Aus dem pandemischen Jetzt

 Quelle: Wochenzeitschrift „der Freitag“ (Auszug aus dem Artikel)

Aus dem pandemischen Jetzt

Corona: Die einen wollen sofort und um jeden Preis alle vor Covid retten, andere fürchten die Spätfolgen dieses Kurses – ist Verständigung möglich?

 Johannes F. Lehmann | Ausgabe 01/2022 27

Politik entscheidet notwendig im Horizont der Gegenwart. Zugleich spielen in der Regel die in der Vergangenheit entwickelten Standards (Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte, Demokratie) und die in der Zukunft liegenden Ziele eine wichtige Rolle. In unserer gegenwärtigen Lage ist dieses Zusammenspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachhaltig gestört, wir stehen im Bann der pandemischen Gegenwart. Wo sich vormals Politik auf mittel- oder langfristige Ziele richtete, vollzieht sie sich heute mehrheitlich in einer Art vollständig geschlossenem Gegenwartshorizont.

Dieser Bann in der Gegenwart hat seinen Grund und seine emotionale Rationalität in der schreckerzeugenden Evidenz von gegenwärtigen Todeszahlen und Bildern, von medial herangezoomten täglichen Infektionszahlen und Nationalrankings in den permanent ermittelten Parametern der Pandemie. Derlei Evidenzeffekte erzeugen nicht nur Affekte der Angst und der diffusen Bedrohung im Starren auf die Bilder der uns täglich gezeigten „vollgelaufenen“ Intensivstationen, der viel zu hohen Infektionszahlen und viel zu niedrigen Impfquoten – sie erzeugen auch den Impuls, jetzt zu handeln.

Angesichts so vieler täglich vermeldeter Toter, so vieler Ansteckungen und der immer drohenden (und immer anderswo stattfindenden oder schon vorbereiteten) Triage schlägt der Schrecken um in unbedingten Handlungswillen. Lebensrettung duldet weder Aufschub noch Relativierungen und auch keine Reflexion über mögliche Folgewirkungen. Rettung ist wie die Gefahr immer gegenwärtig. Im Bann der Gegenwart und ihrer Bilder und medialen Echos entsteht bei der Mehrheit der unbedingte Wunsch, möglichst jetzt möglichst hart durchzugreifen, je härter, desto besser. (Eben diese Logik monierte kürzlich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bei seiner Beurteilung der Ausgangssperre im April 2020 als rechtswidrig, denn bei Grundrechtseinschränkung gilt, dass das mildeste mögliche Mittel zu wählen ist.)

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 01/2022 vom 06.01.2022 Ihnen gefällt der Artikel? Testen Sie den Freitag jetzt 3 Wochen kostenlos! Hier bestellen!

In gewisser Weise ist die große Bereitschaft zu diesem Handeln, das ja sehr viele Menschen auch massiv schädigt, mit darauf zurückzuführen, dass unter normalen Umständen das politische Handeln weit weniger auf unmittelbare Gegenwartswirkung abzielt. Will man die Rente sicher machen, dann geht es um Zeithorizonte von 20 bis 30 Jahren, will man Fluchtursachen in Afrika bekämpfen, hat man es mit einem sehr komplexen Geflecht von Faktoren auf verschiedensten Ebenen und sehr langen und auch unabsehbaren Entwicklungen zu tun. Die Effekte des politischen Handelns sind hier auch selten unmittelbar zu beobachten oder kausal eindeutig zuzuweisen. Denkt man schließlich an die Bekämpfung der Klimaerwärmung, geht es ebenfalls um sehr lange Zeiträume – und selbst die zeitnahen Ziele wie das Ende von Kohleverstromung oder Verbrennungsmotor greifen erst in zehn bis fünfzehn Jahren.

Handeln – oder sterben?

Es ist angesichts dieser Komplexitäten und Zeitdistanzen eine nachgerade entlastende Erfahrung, das politische Handeln in der Pandemie so sehr in den Bann der Gegenwart gerückt zu sehen. Es gibt plötzlich nur noch eine Bedrohung. Wir kümmern uns nur um die Gegenwart. Die Kausalitäten scheinen zudem für alle offen auf der Hand zu liegen: Lockdown und Kontaktbeschränkung sorgen für die zeitnahe Abflachung der Kurve, die Erhöhung der Impfquote entlastet die Intensivstationen – und all diese an das politische (Maßnahmen) und eigene (Maßnahmeneinhaltung) Handeln geknüpften Effekte werden bereits innerhalb von zwei bis drei Wochen sichtbar.

In diesem Sinn war das eigene politische und persönliche Handeln schon lange nicht mehr so effektiv, so sinnvoll und auch so eindeutig moralisch richtig wie heute. Angesichts der jetzt zu rettenden Leben verbietet sich jede Diskussion. Rettungspolitik immunisiert sich gegen Kritik, schon weil das Gegenteil von Retten Sterben lassen ist.

Dieser Bann im ausschließlichen Blick auf die Gegenwart beschreibt die Position einer „Mehrheit“, der eine „Minderheit“ gegenübersteht. Selbstverständlich ist die Rede von Mehrheit und Minderheit eine überspitzte Modellierung, die nicht exakt die empirische Wirklichkeit erfasst. Dafür sind beide Gruppen viel zu heterogen. Zur Mehrheit gehören sowohl jene, die harte und immer härtere Maßnahmen fordern, als auch die große Menge der Gleichgültigen, die all das mehr oder wenig kritiklos mittragen und sich um mögliche Folgen keine Gedanken machen.

Zur Minderheit gehören am äußersten Rand irrationale Leugner und verbohrte Verschwörungstheoretiker wie aber auch seriöse Kritiker, die aus ihrer Expertise heraus versuchen, andere und auch gänzlich abweichende Perspektiven einzubringen.

Das Entgegensetzen von Mehrheit und Minderheit ist aber deshalb sinnvoll, da sie sichtbar machen kann, dass beide Gruppen unterschiedliche Gegenstände der Sorge haben, die in unterschiedlichen Zeithorizonten liegen.

Die Minderheit – und im Folgenden geht es ausdrücklich nicht um jene, die glauben, Bill Gates wolle uns mit der Impfung Chips implantieren – ist nach dieser Einschätzung dem Bann der Gegenwart nicht in dieser Weise unterworfen.

Die Objekte ihrer Sorge und der Grund für ihre Kritik an der Coronapolitik sind struktureller, mittel- und langfristiger Natur. In der Gegenwart werden hier Prozesse beobachtet, die als mögliche Anfänge und beginnende Zukünfte Angst und Schrecken erzeugen.

Tut man sich einmal im Kreis namhafter Intellektueller und Kritiker der Coronapolitik unter Medizinern, Statistikern, Politikwissenschaftlern, Journalisten, Philosophen, Soziologen, Rechtsanwälten, Verfassungsrechtlern aller Geschlechter um, dann sieht man schnell, dass jenseits des Banns der Gegenwart ganz andere Gegenstände der Sorge diskutiert werden: die Substanz unserer rechtsstaatlichen Prinzipien, die Funktionsfähigkeit öffentlich-rechtlicher Medien, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Zukunft der Demokratie, die Rolle von Digitalisierung im Aufbau von Überwachung, die Verstärkung sozialer Ungleichheit durch Schulschließung, die Normalisierung der Bindung von Zutrittsrechten an Gesundheitspässe und Kontrollen, die Erosion grundrechtlicher Prinzipien der Gleichbehandlung von Menschen, wenn die Antidiskriminierungsstelle der Bundesregierung ausdrücklich Diskriminierung von Ungeimpften erlaubt.

Gleichsam abgewandt von den Bildern der Intensivstationen debattieren diese Kritiker die möglichen kurz-, mittel- und langfristigen medizinischen, sozialen und politischen Folgen der Pandemiepolitik, wobei die Struktur der Debatte selbst ein wichtiges Feld der Sorge darstellt.

Denn derart abgewandt vom Bann-Blick auf die Coronatoten und die Intensivstationen erscheinen diese Kritiker der Mehrheit schnell als Coronaleugner, als Verharmloser, Schwurbler oder Querdenker. Und zwar schon deshalb, weil sie in ihrer Diskussion nicht im Bann der Gegenwart stehen und deren Horizontschließung mit ihren Sorgen um strukturelle und zukünftige Entwicklungen sprengen. Aus der Perspektive des Gebannten kann aber die Tatsache, nicht vom Schrecken der Krankenhausbilder und der Infektionszahlen gebannt zu sein, nur bedeuten, die eigentliche Gefahr zu leugnen oder zu verharmlosen.

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Johannes F. Lehmann ist Professor für Neuere deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Querdenker, Corona-Leugner, Wutbürger – Woher kommt der Frust? | SWR Doku

Querdenker, Corona-Leugner, Wutbürger – Woher kommt der Frust? | SWR Doku1.614.568 Aufrufe – 28.10.2020

Die „Querdenker“-Demonstrationen mobilisieren tausende Bürgerinnen und Bürger aus allen Gesellschaftsschichten und Milieus, die sich sonst eher nicht begegnen würden. Sie alle vereint der Frust über die Corona-Maßnahmen und die Wut auf die Regierungen und Eliten, die sie verordnen. Woher kommen diese extremen Gefühle ausgerechnet im reichen Südwesten? Weshalb spielen sie in den klassischen und sozialen Medien eine so große Rolle? Widerstand gegen Corona-Maßnahmen Die „Querdenker“-Bewegung fordert die Aufhebung der Einschränkungen durch die Corona-Verordnungen und behauptet, die Grundrechte seien ausgehebelt.

SWR Reporter Kolja Schwartz spricht mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern verschiedener Querdenker-Demonstrationen über ihre Meinung und ihre Beweggründe. Außerdem besucht der SWR Reporter Betroffene, die die Auswirkungen des Covid-19-Virus erlebt haben und die Demonstrationen nicht nachvollziehen können. Expertinnen und Experten ordnen die Vorwürfe der Querdenker-Bewegung sowie die Ängste rund um die Corona-Pandemie ein. Die Reportage nähert sich dem Phänomen „Bürgerfrust“ aus verschiedenen Perspektiven an. Diese Doku von Kolja Schwartz trägt den Originaltitel: Querdenker, Corona-Leugner, Wutbürger – Woher kommt der Frust im Südwesten?,

Ausstrahlungsdatum: 28.10.20. #swrdoku #swr Alle Aussagen und Fakten entsprechen dem damaligen Stand und wurden seitdem nicht aktualisiert.

Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche: das unsichtbare Kind

Quelle: Rechercheverbund CORRECTIV und der Bayerische Rundfunk (BR)

Das unsichtbare Kind

Stefan ist sein echter Vorname, aber sein Nachname soll ungenannt bleiben. Der Missbrauch, der seine Kindheit bestimmte, soll nicht mit seinem heutigen Leben verbunden werden.

Die Geschichte, die er CORRECTIV und dem Bayerischen Rundfunk (BR) erzählt, legt offen, wie das System Missbrauch in der Kirche oft funktioniert, weil es in solchen Fällen nicht nur den einen Straftäter gibt, sondern viele Beteiligte auf allen Hierarchieebenen, die kaschieren, schweigen, Hinweise unterdrücken und die Taten so erst möglich machen.

Der Mann, der Stefan jahrelang missbraucht haben soll, hat 35 Jahre lang als Priester gearbeitet: Peter H., einer der notorischsten Missbrauchstäter in der katholischen Kirche. Wie aus Kirchenakten hervorgeht, soll H. mindestens 23 Jungen zwischen acht und 16 Jahren sexuell missbraucht haben.

Nun verleihen die Aussagen von Stefan dem Fall noch eine neue Tragweite: Zum ersten Mal geht ein Opfer aus der bayerischen Gemeinde Garching an der Alz an die Öffentlichkeit, wo H. ab Ende der 80er Jahre als Pfarrer tätig war. Bislang waren nur weiter zurückliegende Straftaten bekannt. Jetzt zeigt sich: Peter H. hat bis mindestens weit in die 90er Jahre völlig unbehelligt agiert – trotz einer rechtskräftigen Verurteilung 1986 und praktisch unter den Augen des Erzbistums München und Freising.

Recherchen von CORRECTIV und dem BR weisen außerdem nach, dass hohe Würdenträger nicht nur untätig blieben, sondern sich offenbar aktiv daran beteiligten, H. zu decken, sodass dieser immer neue Kinder missbrauchen konnte, und das bis heute straflos.

Der Fall Peter H. hat Schlagzeilen gemacht, auch international: 2010 deckte die New York Times auf, dass die Kirchen über Straftaten H.s Bescheid wusste und ihn trotzdem weiter als Pfarrer einsetzte. Für Empörung sorgten vor allem die Verstrickungen der Kirchenväter bis hoch zu Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI. Eine Recherche von CORRECTIV und ZDF-Frontal wies 2020 weitere Verbindungen zu Ratzinger auf.

Garching gehört zum Erzbistum München und Freising, wo Ratzinger bis zu seinem Wechsel in den Vatikan an der Spitze stand. Später stellte sich Pfarrer H. in Garching jahrelang einen Weihbischof als Aufpasser an die Seite, den eine enge Freundschaft mit Ratzinger verband – dieser unterband den Missbrauch nicht, sondern deckte den Täter.

Gegenüber CORRECTIV und BR lässt Ratzinger über seinen Privatsekretär George Gänswein „klarstellen, dass Papst emeritus Benedikt XVI. nicht über die gegen Pfarrer H erhobenen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs informiert war”.  Aber es gibt Hinweise, die dieser Darstellung zu widersprechen scheinen.

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Ukraine-Konflikt: Realitätscheck

Das IPG-Journal wird vp,m Referat Globale und Europäische Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben.

Quelle: IPG-Journal (Friedrich-Ebert-Stiftung)

Außen- und Sicherheitspolitik 14.01.2022 | Nickolay Kapitonenko

Realitätscheck

Russland kann von den USA kaum weitreichende Zugeständnisse erwarten. Aber auch die Ukraine wird ihre Politik überdenken müssen.

Seit Dezember des vergangenen Jahres haben die diplomatischen Aktivitäten rund um das Thema der europäischen Sicherheit an Fahrt aufgenommen. Nach dem virtuellen Treffen von US-Präsident Biden und dem russischen Präsidenten Putin Ende des Jahres war auch diese Woche von zahlreichen Gesprächen geprägt. Ein zentrales Thema bleibt dabei der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze.

Eine Eskalation des bewaffneten Konflikts ist und bleibt für Russland eine unattraktive Option: Der Preis ist zu hoch.

Eine Eskalation des bewaffneten Konflikts ist und bleibt für Russland eine unattraktive Option: Der Preis ist zu hoch. Und ob damit überhaupt etwas zu erreichen wäre, ist höchst zweifelhaft. Der Kreml nutzt jedoch die erhöhte Aufmerksamkeit – vor allem der Medien und der öffentlichen Meinung im Westen –, um seine eigene internationale Sicherheitsagenda ins Gespräch und nach vorne zu bringen.

Seit der Annexion der Krim durch Russland scheint dieser Versuch der am besten vorbereitete zu sein. Der Westen ist nicht an einer Verschärfung der Konfrontation interessiert, sondern zum Dialog mit Moskau bereit. Seit die USA sich auf die chinesische Bedrohung konzentrieren, hat sich für Russland die politische Landschaft verändert. Dass die Bemühungen um die Beilegung des Konflikts im Donbas in der Sackgasse stecken, hat Einfluss auf die Erwartungen und Hoffnungen der europäischen Staaten. Unterm Strich gibt es nun die Bereitschaft, mit Russland nach der diplomatischen Isolation der letzten sieben Jahre über die Frage zu sprechen, was ihnen Sorge bereitet – auch wenn es in dieser Frage zahlreiche „rote Linien“ gibt.

Russland bringt dabei immer dieselben Themen zur Sprache: die NATO-Osterweiterung, die Raketen, die militärische und politische Annäherung der postsowjetischen Länder an den Westen sowie die von all diesen Faktoren ausgehende Bedrohung Russlands. Moskau schlägt vor, dass die NATO sich verpflichtet, keine Staaten der ehemaligen UdSSR in den Kreis ihrer Mitglieder aufzunehmen und keine militärischen Aktivitäten auf dem Territorium dieser Staaten durchzuführen. Dies beinhaltet auch, dass diese Länder nicht von schweren Bombern der NATO überflogen werden und dass sich keine Kriegsschiffe in der Nähe des russischen Staatsgebiets aufhalten dürfen. Auch auf die militärische Zusammenarbeit auf bilateraler Ebene solle die NATO verzichten. Als Gegenleistung bietet Russland etwas an, das ganz entfernt nach Entspannung klingt: Man solle sich nicht gegenseitig als Feind betrachten und keine Kurz- und Mittelstreckenraketen an Orten stationieren, von denen aus das Staatsgebiet des jeweils anderen erreicht werden könne.

Diese Position erscheint – zumal nach der Annexion der Krim und der Aggression Russlands im Donbas – vielen unangemessen. Wenn ein Land, das die Grundprinzipien der Weltordnung verletzt und obendrein Druck aufbaut, indem es mehr als 100 000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammenzieht, mit dieser Einstellung Gespräche über eine neue internationale Sicherheitsarchitektur führen will, habe das nicht viel mit einem vertrauensvollen, auf Frieden und Konsens ausgerichteten Dialog zu tun. Viele westlichen Politiker sehen zudem nicht gern, dass Russland überhaupt Forderungen stellt: Ihrer Meinung nach steht Moskau kein Vetorecht gegen die Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO zu.

Aus russischer Perspektive stellt sich die NATO – und womöglich sogar der Westen insgesamt – als Bedrohung für die russische Sicherheit dar.

Aus russischer Perspektive stellt sich die NATO – und womöglich sogar der Westen insgesamt – als Bedrohung für die russische Sicherheit dar. Dementsprechend wird die Situation im postsowjetischen Raum zum Entweder-oder-Spiel: Wer für den Westen ist, ist gegen Russland. In diesem Koordinatensystem wird es zur prioritären Aufgabe Russlands, Staaten wie der Ukraine oder Georgien die Wahlfreiheit zu nehmen. Russland will um jeden Preis verhindern, dass diese Länder NATO-Mitglieder werden oder vom Westen irgendwelche anderen effektiven Sicherheitsgarantien erhalten. Auf dieser Logik lässt sich schwerlich eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa aufbauen, weil sie voraussetzt, dass die Souveränität einer ganzen Reihe von Staaten beschnitten wird, die ja gerade ein Kernbestandteil der heutigen Weltordnung ist.

Dass die Biden-Administration zum regelmäßigen Dialog mit Russland bereit ist, wie sich 2021 angesichts der persönlichen und virtuellen Treffen des amerikanischen und des russischen Präsidenten gezeigt hat, sorgt für einen neuen Ton im Austausch mit Moskau. Russland ist nach wie vor auf die europäischen Märkte sowie auf den Zugang zu Technologien und Krediten angewiesen – und damit auch auf die Abschwächung der Sanktionen. Nach einem neuen Rüstungswettlauf steht Moskau wohl kaum der Sinn. Russlands Kooperation mit China bleibt schwierig und wird in ihrer Bedeutung überschätzt.

Die Signale, die der Westen aussendet, sind relativ klar und koordiniert. Dem Westen geht es vor allem um die Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine und um die Bereitschaft, mit Russland grundsätzlich zu sprechen – allerdings nicht über ein Vetorecht in Sachen NATO-Erweiterung. Die USA sind nicht gewillt, die allgemeine europäische Sicherheitsagenda ohne ihre Verbündeten zu erörtern, und richten das Hauptaugenmerk stattdessen auf bilaterale Probleme, die vor allem mit strategischer Stabilität und Cybersicherheit zusammenhängen. Russlands großer geopolitischer Traum von einem „Helsinki 2.0“ dürfte sich wohl nicht erfüllen.

Auch wenn der Kreml vielleicht darauf spekulieren kann, die Geschlossenheit des Westens zu erschüttern und separate Vereinbarungen mit den USA zu treffen, darf er wohl kaum ernsthafte Zugeständnisse erwarten. Die roten Linien in den Verhandlungen mit Washington sind unverrückbar, sodass für Kompromisse nicht viel Spielraum bleibt. Was die Biden-Administration braucht, sind Gespräche über Fragen der strategischen Stabilität. Was sie nicht gebrauchen kann, ist eine weitere Zuspitzung der Krise im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Auch eine weitere Annäherung zwischen Russland und China ist für die USA nicht wünschenswert. Noch wichtiger für die USA ist jedoch, dass die Zuverlässigkeit der NATO und die Handlungsfreiheit in Osteuropa gewahrt bleiben. Mit Blick auf das Kräfteverhältnis deutet alles darauf hin, dass Washington sich in einer stärkeren Verhandlungsposition befindet.

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