Andrea Ypsilanti und Thomas Seibert, ISM-Vorstand
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Dieser Text wurde vor der Corona-Pandemie verfasst, also vor den in ihrem Ausmaß heute noch gar nicht absehbaren Verwerfungen, die mit ihr durchbrechen. Trotzdem sind die diesem Text zugrunde liegenden Annahmen nach wie vor gültig und aktuell. Mehr noch: Die Nötigung zu einer Verständigung der linken Kräfte nicht nur zu gemeinsamem Widerstand, sondern zu einer Durchsetzungsperspektive ist sehr viel stärker geworden. Nach unserer Überzeugung müssen die Akteur*innen des linken Mosaiks nahezu bis zur Schmerzgrenze aufeinander zugehen und sich aufeinander beziehen. Das kann nicht heißen, bestehende und fortwirkende Unterschiede einfach aufzugeben, sondern das Wagnis auf sich zu nehmen, sie in einem gemeinsamen Projekt und für dessen politische Durchsetzung produktiv zu machen. Das neoliberale, konservative und rechtsextreme Lager sammelt sich auf seine Weise. Progressive Parteien, soziale und ökologische Bewegungen, Kulturschaffende, Wissenschaftler*innen und die vielen an ihrer eigenen wie an der Emanzipation aller arbeitenden Einzelnen müssen das auf ihre Weise tun: müssen riskieren, aus ihren Unterschieden das sie Verbindende, das ihnen Gemeinsame zu suchen.
Wir haben das Institut Solidarische Moderne zu einer Zeit gegründet, als eine rot-grün-rote Koalition noch über eine gesellschaftliche Mehrheit verfügte. Ihr Zustandekommen wurde dann aber von den Parteien verfehlt, die sie hätten bilden sollen. Wir haben in einer solchen Koalition, das war und ist unser wichtigster Punkt, ein Ganzes gesehen, das mehr wäre als die Summe seiner Teile, mehr wäre also als die sozialdemokratische, die grüne und die Partei der Linken je nur für sich. Unser Ziel war und ist es, diesem Ganzen einerseits zum Ausdruck und andererseits zu einer Perspektive seiner Durchsetzung zu verhelfen.
Unser Begriff für diese doppelte Aufgabe ist der einer radikaldemokratischen und sozialökologischen Transformation der bestehenden Verhältnisse. Sie muss und soll über den nationalen Rahmen hinausführen, auf ein mit sich und mit der Welt solidarisches Europa, auf eine globale solidarische Moderne. Mit diesem Projekt haben wir uns und unsere doch eher bescheidenen Kräfte nicht etwa überschätzt, sondern uns als offene „Programmwerkstatt“ einer breiten Mosaiklinken verstanden, die weit über uns selbst hinausreicht. Das Mosaik wiederum sollte nicht einfach eines der drei linken Parteien, es sollte vielmehr das Mosaik ganz verschiedener Formen linker Politik sein. Es sollte dabei Partei-, Zivilgesellschafts- und Bewegungspolitiken mit einer Politisierung kritischer Theorie verbinden – und andersherum. Auf den Punkt gebracht: Eine solidarische Moderne kann nur eine Sache der bewussten Selbsttätigkeit der Gesellschaft wie vieler Einzelner sein.
Dabei blieb uns stets bewusst, dass die in Umfragen immer wieder bestätigte rot-grün-rote gesellschaftliche Mehrheit ungesichert war. Wir haben dazu den Begriff des „dissidenten Drittels“ gebildet, mit dem gesagt werden soll, dass die linken, solidarischen oder allgemeiner die progressiven Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft sicher nur ein Drittel ihrer Mitglieder umfassen, gegenüber zwei Dritteln, die zwischen beiden Richtungen schwanken oder gegebenenfalls eher nach rechts orientiert sind. Optimistisch blieben wir, weil wir der Auffassungen waren und sind, dass das „dissidente Drittel“, wenn es denn zusammenfindet, trotzdem mehrheitsfähig sein kann.
Zum rechten Lauf der Dinge
Zwischenzeitlich ist die jahrelang stabile rot-grün-rote Umfragemehrheit verdampft. Das geschah wesentlich infolge des rasanten Zerfalls der SPD, infolge der offenbaren Stagnation der LINKEN – und infolge einer Drift nach rechts, die in der AfD ihre dynamische Kraft gefunden, mittlerweile aber weite Teile der Gesellschaft erfasst und sich in einer manifesten Verschiebung nicht nur des Migrations-, sondern einiger anderer politischer Diskurse auf konservative oder offen reaktionäre Positionen niedergeschlagen hat. Dabei ist diese Drift nach rechts nicht bloß ein bundesrepublikanisches, sondern ein gesamteuropäisches und nicht zuletzt ein globales Phänomen. Zugleich sind die Schranken, die der Rechtsdrift unserer Gesellschaft einerseits durch die Widerständigkeit sozialer Bewegungen und andererseits durch die Wahlerfolge der Grünen gesetzt wurden, in sich brüchig. Zum einen bindet der erzwungene permanente Abwehrkampf Energien, die zivilgesellschaftliche Initiativen wie soziale Bewegungen anderswo dringend brauchen und fördert dabei deren aus Jahrzehnten des Widerstands gegen neoliberale Angriffe stammende Neigung zur Selbstbeschränkung auf die Defensive.
Zum anderen gibt es starke Tendenzen in der grünen Partei und unter ihren Wähler*innen, die eher auf eine schwarz-grüne Wende zugunsten einer ökologischen Modernisierung des Kapitals als auf eine sozialökologische Transformation setzen. Das grundsätzliche Ungenügen einer schwarz-grünen Wende liegt nun aber darin, dass ihr möglicher Erfolg an den Fortbestand und darüber hinaus an die Stärkung der Vormachtsposition der Bundesrepublik und der Europäischen Union in den globalen Machtverhältnissen und auf dem kapitalistischen Weltmarkt gebunden bleibt. Was das heißt, kann an der letztlich doch wankelmütigen Haltung der Grünen in der Frage der Migrationsabwehr und Migrationskontrolle abgelesen werden. Der entschlossenen Solidarität vieler Amtsträger*innen, Mitglieder und Unterstützer*innen der Grünen mit den Geflüchteten widerspricht die willentliche Teilhabe schwarz-grüner Länderregierungen an der herrschenden Anti-Migrations-Politik. Es kann auch, um aus gegebenem Anlass einen Blick über die Landesgrenze zu werfen, an der ÖVP und den österreichischen Grünen abgelesen werden, die gerade eine schwarz-grüne Koalition eingegangen sind.
Bedauerlicherweise sieht es bei den Sozialdemokrat*innen in dieser Frage nicht besser, sondern wenigstens ebenso düster aus: Immerhin ist die SPD Teil der Großen Koalition, deren Außenpolitik im Verbund mit EU und NATO dem türkischen Präsidenten Erdoğan freie Hand bei all seinen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen gewährt. Und: Auch wenn die LINKE bei diesem wortwörtlich mörderischen Spiel mehrheitlich nicht mitspielt, sondern sich eindeutig an die Seite der Geflüchteten stellt, gibt es doch Kräfte in der Partei und wohl mehr noch in ihrer Wähler*innenbasis, die in dieser wie auch einigen anderen Fragen ebenfalls nach rechts tendieren.
Solidarische oder regressive Moderne
Die politische Lektion der Migrations- und der mit ihnen verbundenen Willkommensbewegungen liegt im Nachweis der Notwendigkeit, die unumgänglich globale Dimension heutiger Gerechtigkeitspolitiken in den Blick zu nehmen. Wir können in dieser Hinsicht ebenso gut von der Klimakrise sprechen, wir können und müssen aber auch vom dramatischen Armutsgefälle nicht bloß in der eigenen Gesellschaft, sondern im Weltmaßstab sprechen. Wir könnten schließlich auch von der globalen Krise überhaupt der Politik sprechen, einer Krise, die sich dramatisch im gewaltsamen Zerfall der überkommenen Weltordnung zeigt, in der Ausweitung der durch Krieg und Gewalt verheerten Weltregionen sowie in der Militarisierung der internationalen Politik und der fortlaufenden Aufrüstung Europas. Wohin man auch sieht, immer geht es darum, dass Gerechtigkeitspolitiken als der Kern linker Projekte stets in globalisierter Dimension gedacht werden müssen – oder aber gar keine Gerechtigkeitspolitiken und damit auch gar nicht mehr „links“ sein können.
Es ist dieser Grund, der die Frage der Migrant*innen zu einer vordringlichen macht – nicht, wie immer wieder unterstellt, irgendeine auf Kosten der „sozialen Frage“ verfolgte „bloß“ linksliberale Multikulti-Versessenheit. Sichtbar wird das, um noch einmal darauf zurückzukommen, in der auch migrationspolitisch begründeten schamlosen Kooperation der EU und der NATO mit dem Kriegsverbrecher Erdoğan.Das alles stellt, davon sind wir überzeugt, nur den Anfang eines möglichen totalen Ausverkaufs aller Errungenschaften der europäischen wie der selbst wieder globalen Demokratisierungsgeschichte dar: den Beginn des Wegs nicht in eine solidarische, sondern in eine regressive und deshalb konsequent autoritäre Moderne. Demonstriert wurde das zuletzt im nicht mehr nur traurigen, sondern erbärmlichen Scheitern der Klimakonferenz von Madrid. Um es auf den Punkt zu bringen: Wer die soziale Frage in der Bundesrepublik vordringlich im nationalen Rahmen stellt, entwirft seine Politik, ob gewollt oder nicht, als Politik für die im Weltmaßstab privilegierten Bewohner*innen des globalen Nordens und in Verteidigung ihrer Privilegien – und verfällt deshalb nicht zufällig, sondern zwingend auf eine Politik der Grenzsicherung um jeden Preis. Die geht dann wiederum nicht zufällig, sondern zwingend über Leichen.
Rot-rot-grün, Grün-rot-rot
Für uns aber bleibt es auch und gerade deshalb bei dem Farbenspiel, dem wir uns von Anfang an verpflichtet haben. Das mag nach der oben stehenden Bilanz überraschen und irritieren. Doch haben wir sowohl hier als auch an vielen anderen Stellen zuvor klargestellt, dass Rot-rot-grün für uns nicht nur eine partei- und koalitionspolitische Angelegenheit, sondern die Sache des Ganzen eines progressiven Politikentwurfs ist, der auf Bewegungen der Straße oder auf zivilgesellschaftliche Initiativen oder Alternativen ebenso angewiesen ist wie auf Parteien. Die sozialökologische und radikaldemokratische Transformation, die wir mit diesem Farbenspiel ansprechen, verweist auf einen langen und mehrdimensionalen Prozess der Gesellschaftsveränderung, der über alles hinausgehen wird, was eine Regierung leisten kann. Doch wollen wir mit dem Bezug auf Rot-rot-grün und damit auf Partei- und Regierungspolitiken auch festhalten, dass wir unter global ausgespannten Gerechtigkeitspolitiken auf der Höhe unserer zunehmend dramatischen Zeit nach wie vor eine ganz realpolitische Sache verstehen.
Tatsächlich verlangen wir von einer rot-rot-grünen oder jetzt wohl eher grün-rot-roten Koalition auf Bundesebene „nur“ den Einstieg in eine radikal-demokratische und sozialökologische Transformation der Bundesrepublik und der EU, mit der zivilgesellschaftliche Initiativen und soziale Bewegungen auf ihrem Terrain schon begonnen haben. Wie mindestens einem Drittel, vermutlich aber noch deutlich mehr Menschen der Bundesrepublik, geht es uns dabei um Dinge, die in den Programmen der Grünen, der SPD und der LINKEN, auch in denen vieler Gewerkschaften längst ihren Platz gefunden haben – vom Mindestlohn über die Bürger*innenversicherung, das sanktionsfreie Grundeinkommen, die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit bis zu einer Bildungsoffensive und einer entschlossenen Beschleunigung, Vertiefung und Ausweitung der Energie- und Mobilitätswende. Dazu bedarf es auch einer neuen Finanzarchitektur für Deutschland und Europa. Es bedarf der Revision der Schuldenbremse, um ein sozial-ökologisch-kulturelles Investitionsprogramm in Europa zu ermöglichen. Es bedarf schließlich einer Finanztransaktionssteuer, die ihren Namen verdient, weil sie nicht den Aktienkauf, sondern die „Vernichtungswaffen“ des Derivate- und Hochfrequenzhandels besteuert.
Über den Horizont hinaus
Und: Wir wünschen uns darüber hinaus zwei, drei, vier Projekte, die es wagen, zumindest ein paar Schritte über den damit gezeichneten Horizont hinauszugehen. Solche Projekte könnten sich vielleicht in einer neuen Politik der Stadt und zugleich der Bürger*innenschaft verdichten, die deren im Wohnen, im Verkehr, in der allgemeinen sozialen Sicherung wie in der Ermöglichung der kulturellen und politischen Teilhabe aller ihrer Bewohner*innen geankerte Infrastruktur ebenso radikal demokratisiert wie ihre politische Verfassung und ihre Rolle im Gefüge des Politischen. So könnte Städten, wie von Gesine Schwan in der Initiative „Europa von unten neu beleben“ vorgeschlagen, eine sehr viel stärkere und zugleich progressive Rolle in der Migrationspolitik und im ganzen Prozess der europäischen Einigung zufallen. Zugleich könnte eine in die Verfassungen Europas einzuschreibende „Städtebürger* innenschaft“ die offenbaren Grenzen nationaler Staatsbürger*innenschaft substanziell überschreiten. Damit wäre bei weitem nicht „alles“ anders, wohl aber einiges besser – und davon wiederum „etwas“ mehr. Dieses „etwas mehr“, das ist unsere Hoffnung und unser Einsatz, würde einer Mehrheit in diesem Land das grün-rot-rote Ganze sichtbar machen, das über die Summe seiner Teile hinausgeht. Es würde auf jede einzelne der drei Parteien zurückwirken und in ihnen die Tendenzen befördern, die über den jeweiligen Status quo hinausweisen. Vor allem die SPD, aber auch die LINKE würden davon enorm profitieren: die eine im Blick auf ihren ansonsten wohl unumkehrbaren Zerfall, die andere im Blick auf ihre auf Dauer nur lähmende Stagnation. Die Grünen wiederum würden ihre deutlich gestiegene Bedeutung verstetigen und verstärken können.
Doch mehr noch: Das in Frage stehende „etwas mehr“ würde nicht nur den beteiligten Parteien, es würde über sie hinaus dem progressiven Drittel, wenn nicht gleich der zumindest möglichen progressiven Mehrheit dieser Gesellschaft einen enormen politischen Auftrieb geben. Es würde die Herausbildung einer gesellschaftlichen Linken ermöglichen, die in sich das Ganze wäre, das über die Summe der Parteien hinausreicht, die diese Linke repräsentieren wollen. Es würde damit auch die oben schon notierte Neigung sozialer Bewegungen zur Beschränkung auf Abwehrkämpfe aufbrechen. Damit könnte die oft unverbundene Vielzahl progressiver gesellschaftlicher Anliegen einen Rahmen des Gemeinsamen und den Ansporn zur Entwicklung nicht mehr nur von Alternativen in Teilbereichen finden, sondern von Alternativen „ums Ganze“.
Natürlich würde das auch zu Spannungen zwischen einer möglichen progressiven Koalition, ihren Minister*innen wie ihren Parteien und ihrer gesellschaftlichen „Basis“ führen. Diese Spannungen aber wären, da sind wir sicher, der nicht-fossile Brennstoff weiterer Fortschritte in einer zuerst allmählich, schließlich aber immer schneller Fahrt aufnehmenden radikaldemokratischen und sozialökologischen Transformation. Die aber wäre ebenso sehr eine Sache des Regierungs- wie des Alltagshandelns, eine Sache von Partei- und von Bewegungspolitiken. Sie wäre übrigens immer auch eine Sache der Straße: Wo steht denn geschrieben, dass der Sinn von großen und kleinen Demonstrationen immer nur im Protest gegen eine Regierung liegt? Es sind schließlich auch große wie kleine Demonstrationen denkbar, die eine zögerliche oder aber eine von institutionellen, auch von ökonomischen Blockaden bedrängte Regierung dazu treiben, in weitere Horizonte auf- und auszubrechen! Begonnen im mächtigsten Land der Europäischen Union hätte eine solche Wende, ein solcher Aufbruch nicht zu unterschätzende Dynamiken auch in anderen Ländern der Europäischen Union zur absehbaren Folge: Dynamiken, die der Drift nach rechts einen Riegel vorschieben könnten, mit der die Entwicklungen in Großbritannien, in Italien, in Österreich, Polen und Ungarn Europa in den Abgrund treiben.
2021 – wann denn sonst?
Tatsächlich könnten die nächsten Bundestagswahlen dem aktuellen Anschein entgegen von entscheidender Bedeutung sein. Es werden die ersten Bundestagswahlen überhaupt sein, in denen es keine „Volksparteien“ mehr gibt, deren Mit- und Gegeneinander nur drei Möglichkeiten zulassen: ein von der CDU oder ein von der SPD dominiertes Bündnis oder ein Bündnis von CDU und SPD. Die kommenden Bundestagswahlen sind deshalb in einem ganz neuen Sinn Wahlen offenen Ausgangs: Wahlen, mit denen zunächst „etwas“, und dann sehr viel mehr anders werden könnte. Sie könnten allerdings auch zu Wahlen werden, mit denen alles noch einmal, vielleicht sogar sehr viel schlimmer wird: eine Erfahrung, die in den letzten Jahren gleich in mehreren Ländern gemacht wurde. Ihr Ausgang wird in jedem Fall knapp sein, wird gegebenenfalls an wenigen Stimmen hängen. Stimmen, die im Moment, das liegt auf der Hand, am dringendsten von der SPD und von den LINKEN benötigt werde. Stimmen, die aber auch von den Grünen benötigt werden, wenn sie wirklich das Gewicht erhalten und bewahren wollen, das ihnen zuletzt zugefallen ist. Grund genug, sich am Riemen zu reißen. Spielraum aber auch für das über die drei Parteien hinausreichende Mosaik: Auch die zivilgesellschaftliche und die Bewegungslinke können nur gewinnen, wenn „ihre“ drei Parteien gewinnen. Dasselbe gilt für die Vielzahl lokaler oder sektoraler Transformationsprojekte, in denen heute schon praktisch an zuletzt sogar „ganz anderen“ Verhältnissen gearbeitet wird.
Damit sind wir bei unserem letzten, dem für das ISM immer schon leitenden Gedanken. Sichtbar wird dieser Punkt im Blick auf das Desaster von Labour in Großbritannien. Die Zeit, die diese alte, sehr alte linke Partei hatte, um zu lernen, eine neue linke Partei zu werden, war sehr knapp, sie war tatsächlich zu knapp bemessen. Das galt nicht nur für ihre Partei, es galt auch für das im Grunde zu bunt und zu vielgestaltig angelegte gesellschaftliche Mosaik, das eine solche Erneuerung hätte tragen sollen. Das ist in der Bundesrepublik anders, das ist hier im Prinzip schon seit Jahrzehnten anders. Rot-Rot-Grün oder Grün-Rot-Rot hat hier, anders als in nahezu allen europäischen Ländern, eine weit zurückreichende Tradition. Von noch älteren Einstellungen her gesehen ist dies eine ungeliebte Tradition: Sozialdemokrat*innen wollten sich ihr einst mit Dachlatten in den Weg stellen. Es ist zugleich eine Tradition, die in der Zeit, in der sie auf der Bundesebene schon einmal zum Zug kam, kein Versprechen, sondern nur Enttäuschungen zurückgelassen hat.
Es kommt auf das Ganze eines rot-rot-grünen Aufbruchs an
Trotzdem gibt es diese Tradition, und genau besehen war sie nie so angesagt wie in diesen gleich mehrfach erschreckenden, aktuell sogar furchterregenden Zeiten. Es käme schlicht und einfach drauf an – ja, es käme, es kommt verdammt auf das Ganze eines grünen und roten Aufbruchs an, auf das Ganze, das nicht nur mehr als seine Parteien, sondern auch mehr als seine Gewerkschaften, seine zivilgesellschaftlichen Verbände, seine sozialen Bewegungen ist. Ohne die sozialen Bewegungen, die den Parteien und Regierung „von unten“ und von der Straße her immer wieder neu die Richtung vorgeben und sie an ihre Verantwortung für die Transformation erinnern und binden, wird ein rot-grüner Aufbruch nicht real. Allerdings gilt dieser Verweis auf das unumgängliche Über-sich-hinausgehen-Müssen auch für die sozialen Bewegungen: Auch sie müssen sich ihrer Grenzen bewusst werden und selbst noch ihre Bereitschaft verstärken, ums Ganze zu kämpfen.
Dabei leben Parteien, zivilgesellschaftliche Verbände, Bewegungen und das unübersehbare Geflecht widerständigen und zugleich alternativen Alltagshandelns von all den Einzelnen, die im Grunde lange schon gelernt haben, sich selbst ganz von sich aus, zur Not auch ganz allein auf sich gestellt auf dieses Ganze zu beziehen. Und diese Einzelnen sind viele: sie sind die Vielen, und sie sind ihr Mosaik. Zu ihren Gemeinsamkeiten gehört, dass sie von der begrenzten Kraft und der begrenzten Reichweite wissen, die Parteien und sogar Regierungen zukommt, wenn‘s ums Ganze geht. Gerade deshalb teilen sie aber auch die Einsicht in die Unumgänglichkeit der Parteien und Regierungen immer noch in die Hand gegebenen Möglichkeiten. Heute hängt an ihnen der Einstieg in den Ausstieg aus fast
50 Jahren neoliberaler Verödung der Politik und der Gesellschaft. „Heute“ ist 2021. Der Ausgang ist offen, und er hängt, sagen wir das noch einmal, an wenigen Stimmen. Unsere gehören dazu: im weitesten Sinn des hier gemeinten „Wir“.
Dieser Artikel ist in der ISM-Broschüre „Die Politik der Vielen“ erschienen.