Gemeinsame Sicherheit in Europa – ein Traum? (Veranstaltungsmitschnitt Podiumsdiskussion)

Gemeinsame Sicherheit in Europa – ein Traum?« (Veranstaltungsmitschnitt Podiumsdiskussion)628 Aufrufe – 12.11.2020 –Fraktion DIE LINKE. im Bundestag – 

06. November 2020, 14:0016:00, online-Veranstaltung (Mitschnitt) 45 Jahre nach Helsinki, 30 Jahre nach Paris und 2+4-Vertrag – eine Bestandsaufnahme

Vor 45 Jahren begann mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und der Schlussakte von Helsinki ein Verhandlungsprozess zwischen Ost und West, in dem die friedliche Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Orientierung festgeschrieben wurde.

Das war der Anfang einer hoffnungsvollen Phase der Entspannung und der Zusammenarbeit in Europa. 1990 bekräftigte die Charta von Paris der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) diese Entwicklung. Damals – vor 30 Jahren – schien die Etablierung eines Systems gemeinsamer Sicherheit in Europa, das »Gemeinsame Haus Europa«, auf der Tagesordnung zu stehen.

Dies sei das außenpolitische Vermächtnis der deutschen Einheit, hieß es. Welche Konzepte, Pläne und Hoffnungen für das neue Europa gab es damals, und was ist aus ihnen geworden? Heute stehen sich weltweit wieder Staaten unterschiedlichster Ausrichtung gegenüber – Verträge werden zerrissen, es wird wieder sanktioniert und boykottiert, es besteht die Gefahr eines neuen Kalten Krieges.

Welche Wege müssten beschritten werden, um die derzeitigen Spannungen in der Sicherheitsarchitektur Europas und der Welt wieder abbauen, Dialog wieder aufnehmen, Entspannung und Abrüstung verwirklichen zu können?

Die LINKE. im Bundestag hat prominente Experten und Zeitzeugen eingeladen, darüber zu diskutieren. Dazu laden wir Sie herzlich ein.

PROGRAMM

14.00 Uhr Begrüßung und Einführung Heike Hänsel, MdB; Leiterin des Arbeitskreises »Internationale Politik« und Stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

14.20 Uhr Podiumsdiskussion und Fragen aus dem Publikum

  • Frank Elbe, 1987 – 1992 Bürochef von Hans-Dietrich Genscher, Leiter des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, 1993 – 2005 deutscher Botschafter in Indien, Japan, Polen und der Schweiz
  • Hans-Jürgen Misselwitz, von März bis September 1990 für die SPD Parlamentarischer Staatssekretär im DDR-Außenministerium, Leiter der DDR-Delegation bei den 2+4-Verhandlungen
  • Dr. Hans Modrow; DDR-Ministerpräsident 1989/90, Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die LINKE
  • Dr. Gregor Gysi, MdB, Ehemaliger Fraktionsvorsitzender der PDS in der Volkskammer der DDR sowie von PDS und DIE LINKE. im Bundestag, Sprecher für Außenpolitik der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Moderation: Dr. Alexander S. Neu, MdB, Obmann im Verteidigungsausschuss und Beauftragter für Osteuropa der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag 15.50 Uhr Zusammenfassung

Soll Deutschland Waffen an die Ukraine liefern?

 Quelle: Merkur, 10.2.22 Patrick Mayer

Waffenlieferungen an die Ukraine?

Sollte Deutschland der Ukraine Waffen liefern? Umfrage-Ergebnis für Baerbock und Co. überrascht

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Deutschland müssen sich in der Ukraine-Krise Kritik gefallen lassen. Doch: Was sagen die Bürger? Eine Umfrage ging dieser Frage nach.

München – Die diplomatischen Bemühungen um eine Deeskalation des Ukraine-Konflikts laufen in Deutschland, Frankreich und den USA auf Hochtouren. Doch: Nur ein Drittel der Deutschen wünscht sich eine aktivere Unterstützung der Ukraine durch die Bundesregierung. So sprechen sich nach einer aktuellen Umfrage des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos nur 15 Prozent der Bundesbürger für deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Die Befragten waren aufgefordert, von vier Meinungen diejenige auszuwählen, der sie am stärksten zustimmen.

Ukraine-Konflikt: Umfrage zur Unterstützung durch Deutschland

Weitere 18 Prozent sind der Meinung, die Ampel-Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP solle als Teil der Konfliktlösung die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 verhindern. Demgegenüber steht ein gutes Drittel der Befragten (35 Prozent), das sich von der Bundesregierung wünscht, sich aus dem Konflikt herauszuhalten und weder Russland noch die Ukraine zu unterstützen. Diese Option fand also die größte Zustimmung.

Ebenfalls fast ein Drittel (32 Prozent) der Befragten meint sogar, Deutschland solle darauf hinwirken, dass die russischsprachigen Regionen der Ost-Ukraine in freien Wahlen entscheiden können sollten, ob sie Teil der Ukraine bleiben wollen.

Nord Stream 2 polarisiert indes offenbar stark. Wenn es darum geht, die Verhinderung der Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 im Ukraine-Konflikt als Druckmittel gegen Russland zu verwenden, stimmen vor allem die Anhänger der FDP zu. 29 Prozent halten diesen Schritt für eine richtige Lösung, sogar noch mehr als dafür sind, Neutralität zu wahren.

Auch bei Befürwortern von SPD (24 Prozent) und Grünen (23 Prozent) ist die Zustimmung zu dieser Maßnahme vergleichsweise hoch, wobei jedoch größere Teile dafür sind, ganz von einer Einmischung abzusehen. Unions- (18 Prozent) und AfD-Anhänger (6 Prozent) finden alle anderen Lösungsansätze passender als die Gaspipeline zur Disposition zu stellen. Und auch bei den Linken können sich nur 15 Prozent für diese Maßnahme erwärmen.

Für die repräsentative Erhebung waren am 4. Februar 1.000 Personen in Deutschland im Alter von 16 bis 75 Jahren online befragt worden. (pm)


Quelle: Tagesspiegel, 18.1.22

Pro und Contra zum Rüstungsexport Soll Deutschland Waffen an die Ukraine liefern?

Nicht nur die Politik streitet über die richtige Hilfe für das von Russland bedrohte Land. Auch unsere Redaktion ist sich uneins. Ein Pro und Contra.

Großbritannien hat beschlossen, die Ukraine mit Waffen zu beliefern. Diese Entscheidung setzt die Bundesregierung unter Druck. Sollte Deutschland nachziehen? Ein Pro von Christoph von Marschall und Contra von Malte Lehming.

Pro Waffenlieferungen (Christoph von Marschall)

Die Resistenz bei SPD und Grünen gegen eigene Lernerfahrungen ist erstaunlich. Sie verweigern der Ukraine die Lieferung von Verteidigungswaffen. Sogar Schutzwesten und Helme sind umstritten. Sie hatten sich doch in den Jahrzehnten seit Ende des Kalten Kriegs mehrfach zur Einsicht durchgerungen: Der Grundsatz, keine Waffen in Spannungsgebiete zu liefern, ist unmoralisch, wenn man damit den Opfern übermächtiger Nachbarn die Chance zur Verteidigung nimmt. In den Balkankriegen mussten Zehntausende sterben, ehe Deutschland den Bedrängten half. Eine rot-grüne Regierung schickte die Bundeswehr in den Kosovokrieg zum Schutz der Albaner vor den Serben.

Als die Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien und im Irak wütete, rüstete Deutschland Kurdenmilizen mit Waffen aus, damit sie religiöse Minderheiten wie die Jesiden vor den Mördern retten. Als Robert Habeck im Mai nach einem Frontbesuch in der Ostukraine sagte, man könne den Angegriffenen Abwehrwaffen nicht verweigern, durfte man hoffen: Der innerparteiliche Streit ist geklärt. Die Grünen sind endgültig in der Realmoral angekommen.

Und nun wieder zurück auf Start, unter Rückgriff auf Argumente, die empirisch widerlegt sind? Das Exportrecht ist kein Hindernis, wenn man es nicht zu einem machen will. Das zeigt die Bewaffnung der Kurden. Zur Behauptung, die Lieferung von Abwehrwaffen führe zur Eskalation, sagen Amerikaner und Ukrainer: Die Aufständischen hätten ihre russischen Panzer zurückgezogen, als publik wurde, dass die Ukraine panzerbrechende Waffen aus den USA erhalten hat.

Großbritannien und die USA liefern weitere Verteidigungswaffen, darunter zur Luftabwehr, um Russlands militärische Vorteile zu kontern. Es geht nicht darum, die Ukraine so auszurüsten, dass sie einen Krieg gegen Russland gewinnen kann; sondern dass der Preis an gefallenen Soldaten, Kriegs- und Besatzungskosten für Putin abschreckend hoch wird. Die Ukraine ist heute nicht mehr eine so leichte und billige Beute wie die Krim 2014. Viele Ukrainer sind zur Gegenwehr entschlossen – und im Fall einer russischen Besatzung zu Widerstand. Ihr Land solle für Putin so schwer verdaulich werden wie ein Stachelschwein für Raubtiere, heißt es.

Reicht das aus, um Putin vom Angriff abzuhalten? Das weiß nur er selbst. Er hat seine Truppen schon einmal aufmarschieren lassen und sie wieder abgezogen, offenbar weil ihm der Preis für einen Angriff zu hoch war. Warum nicht wieder?

Dennoch, da liegt ein ernster Einwand: Falls Putin fest entschlossen ist, anzugreifen, könnten Waffenlieferungen einen Krieg verlängern, den die Ukraine mit umso mehr Toten bezahlt. Aber: Sollten die Ukrainer diese Abwägung nicht besser selbst treffen? Es klingt nach einem weiteren Beispiel für überhebliche Sondermoral, wenn Deutschland die Haltung einnimmt, es wisse besser als die Betroffenen, was gut für sie ist.

Waffenlieferungen an die Ukraine erhöhen die Chance, dass Putin nicht angreift. Wie erbittert sich die Ukrainer wehren, falls er es doch tut, entscheiden die Ukrainer. Die Ampelparteien sollten auch diesen Teil des Selbstbestimmungsrechts achten.

Contra Waffenlieferungen (Malte Lehming)

Der Westen ist entschlossen, Wladimir Putin als Bluffer zu entlarven. Dessen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine ist der größte in Europa seit Ende des Kalten Krieges. Der Autokrat droht mit einem erneuten Einmarsch in das souveräne Land. Zu seinen Forderungen zählen die Verpflichtung der Nato, Georgien und die Ukraine nicht als Mitglieder aufzunehmen sowie der Verzicht auf Raketenabwehrsysteme im östlichen Teil Europas.

Die Nato will keine dieser Bedingungen erfüllen. Sie betont das Recht jedes Landes auf nationale Selbstbestimmung und setzt auf Abschreckung. Putin müsse einsehen, dass eine militärische Aggression mehr Kosten verursacht als Nutzen bringt. Gedroht wird mit scharfen Sanktionen, einem Ausschluss aus dem Dollar-Verrechnungssystem Swift, einem Ende von Nord Stream 2.

Das klingt so richtig wie rational. Das Problem ist nur, Putin ist seinerseits entschlossen, den Westen als Bluffer zu entlarven. Die USA hält er für dekadent, die Europäische Union für zahnlos. Er weiß, dass die Nato der Ukraine militärisch nicht helfen wird. Er glaubt, dass die Angst des Westens vor Chaos auf den Weltmärkten und – im Falle ausbleibender russischer Erdgas-Exporte – vor eisigen Wohnungen und explodierenden Energiepreisen größer ist als der Wille, das Völkerrecht zu verteidigen.

Wie sinnvoll ist es in dieser extrem labilen Situation, in der Fehlinterpretationen nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich sind, an die Ukraine Waffen zu liefern? Die USA tun es, Großbritannien tut es, Deutschland tut es nicht. Das hat allerdings wenig mit Appeasement, sondern viel mit Realpolitik zu tun.

Darauf zu hoffen, dass Putin ohne irgendein vorzeigbares Resultat seine Truppen unverrichteter Dinge wieder abziehen lässt, ist naiv. Sein Land ist Atommacht, er will im Konzert der Mächtigen mitspielen und respektiert werden. Waffenlieferungen an die Ukraine wird er als weiteren Demütigungsversuch empfinden. Ist es das wert?

Zu fragen ist auch, ob solche Waffen in einem Krieg das Leiden vergrößern. Die Ukraine kann Russland militärisch nicht Paroli bieten. Sollte sie es mit Hilfe westlicher Waffen versuchen, könnte Putin das als Vorwand nehmen, noch härter zuzuschlagen. Die Ukraine hat, wie jedes souveräne Land, das Recht auf Selbstverteidigung. In welchem Umfang sie davon Gebrauch macht, muss sich auch an den Erfolgsaussichten messen lassen.

Über Putin darf sich keiner Illusionen machen. Er hat Georgien und die Ukraine überfallen, unterstützt Syriens Assad, lässt Dissidenten ermorden, höhlt die Demokratie aus, wo immer es geht. Die Bedingungen, die er der Nato stellt, sind inakzeptabel.

Doch die Strategie, wie er von einer weiteren Invasion in die Ukraine abgehalten werden kann, erfordert neben Brustgetrommel vor allem Klugheit. Die Kriegsgefahr ist immer dann am größten, wenn ein Aggressor nichts zu befürchten oder nichts mehr zu verlieren hat. Da eine Nato-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine ohnehin nicht akut ist, könnte sie etwa, befristet auf zehn Jahre, auf Eis gelegt werden. Vielleicht gibt sich Putin mit einem solchen Mini-Triumph zufrieden. Es käme auf einen Versuch an.


Quelle: ZEIT online

Ein Gastbeitrag von Herfried Münkler  29. Januar 2022

Ukraine-Krise: Deutsche Sonderwege

 Bei ihrem Umgang mit der Ukraine-Krise beruft sich die Bundesregierung auf Moral und Geschichte. Das soll vor allem verdecken, dass man strategisches Denken verlernt hat.

Auszug aus dem Text von H. Münkler*: „Aber auch in den Kreisen, die sich professionell mit strategischen Fragen befassen, dreht sich fast alles um das so bezeichnete „Sicherheitsdilemma“, wonach eine Anstrengung zur Verbesserung der eigenen Sicherheit, etwa durch die Erhöhung der Verteidigungsausgaben oder die Anschaffung von Abwehrwaffen, zu einem wachsenden Bedrohungsempfinden auf der anderen Seite führte, auf das diese dann ihrerseits mit der Erhöhung der Verteidigungsausgaben reagiere, wodurch sich Erstere noch mehr bedroht fühle und so weiter. So kommt eine Spirale in Gang, bei der jede Anstrengung zur Verbesserung der eigenen Sicherheit tatsächlich zu erhöhter Unsicherheit führt, weil die Rüstungspotenziale beider Seiten in der wechselseitigen Wahrnehmung immer bedrohlicher werden.

Dieses Dilemma der sich gegenseitig konterkarierenden Sicherheitsanstrengungen ist gut beobachtbar und die naheliegende Konsequenz daraus lautet, die Rüstung in gegenseitigem Einvernehmen auf möglichst niedrigem Niveau festzuschreiben und so die Spirale des Hochrüstens anzuhalten. Auf diese Weise ist es einst gelungen, eine mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Katastrophe führende Eskalation des Ost-West-Konflikts zu vermeiden. Das Problem bei dieser Lösung besteht allein darin, dass sich beide Seiten nicht nur über Gleichartigkeit und gleichen Umfang ihrer Waffensysteme verständigen, sondern auch auf ein Regime der gegenseitigen Kontrolle einlassen müssen.

Als man das Sicherheitsdilemma und den Ausweg aus ihm zum Passepartout der Konfliktbearbeitung erklärte, hat man jedoch eine seiner wesentlichen Voraussetzungen übersehen, nämlich die, dass beide Seiten gleich stark und gleichartig aufgestellt sein, kurzum: dass sie sich symmetrisch zueinander verhalten müssen.

Nur unter diesen Umständen ist der Verzicht auf weitere eigene Rüstungsanstrengungen mit dem Ausstieg aus dem Einstieg in die als Sicherheitsdilemma bezeichnete Aufrüstungsspirale gleichbedeutend. Dann, aber auch nur dann, ist der Verzicht auf Waffenlieferungen an einen sich durch die Rüstung eines anderen bedroht fühlenden politischen Akteur ein Vermeiden eskalierender Aufrüstung. Ist dagegen die sich bedroht fühlende Seite strukturell unterlegen, läuft der Verzicht auf ihre Aufrüstung – oder die Verweigerung von Waffenlieferungen – auf die Festschreibung dieser Unterlegenheit hinaus.

Die ist womöglich hinzunehmen, wenn der unterlegene Akteur in Allianzen eingebettet ist, die diese Unterlegenheit ausgleichen. Ist das nicht der Fall, wird die strukturell unterlegene Seite zum Einflussgebiet ihres überlegenen Nachbarn. Auf die Ukraine bezogen heißt das: Da die Bundesregierung sich mehrfach gegen den Nato-Beitritt der Ukraine positioniert hat, läuft die Verweigerung von Waffenlieferungen auf die Billigung ihres Status als Einflussgebiet Russlands hinaus. Man kann das politisch wollen, weil man das Sicherheitsbedürfnis Russlands für höherrangig hält als das der Ukraine, aber dann sollte man das auch sagen und vor allem begründen, warum man dieser Auffassung ist, und nicht mit schiefen historischen Vergleichen und durchsichtigen moralischen Behauptungen daherkommen, wie es jetzt der Fall ist. Das aber würde auf eine Debatte über Strategie und Geopolitik hinauslaufen, zu der keine der im Bundestag vertretenen Parteien derzeit bereit und in der Lage ist.“

*Herfried Münkler lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018 als Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Autor zahlreicher Bücher.

Hier den ganzen Beitrag lesen

 

Aufrufe/Appelle zur Ukraine-Krise

Aufruf zur Ukraine-Krise: Friedenspolitik statt Kriegshysterie!

Hier der LINK zur Website, die den Aufruf „Friedenspolitik statt Kriegshysterie“ publiziert.

„Die Krise um die Ukraine hat sich zur ernsten Bedrohung des Friedens in Europa zugespitzt.

Eine einseitige Schuldzuweisung an Russland, wie sie von einigen westlichen Regierungen und in den großen Medien vorgenommen wird, ist nicht gerechtfertigt und nimmt zunehmend den Charakter von Kriegspropaganda an.

Trotz der Militärmanöver in der Nähe zur Ukraine hat Russland kein Interesse an einem Krieg, der für alle Seiten katastrophale Folgen hätte. Es stehen ähnlich viele Soldaten auf der ukrainischen Seite und bedrohen die von pro-russischen Rebellen kontrollierten Gebiete in der Ostukraine. Auch ohne kriegerische Absicht besteht angesichts der angespannten Situation die Gefahr, dass eine Provokation zum Funken wird, der das Pulverfass explodieren lässt.

Es ist ein legitimes Sicherheitsinteresse Moskaus, dass die Osterweiterung der NATO, die seit 1999 immer näher an die russischen Grenzen heranrückt, nicht auch noch auf die Ukraine ausgedehnt wird. Das würde die Vorwarnzeit für Moskau bei einem Angriff mit Atomraketen auf 5 Minuten verkürzen.

Die aktuelle Krise ist Teil eines globalen und seit längerem bestehenden Konflikts, dessen Wurzeln im Anspruch der USA liegen, „dass Amerika wieder die Welt führt,“ wie es der US-Präsident formuliert. Die europäischen NATO-Partner schließen sich dem mit einigen Nuancierungen als Juniorpartner an. Dagegen lehnen andere, darunter Russland, eine westliche Dominanz ab und wollen als gleichberechtigte Partner in einer multipolaren Weltordnung respektiert werden.

Es ist an der Zeit, dass das Prinzip der ungeteilten, gemeinsamen Sicherheit wieder akzeptiert wird, wie es bereits im Kalten Krieg anerkannt wurde. Im Atomzeitalter kann keine Seite ihre Sicherheit auf Kosten der anderen erhöhen. Sicherheit gibt es nur gemeinsam. Dauerhafter Frieden mit Russland erfordert daher eine gesamteuropäische Friedensordnung.

Erste Schritte müssen eine Demilitarisierung entlang der russisch-ukrainischen Grenze und an den Grenzen zwischen Russland und der NATO sein, sowie die Umsetzung des Abkommens von Minsk II. Es sieht einen Waffenstillstand vor, Dialog der Konfliktparteien und einen Sonderstatus der Regionen Donezk und Luhansk innerhalb der Ukraine. Durch einstimmigen UN-Sicherheitsratsbeschluss hat Minsk II auch verbindlichen Völkerrechtsstatus. Die Umsetzung wird jedoch hauptsächlich von der Ukraine blockiert. Sanktionen werden an dem Konflikt nichts ändern. Sie schädigen sinnlos sowohl Russland als auch die anderen europäischen Länder.

Kräfte, die mit aggressivem Nationalismus und Revanchismus die Spannungen anheizen, müssen auf allen Seiten zurückgedrängt werden.

Propagandakrieg, Säbelrasseln, Sanktionen und Aufrüstung müssen aufhören. Stattdessen brauchen wir Deeskalation und Diplomatie. Dies umso mehr, als die globale Bedrohung durch Klima- und Umweltkatastrophen nur durch internationale Kooperation abgewendet werden kann.

Wir fordern:

  • Konkrete Schritte zur Deeskalation, keine militärischen Lieferungen an Kiew,
  • Schluss mit Kriegsrhetorik, Konfrontationspolitik und Sanktionen gegen Russland;
  • Aktives Eintreten für die Umsetzung des völkerrechtlich verbindlichen Abkommens Minsk II;
  • Verhandlungen mit Russland auf der Grundlage eines klaren Bekenntnisses zu Entspannung und dem Prinzip der gemeinsamen Sicherheit;
  • Aktives Eintreten für Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen.“

Jetzt unterschreiben – Gemeinsame Sicherheit in Europa gibt es nur mit Russland

Es droht eine militärische Eskalation des Ukraine-Konflikts. Selbst eine größere Konfrontation zwischen NATO und Russland ist nicht auszuschließen. Substantielle Schritte zur Deeskalation sind dringend nötig, um einen größeren Krieg in Europa abzuwenden. Für Frieden und Abrüstung braucht es dringend einen Neustart der Beziehungen mit Russland und eine neue europäische Sicherheitsstruktur, die Russland mit einbezieht.
Das Gebot der Stunde muss Verhandeln statt Schießen sein!

Daher fordere ich die Bundesregierung sowie alle Abgeordneten des Bundestages auf:

  • Exportieren Sie keine Waffen in die Ukraine! Waffen in Krisenregionen tragen nicht zur Konfliktlösung bei!
  • Fördern Sie eine friedliche und diplomatische Bearbeitung des Ukraine-Konflikts mit allen Mitteln der zivilen Konfliktbearbeitung!
  • Leiten Sie auf europäischer Ebene einen Neustart der Beziehungen mit Russland ein, für eine gemeinsame Sicherheitsstruktur in Europa unter Einbeziehung der Sicherheitsinteressen aller beteiligten Staaten!

Hinweis: Die Unterschriftenaktion läuft voraussichtlich bis zum 30. April 2022.

NATO vs. Russland – unterschiedliche Sichten

Die Sicht und Expertise von Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung Tübingen –  aus IMI-Analyse 2022/02 (Update: 4.2.2022)

NATO-Aggression und Russlands Reaktion – Warum sich Russland betrogen und bedroht fühlt – und warum da einiges dran ist

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 24. Januar 2022

Ob ein russischer Angriff auf die Ukraine tatsächlich vor der Tür steht, wie es diverse Akteure derzeit glauben machen wollen, lässt sich nur schwer beurteilen. Aktuell reduzieren jedenfalls die USA ihr Botschaftspersonal, haben eine Reisewarnung herausgeben, Truppen in Alarmbereitschaft versetzt und aus US-Regierungskreisen heißt es, eine russische Invasion der Ukraine könne „jeden Moment stattfinden.“ Andererseits schreibt die FAZ unter Berufung auf deutsche Geheimdienstquellen: „Um es klar zu sagen: Bisher ist kein westlicher Geheimdienst zu dem Schluss gekommen, dass der russische Präsident einen Angriff auf die Ukraine schon befohlen hat – auch die amerikanischen Dienste nicht.“

Was sich aber sicher sagen lässt ist, dass die jüngste Eskalation von der NATO dazu benutzt wird, um genau die Maßnahmen weiter auszubauen, die Russland ohnehin bereits als eklatante Verletzung seiner Sicherheitsinteressen empfindet. Und was sich ebenfalls sagen lässt ist, dass viele der russischen Vorwürfe, die derzeit so empört als Hirngespinste zurückgewiesen werden, alles andere als aus der Luft gegriffen sind. Man muss deshalb die militärische Drohkulisse, die Moskau an der ukrainischen Grenze und jetzt auch in Belarus errichtet hat, noch lange nicht gutheißen und kann dennoch verstehen, dass die Ursachen für die neuerliche Eskalation bei der NATO liegen.

Betrachtet man die am 17. Dezember 2021 präsentierten Vorschläge zur Entschärfung der Lage so wird deutlich, dass Russland vor allem drei Dinge umtreiben: Erstens die Sorge vor einer Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Osteuropa; zweitens die sukzessive Aufrüstung und Eingliederung weiterer osteuropäischer Staaten in die NATO, insbesondere der Ukraine; und drittens vor allem die dauerhafte, aber auch die temporär im Zuge immer häufigerer Manöver erfolgende Ansammlung massiver NATO-Truppenverbände an seinen Grenzen. Betrachtet man weiter die jüngsten Entwicklungen wird ebenfalls deutlich, dass diese Sorgen nur allzu berechtigt sind und zwar in allen drei Dimensionen. Dennoch treffen die russischen Bedenken aktuell nur bei wenigen westlichen Akteuren auf offene Ohren, die überwiegende Mehrheit ist leider weiter auf Krawall gebürstet, weshalb augenscheinlich auch ernsthaft darüber diskutiert wird, die Truppenpräsenz an der NATO-Ostflanke weiter zu erhöhen und sogar erstmals SoldatInnen dauerhaft im Südosten des Bündnisgebietes zu stationieren.

Hier den ganzen Text lesen


In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag  von  Prof. Dr. Herwig Roggemann, FU Berlin, Fachbereich Rechtswissenschaft und Osteuropa-Institut

Probleme der Russlandpolitik als Friedenspolitik – Kritische Anmerkungen zur Russland-Ukraine-Diskussion

„Wir sind in der gefährlichsten Situation, die wir seit Ende des Kalten Krieges erlebt haben“,
warnt Johann Wadephul im Berliner Tagesspiegel. „Es droht nicht weniger als ein Krieg in
Europa.“ Die Warnung ist begründet. Seine und die Ursachenerklärungen und Handlungsempfehlungen anderer Politiker und Pressekommentatoren greifen dagegen zu kurz. Stephan-Götz Richter, Michael Roth und Josef Joffe finden starke Worte für einen aus ihrer Sicht angemessenen Umgang mit Russland.

Der Bundesregierung empfiehlt Richter für die bevorstehenden USA-Russland- Sicherheitsgespräche (und folgende NATO-Russland-Gespräche), die russischen Vorschläge  „eindeutig zurückzuweisen“. Berlin müsse „Russland die Stirn bieten“. Begründung: „Putin zielt auf ein „Rollback“ all dessen, was seit 1990 in Europa in puncto nationaler Befreiung erreicht worden ist“.
Michael Roth erklärt: „Das östliche Europa inklusive der Ukraine ist doch nicht der Vorhof
der Macht von Herrn Putin. Wir müssen endlich das Denken in nationalen Einflußsphären
des 19. Und 20. Jahrhunderts überwinden.“ – Wir sollten nicht auf Putins Propaganda reinfallen. Niemand verlangt von Ländern, die sich der EU annähern wollen, sich von Moskau abzuwenden oder ihre traditionellen wirtschaftlichen oder kulturellen Beziehungen zu Russland abzubrechen.“
Josef Joffe meint: „Seit 2008 befindet er (der russische Präsident Putin) sich auf Expansionskurs: Georgien, Krim, Donbas, Intervention in Syrien, Belarus, Kasachstan.“ – „Er hat noch viel zu tun: Die inoffizielle Wiederherstellung des alten Sowjetimperiums, zumindest im „Nahen Ausland“.
Diese zentralen Behauptungen der Autoren entsprechen weder der Entwicklung in den vergangenen drei Jahrzehnten noch den Hintergründen der gegenwärtigen Konfliktlage. Sie bieten daher keinen geeigneten Ansatz zur Konfliktlösung.

Dies führt Herwig Roggemann im Aufsatz „Russslandpolitik als Friedenspolitik“ vom  31.1.22 sehr differenziert aus.

Udo Lielischkies | Russland-Experte

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Der Aufmarsch der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine. Die Reaktion der USA und der Europäer. Diplomatische Bemühungen, wirtschaftliche Drohkulissen und die Frage aller Fragen: Was will Putin? Udo Lielischkies war lange TV-Korrespondent und ARD-Studioleiter in Moskau. Er hat lange in Russland gelebt. Er kennt das Land, die Menschen und das politische System. Und er hat für seine kritische Arbeit viele Preise und Auszeichnungen bekommen.


Bundestag: Aussprache zu den Spannungen zwischen Russland und der Ukraine am 27.1.22 59.191 Aufrufe 

Die Spannungen an der russisch-ukrainischen Grenze waren am Donnerstag, 27. Januar 2022, Thema einer Vereinbarten Debatte im Bundestag. Die gut einstündige Aussprache stand unter dem Thema „Frieden in Europa sichern – Territoriale Integrität der Ukraine darf nicht in Frage gestellt werden“

Mit den Sprechern: 00:00 Annalena Baerbock, Bundesaußenministerin 10:35 Friedrich Merz (CDU/CSU) 18:35 Lars Klingbeil (FDP) 26:10 Stefan Keuter (AfD) 30:45 Alexander Graf Lambsdorff (FDP) 35:42 Gregor Gysi (Die Linke) 40:58 Robin Wagner (Die Grünen) 45:16 Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) 51:07 Michael Roth (SPD) 57:26 Petr Bystron (AfD) 1:01:27 Bijan Djir-Sara (FDP) 1:06:53 Johannes Schraps (SPD) 1:12:35 Florian Hahn (CDU/CSU) 1:17:54 Joe Weingarten (SPD)


Ukraine-Krise domi­niert Debatte über Außen­politik, EU und Menschen­rechte – Bundestagsdebatte vom 12.1.2022

„In einer Grundsatzdebatte haben die Fraktionen im Bundestag am Mittwoch, 12. Januar 2022, über die Außen-, Europa- und Menschenrechtspolitik und die Vorhaben der neuen Bundesregierung auf diesen Feldern debattiert. Ein Schwerpunkt lag dabei auf dem russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine und die darin liegende Bedrohung für Europa.

Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) stellte fest: „Die Souveränität der Ukraine und die Unverrückbarkeit der Grenzen in Europa sind für uns nicht verhandelbar.“ Eine militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine würde für Moskau „ein hohes Preisschild“ tragen. Die Lösung könne nur Diplomatie sein, „um die aktuellen Spannungen zu lösen“.

Dr. Johann David Wadephul (CDU/CSU) attestierte dem Koalitionsvertrag der Ampelparteien ein hohes Maß an außenpolitischem „Realismus und Pragmatismus“. Gleichwohl würden, etwa in der Bewertung russischer Aggression gegenüber der Ukraine, erste Bruchlinien sichtbar.

Dr. Nils Schmid (SPD) betonte, dass auf eine Aggression Russlands gegenüber der Ukraine wirtschaftliche Sanktionen folgen würden. „Die Optionen liegen auf dem Tisch“ – und zwar abgestimmt innerhalb der EU und mit den USA. Schmid hob die Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU „nach innen wie nach außen“ als ein zentrales Vorhaben der Ampelkoalition hervor.

Petr Bystron (AfD) richtete seine Kritik insbesondere gegen die Grünen, die er mit Blick auf die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg 1999 als „Kriegstreiber“ bezeichnete. Außenministerin Baerbock suche zum Beispiel gegenüber Russland sofort die Konfrontation, obgleich Deutschland im hohen Maße auf Energieimporte angewiesen sei. Sie lege sich auch gleich mit China an, wohin 40 Prozent der in Deutschland produzierten Autos exportiert würden: „Welche Hybris!“

Alexander Graf Lambsdorff (FDP) bezeichnete „strategische Souveränität und strategische Solidarität“ als zentrale Vorhaben der Außenpolitik der Ampelkoalition und kündigte für den Herbst dieses Jahres eine nationale Sicherheitsstrategie an, in der das Drei-Parteien-Bündnis seine außen- und sicherheitspolitischen Ziele, Interessen und Werte definieren und bündeln wolle.

Dr. Gregor Gysi (Die Linke) ging mit der Außenministerin ins Gericht. Im Fall Julian Assange habe sie „vor ihrem Ministeramt“ eine klare Meinung gehabt. Das gelte nun offenbar nicht mehr, „und das geht eben nicht, wenn man eine wertebasierte Außenpolitik“ für sich beanspruche.

Mit Blick auf den Russland-Ukraine-Konflikt erinnerte Gysi daran, dass der russische Präsident Putin 2001 sicherheitspolitisch die Hand ausgestreckt habe, der Westen aber „arrogant“ darüber hinweggegangen sei. Zudem werde mit zweierlei Maß gemessen: Niemals würden die USA und mit ihr die Nato es durchgehen lassen, wenn zum Beispiel auf Kuba oder in Mexiko russische Truppen stationiert würden. „Warum billigen Sie der USA Sicherheitsabstand zu, Russland aber nicht?“ (ahe/12.01.2022)

China und die afrikanischen Länder – wie/und wohin entwickeln sich die Beziehungen in verschiedenen Bereichen?

Quelle: Rosa-Luxemburg-Stiftung

Die Neue Seidenstraße – ein Mega-Projekt, das Welt macht

In der «Neuen Seidenstraße» spiegeln sich die Kämpfe der Gegenwart um wirtschaftliche Vormachtstellung und Alternativen zur Globalisierung.

Diese Ausgabe von maldekstra*  befasst sich mit dem Thema «Seidenstraße». Mit einem Megaprojekt, das Welt macht und in dem sich die Kämpfe der Gegenwart um wirtschaftliche Vormachtstellung und Führungsanspruch in Sachen Globalisierung spiegeln.

Es ist ein wichtiges Thema. Denn China ist zum einen Projektionsfläche für immer wieder aufgerufene Feindbilder, die einen autoritären Monsterstaat beschreiben, der mit der «Seidenstraße» seinen Machtanspruch gegenüber der ganzen Welt deklariert. Zum anderen steht die Frage im Raum, ob es überhaupt ein «kapitalistisches» Projekt ist – dieser Staatssozialismus mit Marktwirtschaft. Und welche Möglichkeiten sich eröffnen, wenn dem nicht so ist.

China schillert und ist schwer zu fassen. Ein Land, dessen Bevölkerung rund 1,4 Milliarden Menschen umfasst, in dem Minderheitenrechte wenig gelten und Opposition einen schweren Stand hat, dem es aber gelungen ist, die Armut im eigenen Land zu besiegen und sich als wirtschaftliche Weltmacht an die Spitze zu arbeiten. Die Geister scheiden sich an vielem, auch bei den Linken.

Diese Ausgabe beleuchtet die verschiedenen Perspektiven und ist der Versuch einer Annäherung an die Widersprüchlichkeit – jenseits der oft so redundanten Vereinfachungen und plakativen Bewertungen.

Die «Neue Seidenstraße» betrifft inzwischen rund zwei Drittel der Weltbevölkerung auf die eine oder andere Art und Weise und ist zunächst einmal ein gigantisches Handelsrouten- und Infrastrukturprojekt. Kapitalistisch bis in die Knochen, zugleich aber aufgrund einer vom chinesischen Staat effizient in die Tat umgesetzten Planwirtschaft geradezu konkurrenzlos. Die großen Investitionen im Rahmen des Projektes werden durch staatseigene Betriebe getätigt. Damit kann der Kapitalismus alter Schule, dem die Planwirtschaft als vermeintlich dichotomisches Gegenüber zur Marktwirtschaft ein Gräuel ist, nicht konkurrieren. Bislang. Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking, brachte es mit folgendem Satz auf den Punkt: «Wir kommen gegen chinesische, vor allem staatliche Konkurrenten in vielen Bereichen weltweit nicht mehr an.» 

China – ideologisch verteufelt, zur Gefahr für die freie Marktwirtschaft stilisiert, als Gespenst einer neuen Weltmacht, die uns alle überrollen wird, an die Wand gemalt – zeigt mit der «Belt and Road Initiative» (BRI) dem Kapitalismus zugleich seine Grenzen wie auch die Möglichkeit einer Überlebensstrategie auf. Die BRI ist sowohl ein Hohelied auf die Globalisierung als auch ein Abgesang auf einen Kapitalismus, der den Staat und seine planwirtschaftlichen Eingriffe bislang höchstens als Wasserträger eigener Verwertungsstrategien geduldet, ihn aber bei jedem darüber hinausgehenden Zugriff in seine Schranken verwiesen hat.

Was des einen Feind, könnte doch des anderen Freund sein, ließe sich schlicht verfügen. Wenn die kapitalistischen Staaten alter Schule jammern, ist die BRI vielleicht ein gutes Projekt für globale Bemühungen und Kämpfe, die Welt besser zu machen. Wäre es so einfach, ließe sich hier Schluss machen.

Die Linke und die über den Begriff «links» hinausgehenden globalen Bewegungen gegen ein Wirtschaftssystem, das sich mit seinem hemmungslosen Wachstumsparadigma anschickt, den Planeten für Menschen unbewohnbar zu machen, sind sich ganz und gar nicht einig, ob China mit seinem weltumspannenden Megaprojekt geeignet ist, einen alternativen Entwicklungspfad einzuschlagen, ein besseres Ordnungsmodell gegenüber der realkapitalistischen Moderne und deren Folgen zu schaffen.

Die Verunsicherung im Westen ist zugleich eine Verunsicherung der globalen antikapitalistischen Bewegungen. Die Kontroverse schlägt nicht nur schwer überbrückbare Schneisen, sie führt auch dazu, dass Proteste gegen die mit der BRI einhergehende Zuspitzung ökologischer und sozialer Verwerfungen nicht global sind. Sie finden hier und da statt, sind überlagert durch von Staats wegen ausgetragene nationalstaatliche Konflikte und lassen jene Bevölkerungen, die am Ende als Verlierer*innen dastehen werden, kaum zu Wort kommen. Hier liegt die Verantwortung linker Kritik und antikapitalistischer Bewegungen.

Die aber sind erst einmal gehalten und damit befasst, sich ein Verständnis davon zu erarbeiten, wie Chinas Aufstieg zu bewerten ist. Kann China als marktsozialistische Alternative und demzufolge als postkapitalistische Hoffnung betrachtet werden? Und wenn man es so betrachtet, käme dies komparatistischer Schönfärberei gleich? Ist doch China zudem ein großes demokratisches Defizit mit seinen Bestrebungen, im Land für eine Ordnung zu sorgen, die von Staats wegen als einzig richtige postuliert wird.

Seit den 1990er Jahren strebt China nach einer «ökologischen Zivilisation», was sich in seiner Umweltgesetzgebung niederschlägt. Von einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und ökologischer Nachhaltigkeit kann jedoch bei weitem noch nicht die Rede sein. Ein Bericht des World Wildlife Fund (WWF) besagt, dass von den durch die BRI weltweit geschlagenen «Korridoren» insgesamt 1.739 Schlüsselgebiete biologischer Vielfalt betroffen sein werden. Es ist mit einer verstärkten Umweltverschmutzung, mit der Ausbreitung invasiver Arten, dem Verlust von Lebensräumen, einer wachsender Nutzung fossiler Brennstoffe und mehr Treibhausgas-Emissionen zu rechnen. Trotzdem liegt in der BRI zumindest die Chance, dass China vor allem Weltmacht wird, indem es die Führungsrolle bei der Förderung von Nachhaltigkeit übernimmt.

Weder Verteufeln noch Schönreden sind geeignet, für diese Chance zu kämpfen. Global. Gemeinsam. Und klug. 

Kathrin Gerlof

*maldekstra ist ein publizistisches Format, das internationalistische Diskurse und Praxen entlang von zentralen Themenlinien diskutiert. Diese großen Themen werden bei maldekstra entlang von konkreten Perspektiven anschaulich erzählt: internationale Partner und Personen der Rosa-Luxemburg-Stiftung werden vorgestellt, Fachdebatten übersetzt und sowohl die Vielfalt, als auch das Gemeinsame internationaler Entwicklungen aufgespürt. Möglicherweise erscheint die Welt dabei anders als bisher gewohnt – in einer linken weltgesellschaftlichen Perspektive. 

maldekstra ist ein Kooperationsprojekt, das die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit der common Verlagsgenossenschaft e.G.  herausgibt. Sie erscheint mehrmals im Jahr als Beilage in der Wochenzeitung der Freitag und der Tageszeitung neues deutschland sowie online bei rosalux.de.

Auszug aus dem Aufsatz von Muhidin Shangwe*

Keine Kolonialgeschichte. Über die Beziehungen zwischen China und Afrika vor historischem Hintergrund

Für den afrikanischen Kontinent ist China aus unterschiedlichen Gründen wichtig, von denen ich vier nenne:

  • Erstens liefern die Chinesen greifbare Ergebnisse in Form von Straßen, Eisenbahnen, Häfen und Flughäfen. An derartiger Infrastruktur-Entwicklung haben westliche Kreditgeber seit dem Kalten Krieg wenig Interesse gezeigt.
  • Zweitens verfolgt Peking im Umgang mit afrikanischen Ländern eine Politik der Nichteinmischung, was die Beziehungen wie eine gleichberechtigte Partnerschaft erscheinen lässt.
  • Drittens hat China keine Kolonialgeschichte auf dem afrikanischen Kontinent. Anders als etwa Christoph Kolumbus gilt Zheng He, der legendäre chinesische Admiral, dessen Expeditionen ihn im 15. Jahrhundert an die Küste Ostafrikas führten, nicht als Kolonialherr. Seine gut gemeinten Expeditionen symbolisieren im gegenwärtigen Beziehungsgeflecht beider Länder Chinas gute Absichten.
  • Viertens lässt sich Chinas wirtschaftlicher Wandel in Echtzeit mitverfolgen, und deshalb glauben viele Afrikaner*innen, dass auch bei ihnen eine solche Entwicklung möglich ist.

All diese Faktoren begründen eine Soft Power, die genau genommen den größten Unterschied beispielsweise zu Europa ausmacht:

  • Während die Chinesen für den Bau einer Straße in einem afrikanischen Land einen Kredit zu Sonderkonditionen gewähren und einen Bauunternehmer stellen, würden die Europäer von diesem Land verlangen, dass es zuerst an der Korruptionsbekämpfung arbeitet, um überhaupt kreditwürdig zu sein.
  • Den Europäern sind Menschenrechte genauso wichtig wie Straßen, wenn nicht sogar wichtiger – was vom Empfängerland in der Regel als Einmischung in innere Angelegenheiten empfunden wird.
  • Und wo sich die Chinesen stolz auf eine wohlwollende Darstellung der gemeinsamen Geschichte beziehen, blicken Europäer mit einer aus der kolonialen Schuld resultierenden Verlegenheit auf ihre früheren Beziehungen zu Afrika.

Chinas wirtschaftsorientierter Ansatz ist innerhalb und außerhalb Afrikas auf vielfältige Kritik gestoßen, der Hauptvorwurf lautet, dass Afrika durch die „Schuldenfallen-Diplomatie“ neu kolonisiert werde. Peking nutze arme afrikanische Länder aus, indem es ihnen Geld leiht, wohl wissend, dass sie nicht in der Lage sind, es zurückzuzahlen. Säumige afrikanische Schuldner würden zur leichten Beute Chinas, das Vermögenswerte beschlagnahmen oder sich den Zugang zu natürlichen Ressourcen sichern wolle.

Die Untersuchungen derartiger Vorwürfe ergeben bisher allerdings keine Anzeichen dafür, dass Peking bei der Kreditvergabe absichtlich auf säumige afrikanische Gläubiger spekuliert. Eine Studie zeigt, dass chinesische Kredite in Afrikas Kampf um ein tragbares Schuldenniveau nur eine geringe Rolle spielen. Darüber hinaus übersieht der Schuldenfallen-Vorwurf oft den realen Kreditbedarf und spricht dem Kontinent so pauschal eigene Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit ab.

Dennoch ist ein Teil der Kritik nur schwer von der Hand zu weisen, insbesondere, was Chinas Nichteinmischungsstrategie anbelangt.

Peking hat in Afrika diplomatische Erfolge errungen, indem es sich der jeweiligen politischen Führung anbiederte, häufig auf Kosten der afrikanischen Bürger und der Zivilgesellschaft. Seine Gleichgültigkeit gegenüber den Gräueltaten in Darfur zum Beispiel wurde von einigen afrikanischen Wissenschaftlern kritisiert, die eine Verurteilung aller Beteiligten einschließlich der Chinesen forderten. In der Tat ist dies die Schattenseite einer Diplomatie, die Akteure außerhalb der Regierungen viel zu wenig zu Rate zieht – trotz seit Jahren existierender zivilgesellschaftlicher Austauschprogramme.

Die Erfahrung anderswo hat uns gelehrt, dass dieser Ansatz sowohl für China als auch für die Partnerländer kontraproduktiv ist.

  • Der Hambantota-Hafen in Sri Lanka beispielsweise geriet auch deshalb in Verruf, weil China sich nicht für die dortige Innenpolitik interessierte. Das ehrgeizige Projekt ging vorrangig auf das Bestreben des damaligen sri-lankischen Präsidenten zurück, seiner Heimatstadt ein bombastisches Geschenk zu machen. Doch die Bedenken der dortigen Zivilgesellschaft oder anderer Akteure wurden von Peking nicht entsprechend berücksichtigt, bevor es das Projekt in Angriff nahm.
  • In Kenia ist die übermäßig teure Mombasa-Nairobi-Eisenbahn – gebaut mit einem chinesischen Darlehen und von einem chinesischen Unternehmen – in die Diskussion geraten. Es ist unklar, ob die größte Volkswirtschaft Ostafrikas in der Lage sein wird, die Schulden zu bedienen, und von afrikanischer Seite werden ernsthafte Fragen dazu gestellt, ob die Wirtschaftlichkeit der Eisenbahn die chinesische Seite überhaupt interessierte oder ob es nur um die allzu bereitwillige Erfüllung des Eisenbahn-Wunsches der kenianischen Führung ging.
  • Auf dem vierten Wanshou-Forum 2018 versuchte ein Kollege aus Malawi am Beispiel des neu errichteten, hochmodernen Parlamentsgebäudes zu zeigen, wie China seinem Land hilft. Da das Thema des Forums die Armutslinderung war, fragte ich, wie das Parlamentsgebäude dazu beitragen würde, das Leben der Malawier zu verbessern.

Solchen Fragen muss Peking Aufmerksamkeit schenken, bevor es Projekte in Angriff nimmt, die für Menschen in Afrika keinen direkten Nutzen haben.

Das von China im April 2019 herausgegebene Dokument zur Schuldentragfähigkeit für die teilnehmenden Länder der „Belt and Road Initiative“ stimmt deshalb optimistisch, signalisiert es doch, dass China nun die Risikobewertung der betroffenen Staaten mitberücksichtigt.

Unhinterfragt kann Chinas Tendenz, jegliche Kritik als westliche Propaganda zurückzuweisen, leicht dazu führen, dass die tatsächlichen Sorgen Afrikas ignoriert werden. Die weltweite Empörung über die Behandlung afrikanischer Einwanderer in der Stadt Guangzhou nach dem Coronavirus-Ausbruch Anfang des Jahres geht nicht nur auf „Missverständnisse“ und „westliche Propaganda“ zurück, wie es die chinesische Seite gerne behauptet. Diese Haltung geht davon aus, dass Afrikaner leichtgläubig und unfähig sind, Informationen selbst einzuordnen. Auch wenn westliche Medien das Thema weidlich ausschlachteten, äußerten Afrikaner selbst öffentlich wie über diplomatische Kanäle starke Bedenken und bestellten sogar chinesische Diplomaten ein. Eine derartige Reaktion ausschließlich auf westliche Medienberichte zurückzuführen ist abwegig.

Muhidin Juma Shangwe hat Politikwissenschaft, Öffentliche Verwaltung und Internationale Beziehungen studiert. Er ist Dozent an der Universität von Daressalam, Tansania. Derzeit befasst er sich mit chinesischer Soft Power in Afrika


Chinas Seidenstraßen in Ostafrika | Doku | Wirtschaftsgürtel | Handelsnetzwerk

4.563 Aufrufe  23.09.2021


Black China – Afrika träumt den chinesischen Traum Doku (2018)

https://www.youtube.com/watch?v=7SsV5KFvJp0

Zahlreiche Afrikaner folgen dem „Chinese Dream“ und wollen in China zu Geld kommen. Doch werden sie fernab der Heimat auch glücklich? Eine Doku schaut genauer hin.

Rund zwölf Millionen Menschen leben in der chinesischen Metropole Guangzhou. Sie ist die Hauptstadt der Provinz Guangdong. Die Region im Perlflussdelta gilt wegen seiner Ballung an Industrie- und Wirtschaftskraft auch als „Fabrik der Welt“. So gut wie alles gibt es in Guangzhou, das mit seinen ultramodernen Bauten mancherorts an eine Kulisse aus „Blade Runner“ erinnert, zu kaufen. Das beinahe uneingeschränkte Angebot zieht Händler an. Viele von ihnen kommen aus Afrika.

Der Film „Black China“ des in Brüssel in Belgien geborenen Regisseurs Inigo Westmeier begleitet afrikanische Immigranten in ihrem neuen Land der Träume. Doch erfüllt China diese Sehnsucht nach einer blühenden persönlichen Zukunft wirklich? „Die Chinesen sind nur nett, wenn sie etwas von einem wollen“, sagt eine der Eingewanderten aus dem fernen Kontinent. Ihre Hoffnungen haben sich.

Dabei fielen die neuen Beziehungen zwischen Einheimischen in Guangzhou und den ihnen unbekannten Migranten mit Beginn einer Einwanderungswelle in den 1990er-Jahren zunächst auf fruchtbaren Boden. Der Handel blühte zwischen China und afrikanischen Ländern wie dem Kongo, Senegal oder Nigeria. Als jedoch immer mehr von dort kamen, Stadtviertel wie das verächtlich genannte „Chocolate Town“ entstanden, wuchsen auch die Vorbehalte.

Da die chinesische Gesellschaft in der Vergangenheit kaum Erfahrung mit Einwanderungsbewegungen gesammelt hatte, ist der Druck auf die Neuankömmlinge größer geworden. Verschärfte Visa-Bestimmungen sollten ein dauerhaftes Bleiben der Fremden verhindern, die Polizei unternahm eindeutig ethnisch-motivierte Kontrollen. Sogar Rassismus brach sich Bahn. Ein afrikanischer Migrant mit ehemals chinesischer Freundin erinnert sich: „Als wir ihre Großmutter im Krankenhaus besuchten, rief diese nur, der Schwarze solle verschwinden. Raus, raus, raus!“ Eine zweite Beziehung mit einer Chinesin scheiterte, weil diese ausgerechnet am Geburtstag des afrikanischen Mannes lieber mit einem chinesischen Einheimischen knutschte als mit ihm.

Noch ist offen, ob der „Chinese Dream“ vieler Afrikaner endgültig geplatzt ist. Handelsbeziehungen bestehen weiterhin. Nur eben mit anderen Vorzeichen. Nunmehr sind es die Chinesen, die in die vermeintlich armen afrikanischen Länder gehen. Dort bieten sie ihre Waren einfach selbst an. Ein ehemals erfolgreicher Händler in „Chocolate City“ sagt zerknirscht: „Die Afrikaner müssen also nicht mehr hierherkommen, um Sachen zu kaufen.“ China liefere den Konsum. Allerdings nach eigenen Regeln und Bestimmungen. Mögliche neue Arbeitsmöglichkeiten etwa in der Industrie oder Fertigung bringe das Land nicht mit.