Quelle: Kontext, Ausgabe 509 – Von Minh Schredle – Gesellschaft . 30.12.2020
In Hanau hat ein rassistischer Terrorist zehn Menschen ermordet. Meldungen über Rechtsextremismus im deutschen Sicherheitsapparat überschlagen sich. Als Reaktion darauf hat sich im Mai die Stuttgarter Migrantifa gegründet, die für Gefahren sensibilisieren will.
Stell Dir vor, Du wirst von Nazis bedroht und rufst die Polizei. Aber dann sind die Nazis und die Polizei ein und dasselbe. Was klingt, als wäre es der Feder eines drittklassigen Satirikers entsprungen, ist für die Anwältin Seda Başay-Yıldız bittere Realität – und beschäftigt aktuell die „New York Times“: Sie berichtet über den alarmierenden Umstand, dass Başay-Yıldız‘ private Daten, auf denen die Drohungen basieren, von einem Polizeicomputer abgerufen worden sind. Und die renommierte Zeitung ist angesichts der Fülle von Vorfällen, die das Jahr 2020 zu Tage gefördert hat, in Sorge über eine „rechtsradikale Infiltration“ des deutschen Sicherheitsapparates. Das Polizeiproblem, es hat sich überall herumgesprochen – nur in Seehofers Innenministerium noch nicht.
Anil Beşli von der Stuttgarter Migrantifa vermutet, dass es ein bisschen so ist, wie mit dem Zahnarzt, den man dringend mal wieder besuchen sollte, aber tunlichst meidet: aus Angst, dass die Befunde Entsetzliches ans Licht bringen könnten und das Ausmaß der Katastrophe die schlimmen Befürchtungen übertrifft. „Nachdem es fast jeden Tag Meldungen über rechtsextreme Chatgruppen und Polizisten beim Hitlergruß gibt“, sagt Beşli, „kann doch niemandem entgangen sein, dass bei den Behörden nicht alles in Ordnung ist.“
Da gibt es Polizeischüler, die auf dem Basketballplatz „Sieg Heil!“ rufen, aber trotzdem verbeamtet werden. Oder bereits Verbeamtete, die Bilder von Hitler als Weihnachtsmann mit begleitendem „Ho-Ho-Holocaust“ teilen, und trotzdem befördert werden – während die Folge für den Kollegen, der das Verhalten zur Anzeige brachte, eine Versetzung ist. Damit ein Problem strukturell wird, müssen nicht alle Beamten rechtsextrem sein. Es reicht, wenn die Rechtsextremen in Ruhe gelassen werden und ihre Netzwerke etablieren dürfen. „Und obwohl sich da reihenweise Fälle benennen lassen“, fragt Beşli, „will mir ein Seehofer erzählen, dass es in Deutschland kein Racial Profiling gibt?“
Aber immerhin: Die Polizei kommt ihm in der öffentlichen Debatte nicht mehr so unantastbar vor wie noch vor wenigen Jahren. „Da hat es schon eine Diskursverschiebung gegeben.“ Vieles, was in der Community altbekannt sei, sickere langsam zur Mehrheitsbevölkerung durch. Er freut sich zum Beispiel, dass es der erschütternde Skandal um Oury Jalloh – für den Rechtsstaat blamabel auf allen Ebenen – vor Kurzem in Böhmermanns Sendung geschafft hat. „Viele wollen zwar noch nicht wahrhaben, dass die Polizei ein strukturelles Problem mit Rassismus hat“, sagt der 25-Jährige. „Aber in Teilen der Bevölkerung wächst gerade das Bewusstsein dafür, welche Ausmaße das hat.“
Um dieses Bewusstsein zu schärfen, hat sich Ende Mai die Migrantifa in Stuttgart gegründet, kurz nachdem in den USA ein Polizist George Floyd brutal ermordet hatte. Nur wenige Monate zuvor gab es ein weiteres einschneidendes Ereignis, „bei dem klar wurde, wir müssen was tun“, sagt Beşli: Der rassistische Terror von Hanau, der Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovič, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kalojan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu ermordet hat. Zum Gedenktag ein halbes Jahr nach der Tat hatte die Stuttgarter Migrantifa eine Busfahrt organisiert. Doch bedingt durch steigende Corona-Fälle in Hanau, durften statt den erwarteten 3.000 bis 5.000 TeilnehmerInnen nur 249 mitmachen. „Das haben wir akzeptiert, weil wir niemanden gefährden wollen“, sagt Beşli. Aber es hat sie hart getroffen, später, bei höheren Inzidenzen, die Bilder von zehntausenden QuerdenkerInnen zu sehen, die bei der Zurschaustellung ihres Fieberwahns auf jeden Infektionsschutz gepfiffen haben.
Am 19. Februar 2021, dem Jahrestag des Terrors von Hanau, hat die Stuttgarter Migrantifa wieder eine Busfahrt geplant – und hofft darauf, dass die Corona-Lage eine Versammlung zulässt. Müßig zu erwähnen, dass dies zur Zeit problematisch ist und dementsprechend keine Massenaktionen geplant sind. In der Zwischenzeit vernetzt sich die Migrantifa mit anderen politischen Gruppierungen, erzählt Beşli, etwa der Seebrücke. Gemeinsam habe man zuletzt Spenden für Moria gesammelt.