Angriff auf den Open-Skies-Vertrag – Trump will den Vertrag über den Offenen Himmel kündigen

Quelle: Stiftung Wissenschaft und Politik

https://www.swp-berlin.org/publikation/angriff-auf-den-open-skies-vertrag/

Autor: Wolfgang Richter – SWP NR. 38 – MAI 2020

„Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die USA den multilateralen Vertrag über den Offenen Himmel (OH) verlassen werden und Russland bald folgen könnte. Damit würde Präsident Trump den Rückzug der USA aus der regelbasierten Sicherheitsordnung fortsetzen und eine weitere Bresche in die Rüstungskontrollarchitektur schlagen.

Deren kontinuierlicher Abbau, ein neuer Rüstungswettlauf sowie die Rückkehr bewaffneter Konflikte und von Szenarien nuklearer Kriegsführung gefährden die europäische Sicherheitsordnung und die strategische Stabilität.

Der OH-Vertrag gestattet kooperative Beobachtungsflüge über den Territorien der Vertragsstaaten. Damit lässt sich ein Mindestmaß an militärischer Transparenz und Vertrauensbildungauch in Krisenzeiten bewahren. Dies kann nicht durch nationale Satellitenaufklärung ersetzt werden, zumal sie nur wenigen Staaten zur Verfügung steht. Eigenständige Beobachtungsoptionen sind gerade für Bündnispartner in Spannungsregionen wichtig.

Deutschland muss sich gemeinsam mit den europäischen Partnern nachdrücklich dafür einsetzen, den OH-Vertrag zu erhalten.

Der komplette Aufsatz ist hier nachlesbar

Soziologe Wilhelm Heitmeyer: „Der Begriff ‚Rechtspopulismus‘ ist viel zu verharmlosend“

Quelle: Deutschlandfunk Kultur

TACHELES / ARCHIV | Beitrag vom 10.11.2018

Soziologe Wilhelm Heitmeyer: „Der Begriff ‚Rechtspopulismus‘ ist viel zu verharmlosend“

Wilhelm Heitmeyer im Gespräch mit Thorsten Jantschek

Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer war von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und arbeitet dort als Forschungsprofessor.

Was die AfD erfolgreich mache, sei ihr „autoritärer Nationalradikalismus“, sagt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer. Der sei besonders problematisch, weil er darauf abziele, Institutionen zu destabilisieren, die wichtig für die Gesellschaft seien.

Deutschlandfunk Kultur: Sie gehen davon aus, Herr Heitmeyer, dass die offene Gesellschaft, ja die liberale Demokratie, durch die politische Rechte bedroht ist. Die wiederum lockt mit autoritären Versuchungen, so sagen Sie. Was heißt denn das genau, „autoritäre Versuchungen“?

Wilhelm Heitmeyer: Nun, es geht darum, dass vor allem vor dem Hintergrund eines globalen Kapitalismus mit einem rabiaten Finanzkapitalismus und sozialen Desintegrationsprozessen und einer ja Variante von Demokratieentleerung zahlreiche Verunsicherungen in größere Teile der Gesellschaft eingezogen sind. Und das Autoritäre ist dann der Versuch, die Kontrollverluste, die entstanden sind, wieder herzustellen über autoritäre Maßnahmen, also eine Wiederherstellung von Kontrolle. Und das ist offensichtlich attraktiv für Teile – das muss man immer wieder betonen – der Gesellschaft.

Deutschlandfunk Kultur: Ja, das autoritäre Projekt, das Sie jetzt gerade umrissen haben, schon mit seinen Ursachen, da kommen wir sowieso noch drauf zu sprechen, das hat ja zwei Seiten. Auf der einen Seite sind es eben die politischen Akteure, auch jetzt in Parlamenten, aber auch in sozialen Bewegungen, intellektuellen Milieus, das dazu gehört. Das ist die eine Seite. Und auf der anderen Seite gibt’s natürlich auch die Bevölkerung, die offenbar empfänglich ist dafür, weil sie diesen Kontrollverlust erlebt und nicht nur erlitten hat.

Wilhelm Heitmeyer: Ja. Man muss beides immer sehen, auf der einen Seite die Einstellungsmuster, die sich entwickelt haben. Und da muss man immer wieder sagen: Das kommt nicht jetzt einfach über Nacht, sondern wir haben eine lange Vorgeschichte. Wir haben das ja auch in unserer Zehnjahresstudie, „Deutsche Zustände“ immer wieder dokumentiert, wie sich diese Einstellungsmuster entwickelt haben, und auf der anderen Seite das autoritäre Angebot seit 2014 etwa durch Pegida und 2015 nach der Spaltung auch AfD.

Man muss immer wieder sagen: Dieses Einstellungsmuster autoritärer Art war vor Pegida, vor der Spaltung der AfD und auch vor der Flüchtlingsbewegung schon vorhanden. Dieses Einstellungspotenzial von zwanzig Prozent hatte, so haben wir das 2002 schon ermittelt, bis dahin keinen politischen Ort, sondern für mich war das ein vagabundierender Autoritarismus in der Bevölkerung, die wahlpolitisch entweder mal bei der CDU, CSU oder SPD waren oder sich in wutgetränkte Apathie zurückgezogen haben. Das hat sich verändert.

Kapitalismus als Ursache rechter Einstellungen

Deutschlandfunk Kultur: Nun haben Sie ja eben schon die Flüchtlingskrise angesprochen. Wir gucken immer sehr stark auf sozusagen den Umgang mit Flüchtlingen und was daraus gesellschaftlich und auch in den Diskursen folgt. In dieser Woche sind zwei Studien erschienen, die sich im weitesten Sinne mit den rechten Einstellungen auseinandersetzen. Eine davon, von einer Dresdner Forschergruppe, hat die Ausbreitung des Rechtspopulismus in Europa untersucht und kommt zu dem Schluss, dass die Flüchtlingskrise wirklich nicht die Ursache für die Ausbreitung des Rechtspopulismus ist. Das ist eine These, die Sie auch in Ihrem Buch vertreten. Sie nennen das einen Beschleunigungsfaktor, die Flüchtlingskrise, für rechte Einstellungen. Was ist denn darunter zu verstehen?

Wilhelm Heitmeyer: Die Einstellungsmuster waren vor der Flüchtlingskrise und der Flüchtlingsbewegung schon vorhanden. Dann kommen kulturelle Muster hinzu, die aber nur auftreffen auf vorhandene. Von daher kann man das Ganze nicht einfach auf die Flüchtlingsbewegung, auf die Flüchtlingskrise zurückführen, sondern die Ursachen liegen tiefer, so dass es dringend notwendig ist, dass die öffentliche Debatte diese ursächlichen Muster ernster nimmt und sich nicht auf diesen Faktor konzentriert.

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben die drei Ursachen ja schon angesprochen, ein globalisierter, entsicherter Kapitalismus auf der einen Seite, soziale Desintegration auf der anderen Seite. Und eine politische Demokratieentleerung wäre die dritte Ursache, die Sie angesprochen haben eben, glaube ich. Beim Kapitalismus ist es irgendwie offensichtlich, weil der Kapitalismus immer in der Kritik steht, für alles und alles Mögliche zur Verantwortung gezogen wird. Aber worin besteht denn jetzt spezifisch der Beitrag des Kapitalismus zu einem autoritären Projekt?

Wilhelm Heitmeyer: Also, zunächst ist es ja so, dass man das Zusammenwirken dieser drei Faktoren berücksichtigen muss. Die neuere Entwicklung im globalen Kapitalismus besteht in der Landnahme. Das heißt, immer weitere Bereiche des Lebens werden von diesem autoritären Kapitalismus in Besitz genommen. Beispiele sind die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, der Überwachungskapitalismus, der uns außer Kraft setzt, über unser eigenes Leben zu bestimmen. Der autoritäre Kapitalismus konnte seine Maxime durchsetzen und hatte einen riesigen Kontrollgewinn in den letzten zwanzig, dreißig Jahren, während auf der anderen Seite die nationalstaatliche Politik einen riesigen Kontrollverlust erlitten hat, was dann auch mit den Desintegrationsprozessen zu tun hat. Und der politische Apparat unserer Demokratie funktioniert wie geschmiert, wenn man so will. Und das Vertrauen geht gleichzeitig verloren in erheblichen Teilen der Bevölkerung. Das heißt, das meine ich mit Demokratieentleerung.

Daraus entstehen dann verschiedene Kontrollverluste auf der individuellen Ebene von Menschen. So gibt es ein Hintergrundkonzept, das nicht einfach kurzfristig auch zu beseitigen ist, weil die strukturellen Bedingungen, die herrschen, dann verarbeitet werden von Menschen, also, vor allem auch noch einmal besonders auf Touren gebracht durch die verschiedenen Krisen, die wir ja etwa seit 2000 hatten, wie 9/11. Das war, glaube ich, der Startschuss für solche Krisen.

Und Krisen, das muss man immer wieder sagen, zeichnen sich ja dadurch aus, dass die ökonomischen, sozialen und politischen Routinen außer Kraft gesetzt sind. Und das zweite Kriterium ist: Der Zustand vor diesen Krisen kann nicht wieder hergestellt werden. Das bezieht sich auf 9/11 mit religiös-politischer Krise. Das bezieht sich auf 2005 mit den Hartz-4-Gesetzen, auch wieder für Teile der Bevölkerung eine soziale Krise. Und dann 2008/9 die Finanz- und Bankenkrise, also eine ökonomische Seite, die Auswirkung hat sowohl für Politik als für Soziales, und auch ab 2015 etwa die Flüchtlingskrise, also kulturell politisch.

Das Entscheidende ist jetzt, dass sich gerade nach 2008, und das können wir aufgrund unserer Langzeituntersuchung deutlich zeigen, bei den Menschen, die rechtspopulistisch schon dachten, dann eine ansteigende Kurve, eine Radikalisierung entwickelt hat im Hinblick auf ihre eigene Einflusslosigkeit, im Hinblick auf die Bereitschaft an Demonstrationen teilzunehmen und auch individuelle Gewaltbereitschaft.

Das heißt, auch dort kann man erkennen die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und den Einstellungsmustern, also Verarbeitung von Krisen. Und bei einem Teil dieser Menschen hat sich das dann in radikalisierenden Einstellungen niedergeschlagen.

Wachsende rechte Einstellungen

Deutschlandfunk Kultur: Aber, Herr Heitmeyer, jetzt mal ganz kurz dazwischen gefragt: Eigentlich bieten doch die volkswirtschaftlichen Grundparameter – Rückgang der Arbeitslosigkeit, Bewältigung der Finanzkrise, Wachstumsprozesse – gar keinen Anlass, dass jetzt Menschen ihre Einstellung radikal ändern. Also, das Bedrohungsszenario fällt doch eigentlich viel kleiner aus, als man meinen müsste.

Wilhelm Heitmeyer: Auf der einen Seite ist das richtig, was die derzeitigen Arbeitsmarktdaten hergeben. Das andere ist aber, es wird nur über Statistiken operiert. Und die Arbeitsverhältnisse, die Sicherheit von Arbeitsverhältnissen und bestimmte Zukunftsparameter, die aufkommen, wie die Digitalisierung, sind viel tiefgreifender. Denn da geht es an die Statusfragen und an die Anerkennungsfragen und an die Bewertung von beruflichen Qualifikationen. Diese Zukunftsdimensionen sind weit gravierender. Und die Frage der Bewältigung der Finanzkrise, das meinen Sie wahrscheinlich nicht ernsthaft, denn die ganzen Indizien deuten ja darauf hin, dass es dort neue Turbulenzen geben wird.

Und das Entscheidende ist, dass dann die Steuerungsinstrumente für die Bewältigung heute schon verheizt sind, wenn Sie an die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank denken und dergleichen mehr. Also, es gibt eine tief reichende Verunsicherung. Da helfen auch Statistiken nicht. Mit Statistiken kommt man gegen die Gefühle der Menschen im Hinblick auf ihre Zukunftserwartungen nicht an.

Deutschlandfunk Kultur: Bestürzend fand ich in Ihrem Buch den Teil, wo Sie auch empirische Untersuchungen durchgeführt haben, um die von Ihnen so genannte „Demokratieentleerung“, was ja ein Konglomerat unterschiedlicher Haltungen ist, also, Demokratieverachtung auf der einen Seite, eine Vernachlässigung von Demokratie auf der anderen Seite und radikale Demokratiezweifel auf der anderen Seite.

Da schreiben Sie zum Beispiel an einer Stelle, um nur mal ein Beispiel zu geben: „Fast ein Viertel der Befragten waren der Auffassung, dass Politiker sich vor allem um ihre eigenen Interessen kümmern. Und über achtzig Prozent glauben, dass Politiker mehr Rechte für sich beanspruchen als normale Bürger.“ – Da steht man in gewisser Weise fassungslos davor, weil da sich etwas manifestiert, was auch in der Rechten immer wieder thematisiert wird, die da oben, wir da unten.

Wilhelm Heitmeyer: Ja. Daran knüpft natürlich der autoritäre Nationalradikalismus, so nenne ich ja die ganze Entwicklung in dem Teilsegment, an und spielt dann die Differenz von Volk und Elite aus, obwohl die Akteure, die das behaupten, gehören ja mittlerweile selbst zur Elite. Aber das ist ein anderes Thema.

In der Tat hat es Vertrauensverluste gegeben. Und das meine ich ja mit dem Kontrollverlust in der nationalstaatlichen Politik gegenüber einem autoritären Kapitalismus, der seine Maxime rigoros durchsetzen kann. Das muss man immer wieder sagen. Solch ein Finanzkapitalismus hat an gesellschaftlicher Integration absolut kein Interesse, sondern da geht’s um Konkurrenz und um Verwertung. Dann werden auch Gruppen noch von Menschen eben bewertet im Sinne von Ungleichwertigkeit, nach Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz. Dies dringt aber in die Gesellschaft und in die Einstellungsmuster von Personen und von Gruppen ein.

Der Begriff Rechtspopulismus verharmlost

Deutschlandfunk Kultur: Herr Heitmeyer, ich habe eben schon von zwei Studien, die in dieser Woche erschienen sind, gesprochen. Eine zweite Studie kommt von der Leipziger Forschergruppe. Die hat eben rechtsextreme Einstellungen untersucht und kommt zu dem Schluss, dass die Hemmschwelle, rechtsextremen Aussagen zuzustimmen, derzeit sehr gering ist. Fast jeder Dritte vertritt ausländerfeindliche Positionen. Sind das alarmierende Ereignisse oder konnten Sie die auch schon vorhersehen?

Wilhelm Heitmeyer: Da kommt es natürlich sehr darauf an, wie man die Begriffe oder die Erscheinungsformen definiert. In unserer Zehnjahresstudie mit dem Thema „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ konnten wir diese Entwicklung ja auch schon aufzeigen, auch die rechtspopulistischen Einstellungen, die wir 2002 mit 20 Prozent schon gemessen haben.

Es hat nur auf der politischen Ebene gar keine Resonanz gefunden, sondern die Resonanz und die Nervosität tauchen ja erst auf, nachdem es jetzt an die Mandate geht. Aber der entscheidende Punkt, den ich nenne, ist, dass wir präzise sein müssten bei den Definitionen. Das, was sich zurzeit abspielt, halte ich nicht für rechtspopulistische Entwicklung. Das ist viel zu verharmlosend. Der Begriff Rechtspopulismus ist auch äußerst schwammig und führt zur Beliebigkeit auf alle Erscheinungsweisen, die einem gerade nicht so passen.

Deutschlandfunk Kultur: Sie prägen da einen eigenen Begriff, nämlich den „autoritären Nationalradikalismus“ als Alternative zu diesem ubiquitär verwendeten Rechtspopulismusbegriff und auch als Alternative oder als Zwischenglied zu einem Begriff des Rechtsextremismus, der stärker gefasst wird.

Wilhelm Heitmeyer: Ja. Man muss ja die neue Erfolgsspur der nach rechts driftenden AfD erklären. Diese Erfolgsspur kann man weder mit Rechtspopulismus erklären, noch mit Rechtsextremismus. Rechtsextremismus operiert an vielen Stellen ja auch mit einer Gewaltlatenz bzw. auch mit Gewaltandrohung etc. Das ist ja eine Definition. Und Rechtspopulismus ist beliebig.

Das, was ich als zentral ansehe, ist eben dieser autoritäre Nationalradikalismus. Der operiert mit einem Kontrollparadigma, also, rigide Führung, hierarchische soziale Ordnung, Kampf und Freund-Feind-Schemata. Das ist das eine Element.

Das Nationale wird bestimmt von einem Überlegenheitsanspruch des deutschen Volkes. Das Deutschsein wird als Identitätsanker hoch gehoben und mit einer Niedergangsrhetorik gleichzeitig begleitet. Und eine neue deutsche Vergangenheitsdeutung soll ja auf den Weg gebracht werden. Das Radikale besteht darin, dass man schon auch sprachlich von einem Systemwechsel spricht. Diese Figur ist deshalb auch ein Problem, weil, der Rechtspopulismus zielt mit einer flachen Ideologie auf öffentliche Aufmerksamkeit via Massenmedien, um Erregungszustände auszulösen.

Deutschlandfunk Kultur: Immer Anti-Establishment.

Wilhelm Heitmeyer: Ja. Und der Rechtsextremismus, zumal der Neo-Nazismus, der setzt auf Schrecken gegenüber schwachen Gruppen im öffentlichen Raum. Aber der autoritäre Nationalradikalismus zielt auf die Institutionen dieser Gesellschaft. Dies ist besonders problematisch, wenn es da zu Destabilisierung kommt. Das ist, glaube ich, ein zentrales Motiv, wenn es dann darum geht zu sagen, „Wir jagen sie!“ beispielsweise in Parlamenten, oder wenn dann in die Institutionen hinein gewirkt wird, die wichtig sind für diese Gesellschaft. Denn Institutionen halten diese Gesellschaft zusammen und können gerade in diesen entsicherten Jahrzehnten keine Destabilisierung gebrauchen.

Aber das wird viel zu wenig berücksichtigt. Man regt sich auf über die Sprüche, während gleichzeitig es Normalisierungsverschiebungen in dem öffentlichen Sprachgebrauch gibt. Wenn Sie diese Begriffsausgrabungen berücksichtigen wie „Umvolkung“ oder die Grenzen des Sagbaren auszuweiten, das sind eigentlich die zentralen Punkte, auf die man sich fokussieren muss.

Wird die Agenda der Rechten normal?

Deutschlandfunk Kultur: Diese Normalisierung, Sie haben es schon angesprochen, hat natürlich, eben diese Sagbarkeitsgrenzen sollen verschoben werden. Sie schreiben „rechtspopulistische Bewegung“ und die autoritäre nationalradikale AfD arbeitet kontinuierlich an der Verschiebung von Normalitätsgrenzen. Die Öffentlichkeit folgt bereitwillig? Oder was passiert da eigentlich?

Wilhelm Heitmeyer: Bereitwillig natürlich nicht. Die Öffentlichkeit gibt es nicht. Das ist ja ein Teil unseres Problems. Wir haben ja gar keine breite Öffentlichkeit mehr, in der es Auseinandersetzung gibt, sondern wir müssen ja von Öffentlichkeiten sprechen, also im Plural. Da spielen ja die sozialen Netze eine unrühmliche Rolle, weil es dort homogenisierte Gruppen gibt, die sich wechselseitig aufschaukeln, ohne dass es Widersprüche dazu gibt.

Also, das hat viele Konnotationen, ohne dass die Öffentlichkeit, die es nicht gibt, da bereitwillig folgt. Sondern man ist unter sich an vielen Stellen in den Filterblasen und schaukelt sich dort hoch.

Was mir besonders Sorgen macht, das sind dann die eingesickerten, mit großer Vehemenz verbreiteten Verschwörungstheorien. Das gehört mit zu den Normalisierungen dazu, so dass gar keine Chancen bestehen, bestimmte Begriffe zu kritisieren oder durchzudringen. Das ist ja wichtig.

Das heißt, dass Themen, die bisher außerhalb des Diskussionsrahmens einer Gesellschaft liegen, dass die plötzlich aufgenommen werden und sukzessive hineingezogen werden. Da spielen vor allem auch einige Intellektuelle als Transmissionsriemen sozusagen eine ganz unrühmliche Rolle.

Deutschlandfunk Kultur: Sie spielen an auf Peter Sloterdijk zum Beispiel.

Wilhelm Heitmeyer: Zum Beispiel, oder auch Herr Sarrazin und einige andere. Das sind Dinge, wo die Grenzen des Sagbaren ausgebreitet werden. Und Herr Gauland hat das ja nun ausgiebig als eine zentrale Funktion der AfD deutlich gemacht.

Margarete Stokowskis Absage einer Lesung

Deutschlandfunk Kultur: Aber ist denn nicht auch die Öffentlichkeit mittlerweile ziemlich sensibilisiert dafür? Also, ich nenne nur mal ein Beispiel, weil uns das in dieser Woche im Programm deutlich beschäftigt hat:

Eine junge Autorin, Margarete Stokowski, sagt eine Lesung in einer Münchner Buchhandlung, einer linksliberalen Münchner Buchhandlung ab, weil die plötzlich ein Regal eingerichtet haben, in dem gebündelt zu finden ist Literatur „Neue Rechte, altes Denken“, unter anderem auch Primärtexte aus dem Antaios Verlag usw. Darüber ist eine große Debatte entstanden, auch auf Social Media, weil die Autorin gesagt hat, das ist ein persönlicher politischer Schritt, weil sie eben gerade, und dann kommt das Wort ins Spiel, diese „Normalisierung“ nicht mitmachen möchte, dass anstelle Rechtsaußen-Literatur irgendwie ins politische Fach einzuordnen, jetzt plötzlich ein eigener Diskursraum geschaffen wird dafür.

Ich nehme da eine deutliche Sensibilisierung wahr.

Wilhelm Heitmeyer: Also, ich halte diese Entscheidung der Autorin für falsch.

Deutschlandfunk Kultur: Ich für richtig.

Wilhelm Heitmeyer: Denn dieser Diskursraum existiert schon lange. Den kann man auch nicht eindämmen durch eine bestimmte Art von Moral. Das Muster gilt ja: Je höher die Moral, desto geringer sind die Kommunikationschancen. Ich glaube, der Buchhändler hat Recht, wenn er sagt: Wir müssen wissen, was sie denken.

Dichotomische Weltbilder sind außerordentlich attraktiv

Deutschlandfunk Kultur: Aber das steht ja außer Zweifel. Das war ja gar nicht der Punkt, sondern hier wird was kanonisiert und segmentiert, was eigentlich in den allgemeinen öffentlichen Rahmen gehört.

Wilhelm Heitmeyer: Nein. Eine Buchhandlung ist auch ein öffentlicher Rahmen. Dort kann man stöbern, kann man nachsehen, was sind denn die Denkmuster und mit welchen Weltbildern wird eigentlich dort operiert? Wie effektvoll sind diese Weltbilder?

Ich bezeichne das als dichotomische Weltbilder, dass nämlich die komplexe Realität auf ganz scharf sich gegenseitig abgrenzende Begriffe gebracht wird. Denken Sie mal: Bei Politik geht es um Volk versus Elite. Bei Macht geht es um Überlegenheit und Unterlegenheit. Bei der Wertestruktur geht es um Antipluralismus versus Vielfalt. Oder bei der Geschichte geht es um Verklärung versus Aufklärung. Bei der kollektiven Identität geht es um Deutschsein versus Internationalität.

Diese dichotomischen Weltbilder sind außerordentlich attraktiv an vielen Stellen auch für Teile der Bevölkerung, weil sie angeblich klären in einer unübersichtlichen Welt und in einer ambivalenten Modern, die ja sehr widersprüchliche Elemente enthält und sehr durchsetzt ist von unklaren Situationen, unentschiedenen Situationen. Da schlagen dann diese dichotomischen Weltbilder eine Schneise. Das ist attraktiv für diejenigen Menschen in der Bevölkerung, die ohnehin so gestimmt sind. Und das Gefährliche ist daran, dass diese dichotomischen Weltbilder geeignet sind für Entweder-Oder-Konflikte in der Gesellschaft.

Normalerweise reden wir ja von „mehr oder weniger“-Konflikten, also, dass es eine Verhandlungsbasis gibt. Nein, diese dichotomischen Weltbilder sind auf Entweder-Oder-Konflikte getrimmt. Das macht die Sache gefährlich. Und wir haben es ja mit drei Bühnen zu tun sozusagen.

Die erste Bühne ist grell ausgeleuchtet im Bundestag. Die zweite Bühne, das ist das intellektuelle Milieu, was die Gedankengebäude liefert. Und wenn wir die nicht kennen, werden wir noch manche Überraschung erleben.

Deutschlandfunk Kultur: Ja, darum geht es mir überhaupt nicht. Mir geht es – jetzt von dem Fall weg: Natürlich müssen wir uns damit konfrontieren. Natürlich müssen wir diese Bücher lesen. Natürlich müssen wir uns auseinandersetzen. Nur manchmal habe ich den Eindruck, dass das Abklopfen von Argumenten ist, die man ohnehin schon vorwegnehmen kann und weder auf der einen Seite noch auf der anderen Seite die wirkliche Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen, da eintritt.

Wie kommt man denn aus so einem Dilemma raus als Öffentlichkeit? Wenn man sagt, dass dieser autoritäre Nationalradikalismus, den keiner von uns, also von der Zivilgesellschaft wirklich wollen kann, weil er nämlich die Grundfeste bedroht, die liberale Demokratie, dann muss es ja Möglichkeiten der Auseinandersetzung geben und auch der Überzeugung geben. Aber die scheint es nicht zu geben. Es scheint eher ein Kampf darum zu sein, möglichst viele hinter sich zu versammeln – mit den immer gleichen Argumenten.

Wilhelm Heitmeyer: Ja, da würde Ihnen überhaupt nicht widersprechen. Nur die Frage ist: Wo ist ein solches Forum? Ich hatte ja vorhin schon davon gesprochen, dass es die Öffentlichkeit nicht mehr gibt, sondern Öffentlichkeiten. Da ist die Frage: Wie erreicht man überhaupt noch diese abgedichteten, und darum geht es ja, diese abgedichteten Filterblasen, in denen homogene Gruppen? Und homogene Gruppen sind immer gefährlich mit den Aufschaukelungsprozessen. – Wie kann man da überhaupt noch etwas erreichen, vor allem auch, weil die ganzen Strategien ja darauf hinaus laufen, eine Emotionalisierung gesellschaftlicher Probleme als Kontrollverluste darzustellen.

Emotionale Aufheizung statt rationaler Argumente

Das gehört ja mit zu den effektivsten Dingen, die auf dieser Agenda stehen, nämlich über soziale Desintegrationsprozesse, etwa Statusverlust für die Zukunft, dann das Thema kulturelle Überfremdung, die ja gleichzeitig eine Homogenitätssehnsucht für die Gesellschaft mit sich führt. Und die ganzen Geschichtsdeutungen, die jetzt versucht werden, das alles läuft über das Muster der Emotionalisierung.

Mit dieser Emotionalisierung umzugehen, das fällt uns allen doch sehr schwer. Wir sind ja alle eher trainiert auf Argumente, rationale Überlegungen. Das wird aber außer Kraft gesetzt. Und wir haben damit erhebliche Probleme, wenn wir uns diesen Dingen nicht stellen. Da kann man ja unterschiedliche Foren sich vorstellen.

Deutschlandfunk Kultur: Wir haben jetzt auch, das habe ich aus Ihrem Buch gelernt, mit einem neuen Typus des Autoritären zu tun, nämlich des selbstbewussten Autoritären, also sozusagen nicht jemand, der autoritätshörig ist, sondern der Kontrolle ausüben will und das auch vorzeigt. Das merkt man in den öffentlichen Debatten ja ganz deutlich.

Wenn die Zivilgesellschaft bis jetzt noch kein Mittel an der Hand hat, um in diese Debatten auch emotionalisierend einzugreifen, ist dann diese Vorstellung, die Sie haben vom autoritären Nationalradikalismus ein Erfolgsmodell in Zukunft?

Wilhelm Heitmeyer: Ja, das hängt natürlich davon ab, wie die offizielle Politik und vor allem auch die Zivilgesellschaft reagiert. Wir haben ja in Deutschland, in weiten Teilen Deutschlands eine sehr aufmerksame Zivilgesellschaft. Das ist auch ein Pfund, mit dem man wuchern muss. Das müsste dann weiter ausgebaut werden. Nur, ich habe das ja in dem Buch auch noch mit einem Fragezeichen versehen. Die Sache ist ja nicht zwangsläufig so. Nur, man muss einfach sehen, dass die strukturellen Probleme, die ich so angedeutet habe, der Finanzkapitalismus mit den Folgen und den Kontrollverlusten der nationalstaatlichen Politik, bestimmte soziale Desintegrationsprozesse wie kulturelle Konflikte und auch sozial-geographische Entwicklungen, das sind ja Strukturelemente, die werden ja zur Zeit gar nicht angegangen. Das ist ja der Punkt.

Der autoritäre Nationalradikalismus hat ja treibende Themen auf der Agenda. Das ist die Flüchtlingsbewegung. Das ist deutsche Identität. Deutschsein bekommt dann die Funktion eines stabilisierenden Kontrolle gewinnenden Identitätsankers. Dann natürlich auch die Frage Kriminalität und islamistischer Terror, also, das sind ja die treibenden Themen. Die liegen ja auf dem Hintergrund dieser strukturellen Probleme.

Ein Weiteres kommt hinzu: Wir erleben ja eine „Eindunklung“, so nenne ich das, in Europa. Wenn Sie sich die Landkarte ansehen, in manchen Staaten werden ja schon die Institutionen umgebaut.

Deutschlandfunk Kultur: Polen.

Wilhelm Heitmeyer: Oder auch Ungarn. Da bin ich skeptisch. Wenn man nicht ran geht an diese strukturellen Probleme, das muss man immer wieder sagen, die werden dann nicht einfach übergestülpt, sondern die Menschen verarbeiten diese Kontrollverluste und suchen dann nach autoritären Strukturen, die mehr Sicherheit versprechen.

Das werden die alles nicht einlösen können. Das ist nochmal ein wichtiger Punkt. Dadurch, dass diese Versprechen gemacht werden, Wiederherstellung der Kontrolle, also, das Schlagwort, wir holen uns unser Land zurück, das geht einher mit einer starken Forcierung der Ängste und damit der Kontrollverluste und macht die Sache an vielen Stellen nur noch problematischer.

Also, es ist ganz wichtig, dass die Zivilgesellschaft in allen Landesteilen sozusagen sich öffentlich artikuliert. Jede Gesellschaft muss ja ständig ihre Normen und die Normen von Gleichwertigkeit von Menschen und psychische und physische Unversehrtheit, das sind ja ganz basale Grundwerte dieser Gesellschaft, immer wieder neu befestigen.

Große Politik beginnt im kleinen Rahmen

Dazu gehören natürlich die großen Demonstrationen wie jetzt kürzlich in Berlin. Dazu gehört aber auch – und da setzen ganz hohe soziale Kosten an – im Verwandtschaftskreis, im Freundeskreis, im Sportverein, in der Kirchengemeinde. Bin ich in der Lage, dort bei solchen Sprüchen, bei solchen Abwertungen von Gruppen meine Stimme zu erheben? Die sozialen Kosten bestehen ja darin, dass ich die Verwandten verlieren kann, die Freunde verlieren kann. Dazu gehört, dass Widerspruch ein ganz hartes Training erfordert.

Wilhelm Heitmeyer: „Autoritäre Versuchungen“
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
395 Seiten, 18 Euro

MEHR ZUM THEMA

Wilhelm Heitmeyer: „Autoritäre Versuchungen: Signaturen der Bedrohung“ – Über die Folgen der Normendiktatur des Kapitalismus
(Deutschlandfunk Kultur, Lesart, 27.10.2018)

Wilhelm Heitmeyer – „Autoritäre Versuchungen“
(Deutschlandfunk, Andruck – Das Magazin für Politische Literatur, 22.10.2018)

Konferenz zum „neuen Faschismus“ – „Die Armen werden sich wehren“
(Deutschlandfunk Kultur, Fazit, 17.12.2016)

China – führendes Land des 21. Jahrhunderts

China ist in vielerlei Hinsicht das führende Land des 21. Jahrhunderts, nicht nur, aber vor allem auch bei technologischen Innovationen

„In der chinesischen Innovationsdynamik gibt es technologisch Bemerkenswertes, wie die Quantentechnologie und die sogenannten Quantencomputer, den Vorsprung bei Fluggeschwindigkeiten in der (defensiven) Militärtechnologie, bei E-Mobilität, alternativen Antrieben und intelligenter Infrastruktur, bei Bezahlsystemen und in anderen Bereichen.

Der ehemalige US-Militäringenieur und heutige selbstständige Blogger Fred Reed liefert hierzu erstaunliche Aussagen. Er schreibt etwa über das solarbetriebene Flugzeug, das in 20 Kilometern Höhe fliegt und monatelang in der Luft bleiben kann, über die Hochgeschwindigkeitszüge, die zentral sind für die künftige (gegenüber Flugzeugen und Hochseeschiffen ökologischere) schnelle Landverbindung zwischen Europa und Asien, oder über Investitionen in Solarenergie, um die Abhängigkeit vom Öl zu mindern, vor allem aus dem Persischen Golf und den entsprechenden Meerestransportwegen, die anfällig für Blockaden durch die US-Marine sind.

Das sogenannte Nationale Innovationssystem Chinas etwa im Bereich der Fotovoltaik ist intensiv beforscht worden. Diese Studien haben bekannte, typische Merkmale des Innovationssystems bestätigt, etwa die kombinierten „Treiber“ von Regierungsplänen und Marktdynamiken („Staat und Markt“), von lokalen Vernetzungen und internationalem Wettbewerb oder nationalen öffentlichen Forschungs- und Entwicklungs-(FUE-)Investitionen und lokaler Wirtschaftsförderung.

Und nur durch öffentliche Orientierung, Förderung und Koordination der zahlreichen privaten innovativen Aktivitäten konnte China der lang anhaltende Nach- und Aufholprozess gelingen, der ja insgesamt in der jüngeren Geschichte einmalig ist.1

Chinas Innovationsdynamik ist intensiv auch unter dem Aspekt vorliegender Patentstatistiken analysiert worden. Bereits 2014 wurde China die mit wachsendem Abstand führende Innovationsnation, was die Zahl der Patentanmeldungen betrifft: Inzwischen verzeichnet das Land mehr als die Hälfte aller Patentanmeldungen weltweit.

Dieser Aufschwung hängt historisch anscheinend zusammen mit einer Klärung der Eigentumsrechte an Erfindungen (IPR) in China seit Mitte der 2000er-Jahre, wobei wir schon gezeigt haben, dass der Schutz die kollektive Weiternutzung der enthaltenen Informationen gegen Lizenzgebühren nicht ausschließt.

Chinas Patent- und IPR-Recht ist daher weit weniger restriktiv als etwa das der USA. Längerfristige Datenreihen der World Intellectual Property Organization zeigen, dass China in Sachen Patentanmeldungen die USA, vor allem seit 2009/10, hinter sich gelassen hat und 2017 bereits 1,4 Millionen Patente angemeldet hat (USA gut 600.000, Europa unter 400.000).2

Der ehemalige US-Militäringenieur und Technologieblogger Fred Reed schreib:

Was mir auffällt an Chinas Innovationsprozessen […] Erstens das irre Tempo. Zweitens ihre Menge, die darauf abzuzielen scheint, […] Amerika von seinem Buckel abzuschütteln. Drittens, der offenbar berechnete Fokus. Das sieht nach einem klugen Muster aus, als das Gegenteil von Amerikas wetteiferndem Grabschen nach Profit für seine Sonderinteressen. […] Während Beijing zum Wohle Chinas arbeitet, sehr schnell seine techno-industrielle Schlagkraft vermehrt, gibt Washington irrsinnig viel Geld für Waffen aus. Es versucht, eine militärische Lösung für ein Handelsproblem zu suchen.“

Künstliche Intelligenz „Made in China“: Big Data, Big Analysis, Big Governance

KI gilt heute gemeinhin als die Schlüsseltechnologie für die absehbare Zukunft, also für die nächsten Jahrzehnte. Sie ist eine „Querschnittstechnologie“, die gleichermaßen für wissenschaftliche Forschung wie für industrielle Produktion oder die Fernkontrolle, -diagnose und -steuerung (das sogenannte „Internet of Things – IoT“) zentral ist. KI basiert auf der Verarbeitung bisher ungekannter Datenmengen („Big Data“) und deren automatisierter Analyse, Simulation und Prognose („Machine Learning“) mit neuartigen nicht-deterministischen (nicht-analytischen) mathematisch-statistischen Methoden.

Diese Methoden sollen komplexen Prozessen und bisher exklusiven Fähigkeiten des menschlichen Gehirns nahekommen (wie Relevanzselektion von Wahrnehmungen und Erinnerungen, Mustererkennungen, interaktive Adaptionen), aber zugleich spezifische Schwächen des menschlichen Gehirns im Bereich logisch-analytischer und statistischer Analyse großer Zahlenmengen ausgleichen.3

Die tatsächliche Tragweite und die möglichen Anwendungsbereiche dieser Technologien sind noch unscharf, aber „erstmals seit der industriellen Revolution könnte der Westen die Vorherrschaft bei einer globalen Schlüsseltechnologie verlieren“.4

Wie schon angesprochen, sind öffentliche Bildungsausgaben, Startups und deren angemessene Kapital- und Kreditausstattung zentrale Indikatoren künftiger Innovationsfähigkeit einer Nation, aber auch einer Region, eines Sektors, einer Industrie – und eben auch einer Schlüsseltechnologie.

Im Bereich der KI stellte China bereits 2017 7,3 Milliarden US-Dollar für Startups bereit, nahezu ebenso viel wie der Rest der Welt zusammen (USA 5,8 Milliarden US-Dollar, der „Rest“ 2,0 Mrd. US-Dollar).5 Für China wurden für 2016 knapp 600 Forschungsarbeiten im Bereich KI gelistet, verglichen mit circa 440 in den USA (2013: USA circa 50, China circa 30). Deutschland erscheint auch hier mit weit unter 100 Arbeiten (2016) bereits abgehängt.6

Kein Wunder, dass deutsche Unternehmer KI stets als Erstes erwähnen, wenn sie die Systembeziehungen zwischen Deutschland und China ansprechen. Der ehemalige Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft (OAOEV), Wolfgang Büchele, schreibt etwa, dass China heute ein Industrie- und Technologiepartner „auf Augenhöhe“ sei und dass dazu auch die milliardenschweren staatlichen Forschungsprogramme für KI beigetragen hätten. Zum anderen die „einzigartigen Finanzierungsmittel“, die chinesischen Firmen zur Verfügung stünden. Hinzu käme ein „gigantischer Schatz an Daten“ und „jede Menge hervorragend ausgebildeter Wissenschaftler“.7

Stichwort „Big Data“: Tatsächlich gibt es in China kaum eine Konferenz, auf der nicht Dutzende von Wissenschaftlern aus großen Fachinstituten offen, entspannt und transparent über ihre national und international vernetzten Analysen von Big-Data für die Steuerung der Alltagsprozesse, für die Verkehrsplanung und das Management der Megacitys, die Festlegung der besten Stellplätze für Hunderttausende von Leih-E-Bikes, die Fahrtrouten der Uber-Taxis, die Wege- und Kaufentscheidungen von Millionen Konsumenten in einer Stadt pro Tag und über vieles mehr berichten.

Auch die Produktionsaktivität Chinas wird heute schon mit Big Data und Big Analysis prognostiziert, zum Beispiel auf georäumlicher Basis mit Aufnahmen aus dem Weltall – in Echtzeit.

Dass in westlichen Medien beim Stichwort Big Data (für China) sofort die Obsession „Überwachung/Diktatur“ getriggert wird, erscheint vor dem Hintergrund der Beobachtung der komplexen chinesischen Realitäten ausgesprochen platt.

Die Analyse und Rahmensteuerung (neudeutsch: „Governance“) der täglichen Bewegungsströme von Millionen von Menschen auf Basis von KI und Big Data, ohne die die chinesischen Megacitys faktisch ebenso kollabieren würden wie die anderen „Dritte-Welt“-Albträume, ist heute unverzichtbar für das „Megacity-Management“.8 Dazu aber später natürlich noch mehr.

„Governance“ meint dabei nicht eine Detailsteuerung Einzelner, die praktisch ohnehin nicht durchführbar wäre, sondern die Etablierung von Steuerungs- und Regelungssystemen, die systemische Rahmenbedingungen setzen, auf die sich die Akteure flexibel und mit bestimmten Freiheitsgraden einstellen können.

Somit sollen in einer Einheit wie Staat, Gemeinde, privater oder öffentlicher Organisation einheitliche Rahmenbedingungen und Strukturen für die Ermöglichung nachhaltiger Dynamiken gesetzt werden. Smart Citys auch in Nordamerika und Europa nutzen heutzutage bereits Unmengen an Steuerungselementen etwa für den Verkehrsfluss.

„China ist nicht innovativ“

China hat sich, auf der Basis eines Schwellenlandes mit erst unterem mittlerem Einkommen, zu einem technologisch führenden Land entwickelt, mit einer einzigartigen Hebelwirkung zwischen durchschnittlichem Einkommensniveau und technologisch-organisatorischer Innovationsleistung.

Wir rufen nur kurz folgende Stichworte auf für Bereiche, in denen China trotz umfassender Technologieembargos aus dem Westen führend in Forschung, Entwicklung und Anwendung geworden ist.

Einige davon wurden oben im Einzelnen beschrieben, andere hier nur als Stichworte: Elektromobilität und andere alternative Antriebe, Solartechnologie, Quantentechnologie und Supercomputer, Hochgeschwindigkeitszüge und Magnetschwebe-Technologie, Gehirn-Maschine-Steuerungssysteme, Überschall-Raketen-Technologie, IT-Telekommunikation (5G, 6G), biologische Batterien, AI-Chip-Technologien, Medizin- und Gen-Forschung, Kernforschung und Teilchenbeschleuniger-Technologie, Weltraumforschung und Radioteleskoptechnologie, Materialforschung in Naturmaterialien, 3D-Druck-Hausbau und vieles andere mehr.

Die offiziellen Narrative im Westen aber sollen der eigenen Bevölkerung ein anderes, feindseliges Bild von „den Chinesen“ generieren: China hätte ein Bildungssystem, das nur zu Anpassung, Imitation, guten Testergebnissen, aber geringer Kreativität erziehen würde.

Carly Fiorina, frühere Chefin von Hewlett-Packard, verkündete noch 2015, dass Chinesen nicht kreativ sein könnten: „Sie sind nicht sehr einfallsreich. Sie sind nicht unternehmerisch veranlagt. Sie innovieren nicht.“

Ebenfalls noch 2015 haute auch McKinsey in diese Kerbe: China könne nur die „leichten“ Innovationen9 machen, nur Produkte billiger machen und sie nur graduell verbessern; in wissenschaftlichen oder ingenieurtechnischen Durchbrüchen seien sie nur begrenzt erfolgreich.

Ein Kommentator schrieb dazu: „Die Behauptung ist völliger Quatsch, und zwar aus mehr Gründen, als ich hier zu erklären vermag.“ Dies dürfte bisher auch schon deutlich geworden sein, aber dazu im Weiteren auch noch mehr. Die westlichen Bevölkerungen auf diese Weise in einer Traumwelt zu halten, kann nicht lange gutgehen. (Wolfram Elsner)“

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders“ von Wolfram Elsner, das gerade im Westend Verlag erschienen ist.

Besprechung des Buches in einem Blog der Freitags-Community (Wochenzeitung: Freitag)

Prantls Blick: Demonstrationen in bizarren Zeiten

Quelle: Süddeutsche Zeitung online

Von Heribert Prantl  17. Mai 2020

Prantls Blick:Demonstrationen in bizarren Zeiten

 Verschwörungstheorien sind keine Theorien, sondern Idiotien. Und die Grundrechte sind das Beste, was wir haben. Warum man sie nicht den Extremisten überlassen darf.

In der Corona-Krise haben mir Leute gesagt und geschrieben: „Übertreiben Sie es nicht mit Ihrem dauernden Rumreiten auf Demokratie und Grundrechten, lieber Prantl!“ Ich habe geantwortet: „Kann man es als Demokrat mit der Demokratie übertreiben?“ Ein guter Bekannter meinte zu den Grundrechtseinschränkungen, dass einst mein Oberpfälzer Landsmann Hermann Höcherl als Bundesinnenminister im Kabinett von Konrad Adenauer schon recht gehabt habe mit seinem Satz, dass seine Beamten „nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“ könnten. „Ob sie es unterm Arm tragen“, habe ich geantwortet, „ist mir gleich. Aber im Kopf und im Herzen müssen die Politiker und ihre Beamten das Grundgesetz haben, wenn es darum geht, Kontaktsperren und Betriebsschließungen vorzuschreiben, durchzusetzen und wieder aufzuheben.“ Und: Auch aus berechtigter Sorge darf man nicht ein wenig, also „etwas außerhalb der Legalität“ handeln, wie Höcherl seinerzeit die Rechtsbrüche in der Spiegel-Affäre zu beschwichtigen versuchte. „Die nächste Bundestagswahl ist doch erst“, so meinte da ein Freund zu meinen Sorgen über eine schrumpfende Demokratie, „im Herbst 2021. Und bis dahin ist längst ein Anti-Covid-19-Impfstoff gefunden, bis dahin ist die Corona-Krise, selbst wenn sie ganz lange dauert, Vergangenheit.“

 Demokratie ist mehr als eine Urne

Wer so redet, der hält die Demokratie für eine Kiste: 90 Zentimeter hoch und 35 Zentimeter breit; oben hat diese Demokratie einen Deckel mit Schlitz – und alle paar Jahre, in Deutschland immer an einem Sonntag, kommen viele Leute zu diesen Kisten. Die Kisten heißen „Urnen“. Das ist eigentlich ein merkwürdiger Name, denn die Demokratie wird ja an diesen Wahltagen nicht verbrannt und beerdigt. Im Gegenteil: Sie wird neu geboren, sie muss dann genährt werden, gefördert, ausgebildet, sonst stirbt sie. Sie braucht den Gebrauch und die Anwendung. Sie muss bewegt werden, sonst geht es ihr wie einem bettlägerigen Patienten: Die Gelenke werden steif, die Muskeln schlapp, und wenn der Patient nicht mobilisiert wird, kommt er nicht wieder auf die Beine.

Videokonferenzen – keine wirklichen Begegnungen

Demokratie ist sehr viel mehr als eine Wahl. Eine richtige Demokratie findet an jedem Tag statt, sie findet statt im mühsamen Begründen, Streiten und Aushandeln – wenn, ja wenn nicht gerade Corona und also das Sich-Versammeln schwer ist, das Demonstrieren auch.

„Teams“ und „Zoom“ und Videokonferenzen werden im Moment gefeiert. „Endlich!“ sagen viele, „endlich kommen die Leute darauf, dass man Verhandlungen auch via Bildschirm führen kann.“ Aber je länger das währt, umso mehr wird auch spürbar, dass diese Art der Diskussion kein Ersatz ist, sondern ein Behelf. Videokonferenzen sind keine wirkliche Begegnung.

Dazu gehört das Nebengespräch mit dem Nachbarn, die Verständigung über Blicke und Gesten, das informelle Gespräch in der Pause. Demokratie stellt nicht soziale Distanz her, Demokratie will soziale Distanz überwinden. Der neunmalkluge Einwand, dass man den Lockdown nicht Social Distancing, sondern Physical Distancing nennen sollte, ist ebenfalls ein Behelf – es ist der wohlmeinende Versuch, den sozialen Verlust begrifflich zu verharmlosen. Eine Demokratie leidet an Ausgangsbeschränkungen, an Kontakt- und Versammlungsverboten, so notwendig solche Verbote kurzfristig auch sein mögen. Der Satz „Not kennt kein Gebot“ ist ein Satz, der nicht zu einer Demokratie und nicht zu einem Rechtsstaat passt. Auch die Not kennt Gebote: Sie sind in den Grundrechten formuliert.

Verschwörungstheorien sind keine Theorien, sondern Idiotien

Heute, in Corona-Zeiten, treiben leider Heuchler mit dem Wort „Grundrechte“ Schindluder. Es beschwören auch solche Leute die Grundrechte, die diese Grundrechte sonst verlachen und verhöhnen. Rechtsextremisten tun so, als müssten sie, ausgerechnet sie, jetzt die Grundrechte schützen. Flankiert werden sie dabei von allerlei Spintisierern, die mit dem Etikett „Verschwörungstheoretiker“ beklebt werden, obwohl es sich bei ihren Anschauungen gerade nicht um Theorien handelt, nicht um Thesen, die aus denkenden Anschauungen gewonnen werden, sondern um Phantasmen, die im undurchsichtigen Nebel von Vorurteilen, Lügen, Halbwahrheiten, Ängsten und Ressentiments entstehen. Sie alle versuchen, ihre Idiotien dadurch zu adeln, dass sie sich als Verteidiger der Verfassung tarnen.

Je verrückter, desto mehr Klicks

Aber das Grundgesetz ist kein Kostümverleih, ein Grundrecht ist kein Tarnanzug. Ein Grundrecht wie das der Versammlungsfreiheit kann sich nicht wehren. Auch nicht dagegen, dass Leute mit absonderlichsten Ideen, wie Attila Hildmann, ein veganer Koch, der auf Facebook in die Welt schreit: „Die Olympia Eröffnungszeremonie 2012 war ein Corona Ritual!“, in den Hitlisten des Internets ganz oben stehen. Diese Leute behaupten, dass die Strahlen des neuen 5G-Handy-Netzes für Covid-19 verantwortlich seien. Oder dass Bill Gates das Coronavirus in die Welt gesetzt und die WHO gekauft habe, um sich dann mit dem Impfstoff zu bereichern. Je verrückter, desto mehr Klicks. Man darf allerdings vermuten, dass ein Teil der Aufrufe solcher Seiten nicht von Anhängern stammt, sondern von Neugierigen, die im großen Hype um die Verschwörungsidiotien auch mal schauen wollen, was so an Verrücktheiten und Scheußlichkeiten im Angebot ist – so wie die Leute Anfang des 20. Jahrhunderts in die Freakshows der Jahrmärkte strömten, um „die erstaunlichsten Ungeheuer aller Zeiten“ zu sehen.

Man kann den Kopf schütteln, bis er abfällt

Gerade über die sogenannten Verschwörungstheoretiker kann man sich jetzt herrlich aufregen, sie medial aufblasen. „Ist es nicht schrecklich? Ja, es ist schrecklich“, kann man sich empören und seine eigene Aufgeklärtheit beweisen und ein gutes Gewissen haben, weil man selbst nicht auf Grundrechts-Demos geht. Man kann sein ganzes Repertoire an Ironie über die Idiotie abspielen, man kann das Spintisieren analysieren und sich distanzieren, man kann die Verschwörungsphantasmen zum x-ten Mal als den Versuch demaskieren, einfache Lösungen zu finden und solche beeindruckenden Wörter wie „Komplexitätsreduktion“ anbringen. Man kann über die kursierenden Hirngespinste über Bill Gates den Kopf schütteln, bis er abfällt. Aber: Man sollte bei aller Empörung darüber nicht ganz vergessen, was wahrlich ein Grund zur Empörung angesichts einer Pandemie sein könnte. Wahr ist nämlich, dass die WHO ohne einen Mäzen wie Bill Gates finanziell am Ende wäre, weil die Staaten zu wenig Beiträge zahlen und die USA die Zahlungen völlig gestoppt haben. Letzteres ist wirklich ein Grund zum Demonstrieren.

Die plötzliche Grundrechtsliebe der Extremisten – und was der Grund dafür ist

Die berechtigte und die herbeigeredete Aufregung über die Verschwörungsphantasten überlagert die notwendige Diskussion über die Einschränkungen von Grundrechten; und die Diskussion über die Einschränkungen von Grundrechten leidet darunter, dass Grundrechtsmissachter wie die AfD auf einmal die Grundrechte in den höchsten Tönen loben. Noch einmal: Die AfD ist eine Partei, in der Grundrechte wenig gelten. Auf Versammlungen dieser Partei wird vor Begeisterung gejohlt, wenn Nazi-Verbrechen verharmlost, Juden verhöhnt, Muslime verachtet und Gemeinheiten über Flüchtlinge gesagt werden. Wenn sich ausgerechnet eine solche Partei, wenn ausgerechnet diese und andere Verfassungsverächter sich jetzt zu Verteidigern der Grundrechte aufwerfen, ist das fatal. Ein Grundgesetz, das solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Aber vielleicht kann man in der plötzlichen Grundrechtsliebe der Partei auch ein Indiz sehen für ihre berechtigte Angst vor Bedeutungsverlust, also eine Verfallserscheinung.

Warum viele gute Demokraten sich scheuen, auf die Straße zu gehen

Viele gute Demokraten sind jedenfalls zutiefst verunsichert, vielleicht genieren sie sich auch: Sie sehen, dass die Grundrechte leiden, wollen aber nicht auf die Straße gehen, wollen lieber Abstand halten, was ihnen nach ihrem eigenen Selbstbild aber gar nicht so gut steht. Ist da die Fixierung auf die Verschwörungsidioten womöglich auch eine Art Kompensation des eigenen Unbehagens über die restriktiven Anti-Corona-Maßnahmen und eine Kompensation der Gewissensbisse, weil man diese Maßnahmen einfach brav hinnimmt?

Warum man Mut und ein dickes Fell braucht

Man darf die Verfassung, man darf die Grundrechte, man darf die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit nicht mit Gauland und Co. alleine lassen. Dazu braucht man, je größer die Empörung über die Verschwörungsschwafler wird, umso mehr Mut. Wer jetzt das Wort ergreift, braucht ein dickes Fell, weil er aushalten muss, als „auch so eine/r“ einsortiert und beschimpft zu werden. Man sollte, man darf bitte die Reden auf den Demos jetzt nicht Verschwörungsfreaks und Konsorten überlassen, die nur zu gern auf der Bühne stehen. Das ist mein Appell an die Organisatoren, das ist auch ein Appell an die, die sich jetzt bange machen lassen, das zu sagen, was zu sagen ist.

Warum Krach schlagen wichtig ist. Und welche Demonstrationen notwendig sind.

Ob mit oder ohne Demonstrationen: Die Parlamente und die Gerichte müssen intensiv über Grundrechtseinschränkungen und ihre Aufhebung in den Zeiten der Pandemie beraten und urteilen.

Diese Beratungen, diese Urteile müssen der Ausgangs- und Fixpunkt für breite Diskussionen in der Öffentlichkeit sein, an der sich auch die großen Verbände und Einrichtungen der Zivilgesellschaft beteiligen – also etwa die Gewerkschaften, die Wohlfahrtsverbände, die Religionsgemeinschaften. Wir brauchen Demonstrationen, vielleicht gar nicht so sehr solche, die allgemein „für die Grundrechte“ und fürs Demonstrieren demonstrieren. Wir brauchen Mahnwachen, wie sie etwa der katholische Pfarrer Peter Kossen vor der Firma Westfleisch in Coesfeld abgehalten hat. Das sind die Demonstrationen, die bitter notwendig sind: gegen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, die an Sklaverei grenzen. Hier lernt man, dass die Beachtung von Grundrechten (hier: die Einhaltung von guten Arbeitsbedingungen) dem Schutz vor Corona dient. Und man wird erinnert, dass all die Probleme, die die Menschen vor der Pandemie auf die Straße getrieben haben, durch das Virus nicht erledigt sind, sondern vielfach verschärft werden. Es braucht weiterhin Menschen, die ihretwegen öffentlich Krach schlagen.

Das Beste, was wir haben

Gewiss: Die Grundrechte gelten auch für Leute, die für anderes demonstrieren, sie gelten auch für Radikale und Extremisten, sie gelten auch für Leute, die Corona für eine Erfindung halten.

Das Grundgesetz schützt ja nicht nur gute und demokratisch wertvolle Meinungen. Es schützt auch das Abseitige und das Abstruse. Aber: Man darf die Grundrechte nicht mit den Verfechtern des Abstrusen alleine lassen. Die Grundrechte sind das Beste, was wir haben – sie sind die Grundordnung der Gesellschaft. Wir brauchen den Mut zu ihrer Verteidigung auch in bitteren und bizarren Zeiten.

Vor einem Jahr haben wir gefeiert und die Grundrechte gepriesen. Wir haben uns, zum siebzigsten Jubiläum des Grundgesetzes, an dessen Mütter und Väter erinnert – an wunderbare Demokraten wie Elisabeth Selbert und Carlo Schmid, an Widerstandskämpfer gegen Hitler wie Hermann Louis Brill und Jakob Kaiser. Als sie die Grundrechte formuliert haben, lag Deutschland in Trümmern, in Schutt und Elend. Der Katalog mit den Grundrechten entstand in einer Welt voller Unsicherheit. Hunderttausende „displaced persons“ zogen damals durchs Land, ansteckende Krankheiten grassierten. Die Grundrechte sollten Sicherheit geben in einer Welt der Unsicherheit. Es war und ist nicht gut, wenn nun, 71 Jahre später, in der Corona-Krise, die Aussetzung dieser Grundrechte Sicherheit geben soll.

Eigenverantwortung stärken, nicht denunzieren

Eine gute Zukunft haben wir nur dann, wenn uns eine bürgerschaftliche Demokratie gelingt – auch in Corona-Zeiten. Das ist eine Demokratie, die die Verantwortung für die Demokratie und Gesellschaft nicht bei den Parlamenten, bei der Regierung, der Verwaltung oder bei den Virologen abgibt, so notwendig deren Sachverstand auch ist. Eine gute Demokratie muss auch an die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger glauben, sie muss diese Eigenverantwortung stärken und nicht denunzieren; eine gute Demokratie traut der Vernunft ihrer Bürger.

Studie zu Aerosol-Viruswolken: dicke Luft im Restaurant

SPIEGEL online – 15.05.2020

Von Susanne Götze

Covid 19-belastete Tröpfchen machen geschlossene Räume zu Infektionsherden

Studie zu Aerosol-Viruswolken: dicke Luft im Restaurant

Durch winzige Schwebeteilchen stecken sich in geschlossenen Räumen mehr Menschen mit Covid-19 an als bislang angenommen, vermuten US-Forscher. Das könnte auch Folgen für Restaurants und Cafés haben.

Nach mehr als zwei Monaten Alltag in der Coronavirus-Pandemie haben sich die Regeln langsam eingeschliffen: Mit Abstand halten, Händewaschen und Desinfizieren kann verhindert werden, dass schnell viele Menschen an Covid-19 erkranken. Doch das ist möglicherweise nur die halbe Wahrheit.

Erste Anzeichen dafür, dass die Virusverbreitung komplexer ist, gab es schon seit Anfang März. Damals trafen sich in der Kleinstadt Mount Vernon nördlich von Seattle 61 Chormitglieder in einer Kirche. Aus der harmlosen Chorprobe wurde dann ein „Superspreader-Ereignis“. So nennen Virologen den Vorgang, wenn eine mit dem Virus infizierte Person überproportional viele Mitmenschen ansteckt. Obwohl Desinfektionsmittel bereitstanden und alle auf die Abstandsregeln achteten, steckte ein einziger Chorsänger mit Covid-19-Symptomen ganze 52 seiner Mitsänger an. Drei mussten ins Krankenhaus, zwei starben.

Einen ähnlichen Fall gab es in der Berliner Domkantorei, als sich ebenfalls rund 80 Menschen zum Chorsingen trafen und danach über 30 Mitglieder positiv auf das Virus getestet wurden. Von der Domverwaltung hieß es später: Die lange Verweildauer in einem Raum habe „es offensichtlich unerheblich gemacht, wie weit man voneinander weg sitzt“. Das legen nun auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse nahe.

Weil alle Hygieneregeln bei den Chorproben befolgt wurden, könnte die Ursache für diese „Superspreader“-Ereignisse in der Luft liegen. Dabei geht es um winzige Schwebeteilchen, die für das bloße Auge unsichtbar sind. Die sogenannten Aerosole sind ständig in unserer Luft. Durch Niesen, Husten oder Sprechen fliegen sie als Mikrotröpfen in die Umwelt. Haften sich Bakterien oder Viren an die Partikel, heißen sie Bioaerosole.

Wie groß die Ansteckungsgefahr durch virenbelastete Teilchen ist, wollten US-Forscher vom National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases (NIDDK) mit einer Studie herausfinden. Dafür maßen sie, wie viele Aerosole durch normales Sprechen ausgestoßen werden und wie lange die Tröpfchen in der Luft bleiben, bevor sie zu Boden fallen. Die Schwebedauer ist dabei entscheidend für das Risiko, andere Menschen im selben Raum anzustecken. Dafür mussten die Testpersonen in einem geschlossenen Raum 25 Sekunden lang laut den Satz „Stay healthy!“ („Bleib gesund!“) wiederholen. Ausgesucht wurde der Satz wegen des spuckafinen „th“ im Englischen. Um die Tröpfchen messbar zu machen, projizierte das Forscherteam einen Laser in den Raum.

Das Ergebnis kann man nun im Fachmagazin der US-amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften („PNAS“) nachlesen: Unter diesen Laborbedingungen produziert ein Sprecher in jeder Minute mehr als tausend virusbelastete Tröpfchen. Diese verweilen dann in einem geschlossenen Raum durchschnittlich zwölf Minuten lang in der Luft. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Viren an die Mikroteilchen binden, variiert je nach Größe des Aerosols. Je kleiner die Schwebeteilchen, desto geringer auch die Viruslast.

Demnach ist laut den US-Forschern ein Beleg erbracht, dass nicht nur Husten und Niesen, sondern auch Sprechen eine ansteckende Aerosolwolke produzieren kann. Eine Ansteckung wird umso wahrscheinlicher, je kleiner ein Raum und je länger die Sprechaktivität ist. Dabei ist zweitrangig, ob es genügend Abstand gibt oder nicht. Sogar einfaches Atmen könnte potenziell infektiöse Aerosole freisetzen, erklärte Donald Milton, US-Aerobiologe für Infektionskrankheiten in einem Statement der Nationalen Akademie der Wissenschaften.

Den Kaffee lieber auf dem Terrassenplatz

Dieser Infektionsweg ist an sich nicht neu: Er ist bereits für andere Erreger belegt, darunter Masern, Tuberkulose, Influenza – und auch für Sars-CoV-1, das von 2002 bis 2003 grassierende Coronavirus.

Stimmt die Aerosol-Theorie, dürften sich Infizierte und Risikogruppen auch in geschlossenen Räumen wie Supermärkten, Bussen und Bahnen nicht gemeinsam aufhalten, kommentierte US-Epidemologe Michael Osterholm vom US-Instituts Center for Infectious Disease Research and Policy entsprechende Berichte bereits im April.

Das sieht auch der deutsche Virologe Christian Drosten so. Er schätzt, dass fast die Hälfte der Virusübertragungen auf Aerosole zurückzuführen sind, die andere Hälfte durch großere Tröpfchen und nur rund zehn Prozent durch Schmier- oder Kontaktinfektionen. Diese virenbelasteten Schwebeteilchen könnten sogar einige Stunden infektiös bleiben, erklärte der Leiter der Virologie der Berliner Charité in seinem NDR-Podcast vom 12. Mai.

Drosten hält deshalb das Händewaschen oder Desinfizieren für übertrieben. Wichtiger sei, dass sich die Menschen unter freiem Himmel treffen und nicht in geschlossenen Räumen, wo die Aerosole nicht abziehen oder weggeweht werden könnten.

„Die bisherigen Untersuchungen weisen darauf hin, dass Sars-CoV-2-Viren über Aerosole auch im gesellschaftlichen Umgang übertragen werden können“, bestätigt mittlerweile auch das Robert Koch-Institut in seinem Steckbrief. Das stütze sich auf Untersuchungen, die darstellen, wie sich von Menschen abgegebene Partikel in Räumen verteilen und zu „aerogenen Übertragungen“ führen. Über die Risiken im Alltag und die Folgen für die aktuellen Lockerungsregeln will sich das RKI aber auf Nachfrage nicht äußern.

Wie stark Innenräume mit Coronaviren belastet sind, testet derzeit auch ein Labor in Kalifornien. Die Forscher des Lawrence Berkeley National Laboratory, eine Einrichtung des US-Energieministeriums, simulieren den Tröpfchen- und Aerosolaustausch zwischen den Räumen.

Dafür nutzen sie einen Gebäudesimulator, den Architekten oder Behörden normalerweise für das Testen von technologischen Neuheiten nutzen. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, wie hoch das Risiko einer Ansteckung in Büros oder auch in Restaurants ist. Getestet wird auch, wie sich die belastete Atemluft durch Belüftungsanlagen, Heizungs- oder Klimaanlagen verteilt.

Masken: Besser als nichts

Ob Masken wirklich einen sicheren Schutz gegen das Verbreiten virenbelasteter Mikropartikel bieten, ist weiter umstritten. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erkärte, dass selbst gemachte „Community-Masken“ eher eine physische Barriere seien und eine Schutzfunktion vor größeren Tröpfchen sowie den Kontakt zwischen Gesicht und kontaminierten Händen verhinderten.

Auch das Robert Koch-Institut (RKI) empfiehlt mittlerweile das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum. Die selbst gemachten Masken filtern laut RKI aber vermutlich weniger Tröpfchen als der mehrlagige medizinische Mund-Nasen-Schutz. Das Tragen einer Maske könne „den Infektionsdruck und Ausbreitungsgeschwindigkeit in der Bevölkerung reduzieren“.

Untersuchungen von Feinstaubmasken zeigen, dass gerade einfache Baumwollmasken relativ grobmaschig sind. Zwar werden größere Tropfen abgehalten, aber Aerosole, die eine Größe von einem Tausendstel Millimeter haben, gelangen sehr wahrscheinlich beim Sprechen durch die Maske ins Freie. Beim Restaurantbesuch oder beim Kaffeetrinken muss die Maske ohnehin irgendwann ab. Werden dann noch die neuesten Corona-Witze erzählt und kräftig gelacht, haben die Viren freie Bahn.