukrainer im Widerstand gegen den Agressor aus Russland, in den Städten und auf dem Land.  Großmütter kochen Ravioli für die Männer an der Front, Metallarbeiter schweißen Panzersperren, und Studenten konstruieren Katapulte für Molotowcocktails. Mehrere Tage lang folgte unser Team den Menschen in den Dörfern der Region Lviv, die fest dazu entschlossen sind, ihr Land und ihre Freiheit zu verteidigen.

Gabriele Krone-Schmalz: „Ich bin verzweifelt, wütend und hilflos“

Berliner Zeitung, 27.2.2022

Putin-Kennerin Gabriele Krone-Schmalz: „Ich habe mich geirrt“

Die langjährige ARD-Korrespondentin glaubt, dass der Angriffskrieg eine einsame Entscheidung Putins gewesen sei, von dem auch sein Umfeld überrascht wurde.

Ich war fest davon überzeugt, dass der Aufbau dieser gigantischen russischen Drohkulisse in den letzten Wochen und Monaten, so riskant und überzogen er auch sein mochte, einem einzigen Zweck diente: nämlich ernstzunehmende Verhandlungen mit dem politischen Westen zu erzwingen, um Russlands Sicherheitsinteressen endlich zum Thema zu machen. Ich habe mich geirrt. Nicht nur mit Blick darauf, was jetzt an Leid und Verwüstung folgt, bin ich fassungslos, sondern auch angesichts dieses Schlags ins Gesicht all derjenigen, die sich – teilweise gegen große politische Widerstände im eigenen Lager – auf den Weg nach Moskau gemacht haben, um diplomatische Lösungen für die tatsächlich vorhandenen Probleme zu finden.

Es ist nicht so, als hätte ich keine Kriegsgefahr gesehen, aber dieses Risiko habe ich nicht mit einem russischen Angriff verbunden, der für mich ausgeschlossen schien, sondern mit Missverständnissen, technischen oder menschlichen Pannen zwischen Nachbarn, denen jegliches Vertrauen zueinander abhandengekommen ist. Diverse Szenarien waren denkbar auf der Grundlage von Provokationen oder Prozessen, die aus dem Ruder laufen, aber ein kalkulierter und geplanter Überfall auf die Ukraine – das habe ich nicht für möglich gehalten.

Habe ich mit meinen Positionen dazu beigetragen, diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu ermöglichen, wie jetzt manche behaupten? Bin ich für den russischen Einmarsch mitverantwortlich?

Es wäre schrecklich, wenn es so wäre. Doch überzeugend finde ich diesen Vorwurf nicht. Er setzt voraus, dass die Idee der Verständigung, der Entspannungspolitik grundverkehrt war, und dass eine Abschreckungspolitik Putin hätte im Zaum halten können.

Beide Punkte halte ich nicht für richtig.

Denn zum einen haben sich die Entspannungspolitiker in den letzten dreißig Jahren auf internationalem Parkett mit ihrer Politik eher nicht durchsetzen können. Ich möchte die Worte von George Kennan ins Gedächtnis rufen, dem Architekten amerikanischer Eindämmungspolitik. Der für seine scharfen Analysen bekannte Diplomat hat am 2. Mai 1998 – also noch bevor Polen, Tschechien und Ungarn 1999 in die NATO aufgenommen wurden – die NATO-Osterweiterung als tragischen Fehler bezeichnet, da es überhaupt keinen Grund dafür gebe. Niemand bedrohe irgendjemanden. „Natürlich wird es auch darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland geben“, so Kennan, „und dann werden sie (also die NATO-Erweiterer) sagen: So sind die Russen, wir haben es Euch immer gesagt, aber das ist komplett falsch.“

Und zum anderen scheint mir, dass jeder Versuch, die Ukraine nach 2014 in die NATO mit aufzunehmen, die jetzt erfolgte Intervention nur beschleunigt und nicht verhindert hätte. Ich denke nach wie vor, dass die NATO-Osterweiterung und die Missachtung russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen stark dazu beigetragen haben, dass wir uns heute einem Russland gegenübersehen, das uns als Feind betrachtet und sich auch so verhält. Ich teile nicht die These, dass Putin schon immer der gewesen sei, der er jetzt ist. Vielmehr gehe ich davon aus, dass wir diesen Putin mitgeschaffen haben.

Aber letztlich ist es müßig, noch über die Vergangenheit zu streiten. Die Verständigungspolitik, deren Sinnhaftigkeit ich mit meiner Arbeit immer versucht habe zu erklären und journalistisch zu begleiten, liegt in Trümmern. Putin hat die Hand verdorren lassen, die zwar reichlich später, aber dann doch ausgestreckt war.

Nach allem was man hört, waren selbst einige russische Regierungsmitglieder von der Entscheidung ihres Präsidenten überrascht, den Einmarschbefehl zu geben, noch dazu in dieser Situation: unmittelbar vor weiteren geplanten Gipfeltreffen. Das macht die Lage nicht einfacher.

Der russische Einmarsch in die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Jetzt kann es nur darum gehen, möglichst sichere Wege zu finden die aus dieser Katastrophe herausführen. „Diplomatische Anstrengungen müssen erneut beginnen.“ Das hat Klaus von Dohnanyi jetzt gefordert, wobei auch ihm die Zumutung klar ist, die darin besteht, mit einem Gegenüber zu verhandeln, das dreist gelogen hat. Aber Zumutung, Gesichtsverlust und ähnliches sind keine akzeptablen politischen Kategorien, wenn es darum geht, einen Krieg zu beenden.

Was entspannungspolitisch alles möglich ist, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Obwohl die Sowjetunion 1968 die Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei, den „Prager Frühling“, mit Panzern niedergewalzt hat, haben sich der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt und sein Berater Egon Bahr 1970 auf den Weg nach Moskau gemacht. Das war der Beginn der sogenannten Ostpolitik, die auf lange Sicht für alle Beteiligten nur Vorteile gebracht hat. Humanitär und wirtschaftlich.

An der grundsätzlichen Aufgabe hat sich nichts geändert: Wir brauchen eine umfassende Sicherheitsarchitektur, die den Bewohnern des europäischen Kontinents allen gleichermaßen Sicherheit bietet. Die war Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum Greifen nah. Es ist erschütternd, sich vor Augen zu führen, welche Chance verspielt worden ist.


Gabriele Krone_Schmalz „Ich bin verzweifelt,  wütend und hilflos“ Interview  Nürnberger Nachrichten 4. März 2022