Corona und die Politik

Die Corona-Pandemie steht in enger Wechselwirkung der Politik – und zwar der Politik auf allen Ebenen, der kommunal-regionalen, der nationalen, der europäischen und der internationen Politik.

Die globale Gesundheitspolitik leidet unter neoliberalen Sparmaßnahmen und gerät zusehends in Abhängigkeit privater GeldgeberInnen.

Quelle: Jahoda-Bauer-Institut Linz

Von Nadja Meisterhans. Zur PDF-Version

Die globale Gesundheitspolitik leidet unter neoliberalen Sparmaßnahmen und gerät zusehends in Abhängigkeit privater GeldgeberInnen.

Die Welt ist infiziert und befindet sich im politischen Ausnahmezustand. Am 30.1. dieses Jahres hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angesichts der rasanten Ausbreitung des Coronavirus den internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Derzeit erleben wir, wie demokratische Regierungen drastische Maßnahmen ergreifen, die insbesondere mit der Einschränkung von politischen Grundfreiheiten und dem öffentlichen Leben einhergehen. So auch in Österreich. Bisher ist eine Mehrheit in der Bevölkerung mit dem Krisenmanagement der Regierung zufrieden. Doch ist sie das zurecht? Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die strukturellen Ursachen der Corona-Pandemie betrachtet.

Corona und das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft
Corona ist keine Naturkatastrophe. Vielmehr, so die These des Beitrags, ist die derzeitige Krise menschengemacht. Mehr noch: Corona ist Ausdruck eines eklatanten politischen Versagens – sowohl auf der nationalen, auf der europäischen wie auch globalen Ebene.

Die Corona-Krise verdeutlicht auf drastische Weise, dass Krankheiten nicht vor Staatsgrenzen halt machen, sondern eine globale Dimension haben. Bereits im Anschluss an die Ebola-Krise, die nicht zufällig von 2014-2016 in den drei ärmsten Ländern Afrikas wütete, zeigte sich, dass existierenden Strukturen zur Bekämpfung globaler Gesundheitskrisen große Defizite aufweisen und eklatante Schwächen in der internationalen Zusammenarbeit bestehen.

Das Ebola-Virus wurde lange ignoriert, so lange es nur in Afrika grassierte. Ähnliches lässt sich über Corona sagen. Auch hier hatte die internationale Gemeinschaft Corona viel zulange für ein Problem Chinas gehalten. Dies hatte zur Folge, dass entsprechende Schutzmaßnahmen, wie sie bereits im Rahmen der „International Health Regulations“ im Anschluss an die SARS-Epidemie im Jahr 2005 von der WHO verabschiedet wurden, nicht greifen konnten.

Die einzelnen Regierungen versäumten zudem die jeweiligen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie untereinander zu koordinieren. Eine international koordinierte Gesundheitsstrategie liegt bis heute nicht vor. Im Gegenteil: Bereits auf der EU-Ebene scheitert ein solidarisches Vorgehen, wie die derzeitige Ablehnung der Eurobonds insbesondere von Österreich, Deutschland und den Niederlanden zeigt. Hinzu kommt, dass die italienische Regierung mit Beginn der Coronakrise die EU aufrief, das EU-Katastrophenschutzverfahren in Gang zu setzen. Dies hätte der EU-Kommission ein Mandat verliehen, die Krise zentral zu koordinieren. Doch eine Reaktion blieb aus. Ganz zu schweigen von den Flüchtlingen auf den griechischen Inseln, die Corona völlig schutzlos in Massenlagern ausgeliefert sind. Trotz der akuten humanitären Krise, die sich dort abspielt, weigert sich Österreich unter der Regie Sebastian Kurz, selbst Kinder zu retten.

 Die Wurzeln der Gesundheitskrise
Dass demokratische Regierungen nun auf eine kollektive Quarantäne setzen und dabei auf eine seit dem Ende des zweiten Weltkriegs noch nie dagewesene Einschränkung von bürgerlichen Grundfreiheiten vornehmen, erscheint derzeit alternativlos. Nun sitzen wir alle im Lockdown und die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen vor allem aber politischen Folgen der Politik des Ausnahmezustands und der Notstandsgesetzgebung sind noch gar nicht absehbar.

Doch die derzeitige Gesundheitskrise hat tiefliegende Wurzeln: Weltweit wird das Gesundheitswesen durch neoliberale Politik ökonomisiert, privatisiert und entsolidarisiert. Insbesondere die im Anschluss an Schuldenkrisen und die globale Finanzkrise verordneten Austeritätspolitiken haben dazu geführt, dass Staaten (sowohl im Süden wie auch im Norden) kaum in die soziale Infrastruktur investieren (können).

Indem neoliberale Politik-Modelle das Sozialstaatsprinzip und das der steuerfinanzierten Umverteilung aberkennen, wird eine nachhaltige insbesondere auf die Stärkung strukturell Benachteiligter bezogene Gesundheitsagenda konterkariert. Und auch in Österreich rächt sich nun der Pflegenotstand, der ÄrztInnenmangel, der Umstand, dass zu wenig Schutzkleidung in Krankenhäusern, aber auch Pflegeheimen vorhanden ist. Die Austeritätspolitiken der letzten Jahrzehnte haben also auch in Europa in eine Situation geführt, in welcher ÄrztInnen angesichts mangelnder Personal- und Materialkapazitäten im schlimmsten Falle entscheiden müssen, wer leben darf und wer sterben muss. Die dramatischen Zustände in Italien sind hierfür geradezu symptomatisch.

Dabei hätte man von Ebola lernen können. Im Jahr 2015 fand in der Generalversammlung wie auch im Executive Board Meeting der WHO anlässlich der Ebola-Krise eine entscheidende Debatte statt. Schon damals zeigte sich, dass mangelhafte nationale Gesundheitssysteme, nicht nur bei akuten Seuchen, katastrophale Auswirkungen haben. Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit und hängt im entscheidenden Maße davon ab, wie es gelingt, soziale Teilhabe zu organisieren und sozio-ökonomisch bedinge Ungleichheiten abzufedern.

 Die sozialen und politischen Determinanten von Gesundheit
Der derzeitige Gesundheitsdiskurs fokussiert sehr stark auf biomedizinische Parameter. D.h. wir erleben, dass die Welt auf einen Impfstoff und entsprechende Medikamente und technologische Lösungen setzt. Problematisch daran ist jedoch, dass so die strukturellen Ursachen, die Gesundheitskrisen – nicht nur im Fall von Pandemien – bedingen aus dem Blickfeld geraten. Die WHO spricht in diesem Zusammenhang von den sozialen Determinanten von Gesundheit.

Angesprochen sind hier die Lebensbedingungen von Menschen und die Frage, wer überhaupt Zugang zur Gesundheitsversorgung hat. Was den Zusammenhang zwischen den Lebensbedingungen und Corona betrifft, steht die Forschung noch am Anfang.

Globale Gesundheitsfragen stehen in einem engen Zusammenhang mit zahlreichen Politikfeldern, wie Entwicklung, Sicherheit, Handel, Wirtschaft, Menschenrechte, Landwirtschaft, Forschung, Beschäftigung, Bildung, Migration sowie mit humanitärer Hilfe. Millionen von Menschen sind aufgrund von Armut, politischer und sozialer Diskriminierung, Krieg, unfairen Wirtschafts- und Handelsstrukturen und prekärer Staatlichkeit von jeglicher Gesundheitsversorgung ausgeschlossen.

Entscheidend ist, dass insbesondere Armut fatale Auswirkungen auf den Gesundheitsstatus hat und der schlechte Gesundheitszustand wiederum die Armut vergrößert, indem er Menschen arbeitsunfähig macht und sie davon abhält für eine Lebensgrundlage zu sorgen. Wie drastisch sich Armut auswirkt, zeigt ein Blick auf die durchschnittliche Lebenserwartung in armen und reichen Ländern: Sie kann sich bis zu 30 Jahre unterscheiden.

 Gesundheit ist ein Menschenrecht
Gesundheit ist jedoch ein Menschenrecht und ein öffentliches Gut, das kollektives Handeln erfordert. Doch obwohl das Menschenrecht auf Gesundheit ein Grundrecht ist, wie es auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte skizziert und später im Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte besiegelt wurde, haben Regierungen auf der ganzen Welt versäumt, nachhaltige und insbesondere menschenrechtsbasierte Strukturpolitiken nicht nur im Bereich Gesundheit zu etablieren.

Die bestehenden Global Governance-Strukturen (also Politiken jenseits des Nationalstaat, die auf der überstaatlichen Ebene im Rahmen von internationalen Organisationen wie die Weltbank koordiniert werden) waren in der Vergangenheit gerade nicht in der Lage, multiple Krisen (Gesundheits-, Ernährung,- Umweltkrisen) im globalen Maßstab zu verhindern.

Stattdessen haben sie im Globalen Süden – denkt man etwa an die auf Liberalisierung und Deregulierung ausgerichteten Strukturpolitiken des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO) – häufig zu ihnen beitragen.

Mehr noch: Es rächen sich nun die weltweiten neoliberalen Sparprogramme, durch die auch gut funktionierende Gesundheitssysteme in eine prekäre Lage gebracht wurden, so dass bei globalen Krisen nicht angemessen reagiert werden kann.

Dazu kommt, dass ein großer Teil der globalen Entwicklungs- und Gesundheitspolitik mittlerweile durch private Stiftungen und Initiativen in Form von philanthropischen Großprojekten und Private Public Partnerships abgewickelt wird. Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist nicht nur, dass internationale Organisationen wie die UN und ihre Sonderorganisationen im Zuge ausbleibender Erfolge z.B. im Bereich der Armutsbekämpfung in Misskredit geraten sind, sondern ebenso ein genereller Trend im Rahmen neoliberaler Regierungstechniken. Und dieser Trend ist, dass Politik jenseits des Staates und jenseits von internationalen Institutionen im Rahmen von globalen Partnerschaften mit der Privatwirtschaft organisiert wird.

 Bill Gates und die Krise der WHO
Auch die WHO ist chronisch unterfinanziert und so in Abhängigkeit von privaten GeldgeberInnen geraten.

Nur 20% des jährlichen Budgets stammen aus regulären Mitgliedsbeiträgen. 80% sind dagegen Zuschüsse und zweckgebundene Mittel, die einzelne Länder, große private Stiftungen, Unternehmen oder finanzstarke NGOs beisteuern und die nur für bestimmte Projekte zur Verfügung stehen. Die WHO kann somit über die Verwendung ihrer Mittel nur eingeschränkt entscheiden.

Das führt zum Kontrollverlust und einer problematischen Konkurrenz zwischen den verschiedenen Programmen der WHO um die Gunst der GeldgeberInnen zu Lasten von menschenrechtsbasierten und nachhaltigen Strukturpolitiken auch auf der nationalen Ebene.

Entscheidend ist, dass weniger Geld für langfristig angelegte Projekte wie etwa die Unterstützung von nationalen Gesundheitssystemen zur Verfügung steht, wohingegen jene Programme, die für die GeldgeberInnen gewinnversprechend erscheinen, zu meist gut finanziert sind.

Derzeit erleben wir, wie Bill Gates sich zum großen Fürsprecher globaler Gesundheitspolitik aufschwingt. Doch vor falschen Freunden sei gewarnt. Nicht nur die WHO ist heute mehr denn je auf private Geldgeber wie der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung angewiesen. Die Bill Gates Stiftung ist mittlerweile der größte private Financier der WHO und hat deshalb großen Einfluss auf die Gesundheitsprogramme der WHO, die sich wiederum auf die jeweiligen nationalen Gesundheitsagenden auswirken. Genau diese Entwicklung wird jedoch von zahlreichen kritischen GesundheitsexpertInnen in der Wissenschaft aber auch in der Zivilgesellschaft, wie dem People‘s Health Movement als wesentliche Ursache der strukturellen Schwäche der WHO benannt.

Private Stiftungen sind weder einer demokratischen Kontrolle unterworfen, noch sind sie öffentlich rechenschaftspflichtig. Zugleich dominieren sie den derzeitigen Gesundheitsdiskurs. Bedenklich an dieser Entwicklung ist, dass die Gesundheitsagenda so dem kritischen Diskurs entzogen wird und verfehlte Prioritätensetzungen nicht mehr in Frage gestellt werden.

Gerade das Beispiel Gates-Stiftung zeigt das sehr gut, diese inszeniert sich im Corona-Kontext jetzt als Weltretter zugunsten biomedizinischer und pharmazeutischer Lösungen und hat damit großen Einfluss auf die derzeitige WHO-Strategie. Damit geraten jedoch die sozialen Determinanten für Gesundheit aus dem Blickfeld, welches einer nachhaltigen globalen Strukturpolitik, die auf der Stärkung nationaler Gesundheitssysteme beruht, entgegensteht.

Auswege aus der Krise
In jeder Krise liegt auch eine Chance zur Reflexion. Aus der Corona-Krise zu lernen, hieße einen emanzipatorischen und demokratischen, anstatt neoliberalen Global Governance-Ansatzes zu stärken, der auf einer Idee des globalen solidarischen Handelns, der Menschenrechte und funktionsfähigen globalen Institutionen beruht.

Angesprochen ist ein Ansatz, der zivilgesellschaftliche Kräfte mit Gemeinwohlorientierung auf der lokalen, nationalen und globalen Ebene einbindet und der Logik eines demokratischen Bottom-Ups entspricht.

In einem aktuellen Unterstützungsaufruf für die WHO, den 23 Staaten im Anschluss an eine Videokonferenz der EU-AußenministerInnen veröffentlichten, wird die Bedeutung von internationalen Organisationen im Kampf gegen die Pandemie hervorgehoben. Österreich beteiligte sich leider nicht an diesem Aufruf. Die Aufgabe kritischer Wissenschaften, aber auch der Zivilgesellschaft und progressiver Parteipolitiken wäre nun, sich zu Menschenrechtspolitiken und handlungsfähigen internationalen Organisationen zu bekennen und diese als wesentlicher Teil demokratischer Krisenlösung einzufordern.

 Zum Weiterlesen
• Beigbeder, Yves (2012): Die Weltgesundheitsorganisation im Wandel. Gesundheit für alle bleibt oberstes Zie. In: VEREINTE NATIONEN Heft 5/2012, S. 195-201

  • Global Health Watch (2014). An Alternative World Health Report, People‘s Health Movement, in: Medact, Third World Network, Health Poverty Action, Medico International, and ALAMES (Hrsg.), Zen Books
  • Global Health Watch (2017).  An Alternative World Health Report, People‘s Health Movement, Medact, Third World Network, Health Poverty Action, Medico International, and ALAMES (Hrsg.), Zen Books
    • Kaiser, Jürgen (2018): Warum der Internationale Währungsfonds seine Politik stärker auf die Bekämpfung von Armut und die Reduzierung sozialer Ungleichheit ausrichten muss. In: In: E+Z. Entwicklung und Zusammenarbeit, S. 32-35
    • Hamm, Brigitte (2008): Menschenrechte und Privatwirtschaft in der UN. Ein verbindliches Regelwerk ist nicht auf der Agenda, in: Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, Heft 5, 2008, S. 219-224
    • McCoy, D., Kembhavi, G., Patel, J., and Luintel, A., 2009: The Bill & Melinda Gates Foundation‘s grant-making programme for global health. In: Lancet Vol. 373.
    • Meisterhans, Nadja 2016: WHO in Crisis. Lessons learned from the Ebola outbreak and beyond, in: The Chinese Journal of Global Governance, Nr. 2, S.1-29
    • IBON International (2014): A Renewed Global Partnership for Sustainable Development, IBON Policy Brief
    • Plattform für Globale Gesundheit (PGG), (2014):Globale Gesundheitspolitik – für alle Menschen an jedem Ort. Grundlagen für eine künftige ressortübergreifende Strategie für globale Gesundheit
    • Sylla Samba, Ndongo (2018): Misslungene Strategie in Afrika: Strukturanpassung hat Wachstum nicht gefördert, sondern gebremst. In: E+Z. Entwicklung und Zusammenarbeit, S. 29-31

Wir dürfen die Corona-Schulden nicht zurückzahlen

Quelle: Handelsblatt

11.05.2020

GASTKOMMENTAR Von: Jens Südekum

Wir dürfen die Corona-Schulden nicht zurückzahlen

Statt den Gürtel bei den Steuerzahlen enger zuschnallen, braucht es Investitionen. Die Schulden sollten langfristig finanziert und überwälzt werden.

Um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie fürs Erste abzufedern, haben Regierungen rund um den Globus unvorstellbare Summen mobilisiert. Allein in Deutschland wurde ein Nachtragshaushalt über 156 Milliarden Euro geschnürt. Staatliche Kreditgarantien im Umfang von über einer Billion kommen hinzu.

Doch damit ist es nicht getan. Es werden weitere Konjunkturprogramme nötig sein, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Die deutsche Schuldenquote könnte von derzeit knapp 60 Prozent in Richtung 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wandern. Für die Industriestaaten insgesamt rechnet der Internationale Währungsfonds mit einem Anstieg auf 120 Prozent.

Angesichts solcher Zahlen macht eine bange Frage die Runde: Können wir uns das eigentlich leisten? Die ehrliche Antwort darauf lautet „ja“. Die Rettungspakete sind notwendig, denn eine Implosion der Wirtschaft, die es ansonsten gegeben hätte, wäre ökonomisch wie politisch deutlich schlimmer. Die resultierenden Staatsschulden müssen wir einfach hinnehmen.

Zu deren Finanzierung sind später weder Vermögensabgaben, noch andere Steuererhöhungen oder gar Kürzungen von Sozialausgaben notwendig. Austerität wäre, zumal wenn zu früh verabreicht, eine geradezu katastrophale Medizin.

Durch Corona wird die Weltwirtschaft auf Jahre hinweg noch tiefer in einem deflationären Labyrinth feststecken als es schon vor der Krise der Fall war. Hier den Gürtel enger zu schnallen, wie jetzt schon einige fordern, wäre genau die falsche Politik. Erforderlich ist das Gegenteil – Steuersenkungen und massive öffentliche Investitionen.

Dabei müssen wir einen pragmatischen Umgang mit den Corona-Schulden finden. Sie sollten möglichst langfristig finanziert und durch permanentes Überwälzen – also die Ausgabe neuer Anleihen zur Bedienung der alten – immer weiter in die Zukunft geschoben werden. So können Industriestaaten aus dem Schuldenproblem der Corona-Krise einfach herauswachsen. Absolut betrachtet bleiben die Schulden zwar immer da, aber relativ zum BIP sinkt die Quote wieder ab.

Die kritische Größe in diesem Überwälzungsspiel ist die Entwicklung der Zinsen. Doch hier haben wir Glück im Unglück. Die Corona-Pandemie trifft die Weltwirtschaft in einer ausgeprägten Niedrigzinsphase. Und die Krise wird diesen Trend voraussichtlich noch verschärfen.

Derzeit fließen Rekordsummen aus Entwicklungs- und Schwellenländern ab. Das Kapital wandert in die sicheren Häfen, gerne nach Deutschland. Es trifft dort auf eine geringe Kapitalnachfrage aus dem Unternehmenssektor. Denn Investitionen stehen, nicht zuletzt wegen Corona, weit unten auf der Tagesordnung. Die Folge: noch niedrigere Zinsen.

Wir leihen uns das Geld quasi selber

Einem weiteren Akteur kommt eine entscheidende Rolle zu: Den Zentralbanken. Wenn sie als Käufer von Staatsanleihen zur Verfügung stehen, sind niedrige Zinsen garantiert. Und was immer die öffentlichen Haushalte dorthin abführen, fließt als Zentralbankgewinn wieder zurück. Wir leihen uns das Geld quasi selber. Solide Staaten mit einer soliden Währung können das.

Andere Länder – die USA, Kanada, Großbritannien, Japan – haben das längst begriffen. Sie finanzieren die Corona-Schulden über Geldschöpfung, offiziell und unbegrenzt, ähnlich wie nach der Finanzkrise 2008. Das hat zu apodiktischen Warnungen vor Inflation geführt. Allein, gekommen ist dieses Horrorszenario nie. Denn die strukturellen Gründe für niedrige Zinsen – hohe Sparneigung bei niedriger Investitionsdynamik – verschwinden ja nicht einfach. Auch nicht durch Corona.

Prognosen sehen die „natürlichen“ Realzinsen noch für viele Jahrzehnte im negativen Territorium. Natürlich bleibt das eine Wette auf die Zukunft. Aber eine, auf die es sich angesichts der viel schlechteren Alternativen lohnt einzugehen.

Europa tut sich schwer, diese Realitäten zu akzeptieren. Es hat sich strenge Regeln gegeben, die einen rationalen Umgang mit den Corona-Schulden erheblich erschweren. Die EZB kann deren Finanzierung nicht einfach sicherstellen wie es andere Zentralbanken tun. Stattdessen befindet sie sich in einem permanenten juristischen Tauziehen mit dem Bundesverfassungsgericht, das nur durch eine Änderung des EZB-Mandats beendet werden könnte. Es wäre Zeit.

Auch in der Fiskalpolitik halten sich, zumal in Deutschland, hartnäckige Mythen wonach Staatsschulden kommende Generationen belasten (obwohl die Staatsanleihen als Vermögenstitel doch auch vererbt werden). Solche Missverständnisse waren schon vor der Krise ärgerlich. Jetzt, wo es ans Eingemachte geht, dürfen sie nicht mehr die Politik leiten. Corona droht die junge Generation tatsächlich schwer zu treffen. Aber Staatsschulden sind nicht der Grund. Eher die geschlossenen Schulen und Kitas.

Jens Südekum

Der Autor ist Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

MehrDieses Jahr wird die EU-Wirtschaft um 7,5 Prozent schrumpfen. Aber schon 2021 wird sie wieder deutlich wachsen, sagt die EU-Kommission voraus.

China und USA: Corona treibt die Welt auseinander – mit unabsehbaren Folgen


Quelle: Süddeutsche Zeitung

Kommentar von Stefan Kornelius – Mai 2020, 18:47 Uhr

China und USA: Corona treibt die Welt auseinander – mit unabsehbaren Folgen

Das Virus lässt die Rivalität zwischen den USA und China eskalieren. Europa kann sich dem Irrsinn entziehen, indem es mit aller Kraft seine Werte verteidigt.

Ein Labor in Wuhan, ein Gesetz aus Missouri, eine Dankbarkeitsadresse aus Rom, ein zensierter Satz aus Brüssel – die Regeln der neuen Weltordnung werden gerade an allen möglichen Plätzen geschrieben, aber sie folgen einem einzigen Antrieb: Das Coronavirus hat Kräfte mobilisiert, die die Welt erschüttern.

Die geopolitische Rivalität zwischen China und den USA ist in voller Wucht entbrannt, der schrille Kampf um Glaubwürdigkeit, Gefolgschaft und Schuld erfasst die internationale Politik. Corona hat die Welt nicht vereint, es treibt sie auseinander mit bisher unabsehbaren Folgen. Sicher scheint zu sein: weder die USA noch China werden stärker aus dieser Menschheitskrise hervorgehen; Europa wird zum Spielball der Projektionen und Neurosen der beiden Großmächte werden; die Welt wird insgesamt anarchischer, unberechenbarer, noch weniger konzentriert auf die Überlebensfragen wie Umwelt oder Bevölkerungswachstum.

Für die chinesisch-amerikanische Rivalität gibt es kaum noch eine Grenze. Auch eine militärische Kraftprobe, im Südchinesischen Meer oder wegen Taiwan, ist nicht auszuschließen. Verbal wird bereits kräftig gefeuert. Die politische Einschätzung in den USA ist, entgegen dem sonstigen Trend, geeint: China, das bisher mit unlauteren Mitteln Marktvorteile erwarb und Abhängigkeiten in aller Welt schuf, will das Virus in einen politischen Vorteil verkehren.

Vordergründig konzentrieren sich die Schuldzuweisungen auf einen Mangel an Transparenz und Aufklärung. Tatsächlich geht es um ökonomische, technologische und systemische Überlegenheit. Das „Chinesen- oder Wuhan-Virus“ wird zur Metapher, das Labor in Wuhan zum Symbol der Konspiration. Die Vorwürfe sind hysterisch, die Unterstellungen widersprüchlich. Und dennoch zeigt Washington eine seltene politische Geschlossenheit.

Josh Hawley, ein Senator aus Missouri, hat ein Gesetz eingebracht, das es Amerikanern erlauben würde, chinesisches Eigentum für Schadenersatz heranzuziehen. Das mag hohle Rhetorik sein, aber der politische Wille wächst, China für die Pandemie „zu bestrafen“.

Peking hingegen hat ein Spiel der Verschleierung und Irreführung begonnen, begleitet von offenen Drohungen. Aufklärung und Kommunikation sind im besten Fall widersprüchlich, in der Regel aber nur noch propagandistisch.

Eine internationale Untersuchung des Ursprungs dieses Weltdesasters wird versprochen, aber nicht eingelöst. In aggressivem Ton werden Warnungen an die Welt geschickt, von Australien bis natürlich in die USA. Diplomaten nennen sich nun Wolfskrieger in Anlehnung an eine triviale Baller-Trilogie. Der US-Außenminister wird als böse, geisteskrank und „gemeinsamer Feind der Menschheit“ bezeichnet.

Weder China noch die USA werden einen Vorteil aus ihrem Verhalten schlagen. Die Stimmung in weiten Teilen der Welt hat sich gegen sie gewendet. Chinas Aggression und die Suche nach dem nackten Vorteil im Schatten der Krise haben das globale Misstrauen gesteigert. Protektionistische Handelsmaßnahmen, die Repatriierung strategischer Industrien und die Nationalisierung und Regionalisierung von Lieferketten werden die nächste Phase der Wirtschaftspolitik bestimmen.

Die USA haben in ihrem jämmerlichen Umgang mit der Krise ebenfalls Gefolgschaft und das letzte Quäntchen Vorbild verspielt. Die vermeintlich mächtigste Nation der Erde kann nicht einmal ihre eigenen Bürger schützen und wird von einem Präsidenten regiert, der dem Virus mit Voodoo-Zauber auf den Leib rückt. Die Behauptungen rund um das Wuhan-Labor zeigen: Auch die USA haben sich von der Wahrheit als mächtigstem Werkzeug im internationalen Disput verabschiedet.

Beide Nationen, China wie die USA, betreiben ihre Aggression aus innerer Schwäche. Im Fall des US-Präsidenten ist es simpel: Trump baut einen Schuldigen auf, mit dem er im Wahlkampf seine eigene Unfähigkeit kaschieren kann. Wer kann einen größeren Sündenbock abgeben? „China tötet unsere Leute“, heißt es schon.

Auch die Führung in Peking hat erkannt, dass die eigentliche Bedrohung nicht im Ausland, sondern im Inneren lauert. Die Dominanz der Partei ist nicht gefährdet, und Parteichef Xi Jinping bleibt unantastbar. Aber der ökonomische Absturz ist enorm, die Verschuldung erdrückend, die Abwendung der Welt schmerzt, die Dramaturgie hin zum 100. Gründungsjubiläum der Partei kollabiert. In Apparat und Volk brodelt es, Xi-kritische Pamphlete gelangen an die Öffentlichkeit. Das Rezept dagegen: Repression und Propaganda.

Die Welt kann sich diesem Titanenkampf nicht entziehen, aber sie muss sich ihm auch nicht ergeben. Das gilt vor allem für Europa und Deutschland, wo politische Schwindelanfälle in bedenklichem Maß zugenommen haben. In Italien sieht eine Mehrheit China als wichtigsten Verbündeten, Serbien hat sich klar unterworfen, Brüsseler Beamte lassen Texte in Peking redigieren. Nicht weniger hilflos muten freilich Treueschwüre gen Washington an, als ob man Glaubwürdigkeit gewänne, wenn man Trumps Wuhan-Paket übernimmt.

Noch hat Europa die Chance, ein schwacher, aber dafür glaubwürdiger Mahner in der Mitte zu sein. Deutschland und Frankreich, die den Ton angeben, müssen dazu schnell handeln und klarstellen, dass Trump in seiner Radikalität alleine steht und China für seine Kooperationsverweigerung und seine Repressionspolitik einen hohen Preis zahlen wird. Eine wirtschaftliche Entflechtung ist unrealistisch, aber eine Justierung mit dem Ziel einer geringeren Verwundbarkeit und ein Rückgang der Handelsvolumina sind unvermeidlich. Das wird kosten.

Weil es im Kern dieser Rivalität aber um Werte und Demokratie, um Meinungsfreiheit und Menschenwürde geht, muss Europa hier den Maßstab setzen. Dafür kann kein Preis zu hoch sein.

Was Wissen schafft

Quelle: Republik. „Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Finanziert von seinen Leserinnen und Lesern. Gemeinsam sind wir eine Rebellion gegen die Medienkonzerne, für die Medienvielfalt. Unabhängig, werbefrei – und mit nur einem Ziel: begeisternden Journalismus zu liefern.“

Eine Analyse von Nils Markwardt, 07.05.2020

Zum Autor

Nils Markwardt, 1986 in Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) geboren, studierte Literatur- und Sozial­wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redaktor des «Philosophie Magazins». Für die Republik schrieb er zuletzt über rechten Terror und über die Landtagswahlen in Ostdeutschland.

Was Wissen schafft

Als Antwort auf Corona-Verschwörungs­theorien und die «Nur ein Schnupfen»-Fraktion wird der blosse Verweis auf Daten, Fakten und Forschung nicht reichen. Im Gegenteil: Das kann auch zu einem Bumerang werden. Was tun?

Im Ausnahme­zustand hat sich politisch plötzlich vieles verschoben. Mandats­träger, die zuvor auf die Selbst­regulierung des Marktes setzten, entdecken nun die Lust am staats­dirigistischen Durchregieren; Geld, das vermeintlich nicht da war, wird von Staaten jetzt im großen Stil ausgeschüttet; die globalisierte Mobilität, die sich stets nur zu beschleunigen schien, ist in vielen Bereichen stillgelegt.

Anderes hingegen verläuft im Corona-Diskurs durchaus so, wie es zu erwarten war. Allem voran die Tatsache, dass sich in der Debatte um die wissenschaftliche und politische Einordnung des Virus schnell eine Front der «Zweifler» bildete.

Auf Regierungsebene wäre da etwa US-Präsident Donald Trump, der die Gefahr von Covid-19 lange verharmloste. Oder sein brasilianischer Amtskollege Jair Bolsonaro, der das bis heute tut.

Ebenso auf publizistischer Ebene. So warnte Roger Köppel angesichts der bis dato relativ niedrigen Anzahl an Corona-Toten in der Schweiz jüngst vor einer «medial-epidemiologisch befeuerten Politpanik» und wähnte das Land schon auf dem Weg in die Diktatur.

Mit ähnlichen Argumenten hatte in Deutschland zuvor bereits der ehemalige SPD-Bundestags­abgeordnete Wolfgang Wodarg für Aufsehen gesorgt. Dessen These: Covid-19 sei harmloser als eine normale Grippe, und Virologen würden die ganze Sache nur aufblasen, um Aufmerksamkeit und Forschungs­mittel abzuräumen. Damit war er insbesondere im Netz auf grosse Resonanz gestossen.

In vielen Ländern formiert sich schließlich auch ein zunehmender, oft von Rechts­populisten befeuerter Straßen­protest, der sich gegen die corona­bedingten Kontakt­beschränkungen wendet. Etwa in den USA, wo bewaffnete Trump-Anhänger buchstäblich gegen den Shutdown mobilmachen – und vor wenigen Tagen beispiels­weise das Parlamentsgebäude in Michigan stürmten.

Und in Deutschland, wo etwa der «Demokratische Widerstand», ein obskures Bündnis aus Verschwörungs­theoretikern, Anti­kapitalistinnen und Rechts­extremen, auf einer Demonstration vor «Impf­terrorismus» und einem «dystopischen Digital- und Pharma­konzern­kartell» warnte.

Charakteristisch für diese (Quer-)Front der «Zweifler» ist, dass es ihnen nicht um eine rationale Debatte über die Ausbalancierung von Infektions­schutz, freiheitlichen Grund­rechten sowie ökonomischen Folge­schäden geht; sondern dass sie die jeweils verhängten Corona-Massnahmen per se als «Panik­mache» verbuchen oder gar als Teil einer gross angelegten Verschwörung begreifen.

Warum kommt das alles nicht überraschend?

Weil sich hier Muster wiederholen, die man aus der Debatte über den Klima­wandel oder den Erfahrungen mit Rechts­populisten kennt, historisch aber ebenso aus den Diskussionen über den Zusammen­hang von Tabak­konsum und Krebs­erkrankungen.

Sprich: Bestimmte Gruppen lehnen wissenschaftliche Fakten ab, unterstellen Forscherinnen eigen­nützige Motive und verwerfen die sogenannte «Mainstream»-Bericht­erstattung als «gleichgeschaltet» und manipulativ.

Plumper Positivismus ist keine gute Antwort

Was hält man solch raunenden bis verschwörungs­theoretischen Argumentationen entgegen? Für alle Vertreter eines aufgeklärten Rationalismus heißt die Antwort wieder einmal: Sie müssen die Kraft der Fakten, die Legitimität wissenschaftlicher Verfahren sowie der sich daraus ergebenden Autorität der Wissenschafts­gemeinde verteidigen.

Dementsprechend vernimmt man dieser Tage ja auch immer wieder das zweifellos notwendige Plädoyer: Hört auf die Wissenschaft! Oder konkreter: Schaut auf Zahlen, Statistiken und Modell­rechnungen, hört auf wissenschaftliche Institutionen und Experten, vertraut den Verfahren der Wissenschaftsgemeinde. Und mit ebendiesem Plädoyer könnte der Text dann auch enden. Könnte.

Leider jedoch liegt die Sache etwas komplizierter.

Denn die Forderung, schlichtweg auf die Wissenschaft zu hören, mag angesichts von publizistischen Profil­neurotikerinnen, Verschwörungs­theoretikern und postfaktischen Populistinnen zunächst so richtig wie nötig sein.

Dennoch birgt sie selbst Probleme. Genauer gesagt: gleich mehrere. Sie müssen selbstbewusst benannt werden, und damit muss die bloß reflexhafte Anrufung wissenschaftlicher Autorität auf den Prüfstand gestellt werden.

Nicht um eine Hintertür für unterdessen eindeutig widerlegte Thesen zu öffnen, allen voran jene, dass Covid-19 harmloser als die saisonale Grippe sei. Und erst recht nicht, um Verschwörungs­theorien auch nur ansatz­weise hoffähig zu machen.

Vielmehr braucht es diesen differenzierten Umgang, um beim zweifellos notwendigen Rekurs auf wissenschaftliche Erkenntnisse nicht in einen plumpen Positivismus zurückzufallen, der für die Demokratie langfristig ebenfalls gefährlich werden kann. Oder zugespitzter gesagt: um Wissenschaft nicht selbst zu einer Glaubens­frage zu degradieren. Ein differenzierter Umgang mit wissenschaftlicher Autorität könnte außerdem dabei helfen, dass Desinformations­kampagnen weniger Resonanz­räume finden.

Drei Gründe also, warum wir es uns mit dem Verweis auf die Wissenschaft nicht zu einfach machen sollten. …

Hier kann der Artikel fertig gelesen werden!