Coronavirus: Das Versagen der alternativen Medien

Quelle: Telepolis  – 02. April 2020  

Coronavirus: Das Versagen der alternativen Medien

Für viele ist es unvorstellbar, dass die Regierung ausnahmsweise etwas richtig macht. Ein Kommentar

In vergangenen Artikeln habe ich die politisch Verantwortlichen teilweise heftig kritisiert. Es gab eklatante Versäumnisse, und wahrscheinlich ist es das Verdienst der Fachleute in der zweiten Reihe, die Politiker zum Handeln gebracht zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung im Großen und Ganzen richtig sind.

Für die letzten Zweifler noch einmal eine einfache Betrachtung. Italien, Spanien und Frankreich kämpfen bereits mit einer Welle von Notfällen, bei der Menschenleben geopfert werden müssen – obwohl erst ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung infiziert war. Denn aus 50.000 positiv Getesteten, selbst wenn man eine zehnfach höhere Dunkelziffer annimmt, wird nicht mehr als ein Prozent der Einwohner (60 Mio). Lässt man 90, 50 oder auch nur 25 Prozent der Bevölkerung sich infizieren, müsste man sich die katastrophale Situation also um den Faktor 25 verstärkt vorstellen (das zeitverzögerte Einsetzen der Krankheit macht die Situation noch schlimmer). Das kann leider sehr schnell gehen, denn bei einer täglichen Zunahme der Infizierten um 30%, wie sie in allen betroffenen Ländern ohne Gegenmaßnahmen zu beobachten war, dauert dies keine zwei Wochen (1,3 hoch 14 =Faktor 39). Im Übrigen sind die Details dieser Rechnung völlig egal, da sie im Ergebnis das Zeitfenster zum Handeln nur um wenige Tage verlängern.

Verrücktheit – hoffentlich – gestoppt

Ich bin froh, dass es in Deutschland wahrscheinlich gelingt, einen derartigen Zusammenbruch zu verhindern, und dass die Wahnsinnsidee einer „Herdenimmunität“ zugunsten einer vernünftigen Strategie aufgegeben wurde (Abkehr vom deutschen Sonderweg). Vielleicht könnte dies auch einmal Anlass zum Durchschnaufen sein, bevor man die nächsten Forderungen erhebt.

Stattdessen mehren sich die Stimmen, die sich über die angebliche Hysterie beklagen: Corona sei nicht so schlimm, aber die Maßnahmen dagegen schon. Viele Publizisten können offenbar eine einfache Rechnung wie die obige nicht in eigener Denksouveränität nachvollziehen. Stattdessen beruft man sich auf Autoritäten wie ehemalige Lungenärzte, Klinikdirektoren oder emeritierte Professoren der Mikrobiologie und Virologie.

Frage: Wie viele Menschen mit vergleichbaren Titeln und Berufswegen gibt es wohl in Deutschland? Tausend? Zehntausend? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, darunter 2-3 zu finden, die sich gerne interviewen lassen, ohne die rechnerischen Grundlagen der Epidemiologie zu verstehen? Ziemlich groß. Aber diese Überlegung beruht ja auch auf Mathematik, der ungeliebten Wissenschaft der Zahlen.

Der Coronaflüsterer

So lauschen Hunderttausende auf YouTube den eindringlichen Worten von Sucharit Bhakdi samt seinen „fünf Fragen“ an die Bundeskanzlerin, und ich bin froh, wenn sie besseres zu tun hat, als darauf zu antworten. Manche seiner Argumente wären sogar plausibel, ginge es darum, eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen. Aber der Professor lebt im Elfenbeinturm. Man kann nicht im Verlauf einer Pandemie, bei der wenige Tage über viele Menschenleben entscheiden, Wochen dauernde statistische Erhebungen einfordern.

Der Mann versteht nicht, worauf es ankommt. Natürlich sind die italienischen Todeszahlen zu hoch gegriffen. Aber sollen die Ärzte in Bergamo deswegen nebenbei schnell 500 Leichen in Schutzausrüstung obduzieren, um die Todesursachenstatistik zu verfeinern? Mag sein, dass 50 Prozent der Infizierten asymptomatisch sind. Aber was macht das für einen Unterschied? Die Luftverschmutzung in der Lombardei spiele eine Rolle. Mag sein. Und in Wuhan, Madrid, New York, Straßburg, Rosenheim? Und was ist, wenn es nicht so ist?

Bhakdi verlangt, dass Maßnahmen erst ergriffen werden, wenn die Gefährlichkeit des Virus gesichert sei. Was für ein Unsinn. Man muss vorsorgen, solange die Ungefährlichkeit nicht gesichert ist. In die gleiche Kerbe haut Stanford-Koryphäe John Ioannidis, der im Focus Maßnahmen „ohne zuverlässige Datenbasis“ beklagt.

Nassim Taleb, einer der wenigen Denker, die Ereignisse wie die Corona-Krise vorhergesehen haben, spottet nicht zu Unrecht, Ioannidis empfehle „den Abschluss einer Versicherung, sobald man das Ausmaß des Schadens kennt“. Überhaupt wünscht man sich, dass mehr Leute mit einer rationalen Risikostrategie aus dem schwarzen Schwan vertraut wären: Man richtet sich eben auf den worst case ein, anstatt zu phantasieren, „vielleicht geht das Virus im Sommer weg“.

High Noon für Irrationalität

Man fragt sich eigentlich, warum die Feuerwehr noch ausrückt in Deutschland, so ganz ohne Datenbasis. Weiß man denn genau, ob das Gebäude überhaupt brennbar ist? Ob da Menschen drin sind, vielleicht sogar unter 80 Jahren? Ob der Rauch wirklich so giftig ist? Halten nicht die Menschen schon seit Jahrhunderten ein Lagerfeuer ganz gut aus? Dies ist leider die Art von Überlegungen, die im Moment auf den alternativen Nachrichtenportalen kursieren.

Paul Schreyer, Autor von ausgezeichneten Büchern, behauptet aus dem Handgelenk, die höheren Infiziertenzahlen würden durch mehr Tests generiert. Falsch, denn sonst würden in Italien nicht ca. 10% anschlagen und in Südkorea und Russland nur ca. 0,1%. Vor allem ist das Argument aber völlig irrelevant im Hinblick auf die anstehenden Entscheidungen.

Am tiefsten in der faktenfreien Blase verhaftet ist das Magazin Rubikon, in dem man zum Thema Corona wirklich alles findet – vom Geschwafel über einen neuen Faschismus durch Corona bis hin zu menschenverachtenden Phantasien, die Alten könne man ja sterben lassen. Die Nachdenkseiten sind im Vergleich dazu eine Oase.

KenFM, ebenfalls von mir geschätzt, schreibt, Corona könne es nicht mit der Spanischen Grippe von 1918 aufnehmen. Schön, aber soll es das? Die illegalen Kriege des Westens im Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen, Jemen usw., gegen die sich Jebsen in den letzten Jahren verdienstvoll positioniert hatte, konnten es auch nicht mit den Toten des Ersten Weltkriegs aufnehmen, aber was ist das für ein Argument?

Die alternative Blase

Ich erkläre mir das Phänomen so, dass sich diese Medien in einer ähnlichen Echokammer befinden, wie die von ihnen zu recht kritisierten Mainstreammedien, die uns in den letzten Jahren mit dem transatlantischen Narrativ zu weltpolitischen Ereignissen beglückt haben. Um das einzuordnen: Ich hüte mich, den Begriff „Verschwörungstheorie“ unüberlegt zu gebrauchen, glaube weder an einen Einzeltäter in Dallas, noch an die offizielle Version von 9/11, noch an die vielen Märchen, die uns über die Ukraine, MH17, Syrien, die Skripals und einige andere „Terroranschläge“ von den westlichen Regierungen und ihren folgsamen Medien aufgetischt wurden.

In diesen Fällen gab es jedoch regelmäßig geostrategische Interessen und plausible Motive im Hintergrund. Aber die Vorstellung, dass der US-Deep State plötzlich zusammen mit Trump, Putin, Xi Jinping, Modi und den Europäern eine „Corona-Hysterie“ inszeniert, um einen gemeinsamen geheimen Plan umzusetzen, ist doch ein bisschen paranoid.

Gibt es vielleicht noch andere Böse? Ach ja, Bill Gates. Seit Ebola 2014 warnt er davor, dass die Welt – was ziemlich idiotisch ist – einer Pandemie unvorbereitet gegenübersteht. Wahrscheinlich redet er jede Woche davon, zuletzt im Oktober 2019, deswegen muss er ja an dieser Pandemie schuld sein, klar. Die Verantwortlichkeit für den nächsten Asteroiden auf Kollisionskurs und die nächste Sonneneruption wäre damit auch geklärt. Nebenbei: Die Frage nach dem Ursprung des Virus, der es sich lohnen würde, bei Gelegenheit nachzugehen, wird kaum gestellt.

Noch etwas treibt mich um: Warum haben die internationalen Alternativmedien wie The InterceptMoon of alamaba.orgConsortiumnews noch nichts von der Erkenntnis ihrer deutschen Investigativkollegen mitbekommen, Corona sei nur ein Hype?

Ich bin erst mal froh, dass die zynische Idee, die Bevölkerung von einer Krankheit mit noch unerforschten Folgen befallen zu lassen, anscheinend ad acta gelegt wurde – was angesichts des Geisteszustands eines Trump, Johnson oder Bolsonaro keineswegs selbstverständlich war. Wäre es nicht einen Hauch von Anerkennung wert, dass die Auswüchse des Neoliberalismus, die auf der ganzen Welt Leid und Tod verursachen, hier nicht zur perversen Spitze getrieben wurden, indem man weitere Millionen Menschen opfert, um den Planeten weiter unbehelligt zu strapazieren?

Lieber nachdenken für später als sofort schreien

Nicht alles, was angeordnet wurde, ist perfekt. Thomas Moser bemerkt zum Beispiel, warum „Hygienedemos“ mit Schutzmasken und Mindestabstand nicht erlaubt sein sollten, und er hat Recht. Ich würde es wahrscheinlich begrüßen, wenn ein Oberverwaltungsgericht in 3-4 Wochen zu strenge Regeln (sollte es sie dann noch geben) kippt, deren Einhaltung nicht plausibel der Infektionsvermeidung dient. Aber würde ich heute demonstrieren?

Ich finde, man könnte den Verantwortlichen, die ja nicht wenig zu tun haben, auch etwas Zeit lassen, sinnvoll nachzujustieren. Sicher muss die Mobilitätseinschränkung früher oder später einem intelligenterem smart distancing weichen. Aber die absolute Priorität liegt im Moment ohnehin, alle zum Tragen von Schutzmasken zu bewegen. Genauso wichtig ist die Isolierung der Kranken.

Handydaten werden mit Sicherheit ein heiß diskutiertes Thema. Aber ganz ehrlich: Glaubt irgendjemand 7 Jahre nach Snowden und nach Glenn Greenwalds No Place to Hide, dass er nicht getrackt und totalüberwacht ist, wenn es darauf ankommt? Maßnahmen mit klarem Ablaufdatum kann man auch hier im Interesse der Sache in Kauf nehmen. Natürlich gibt es Figuren, die die Situation ausnutzen wollen, wie Orban mit seinem Ermächtigungsgesetz oder die unsäglich dummen Forderungen nach mehr Internetzensur von Seiten der EU. Der Kampf dagegen muss aber ohnehin geführt werden und hängt wenig davon ab, wie weit ich im Park joggen kann. Schließlich, dass mich nicht jemand missversteht: Ich setze mich vorbehaltlos ein für die Meinungsfreiheit der Publikationen, die ich oben kritisiert habe.

Es ist nur schade, wenn sie sich in der jetzigen Ausnahmesituation durch ihr Weltbild, alles Böse komme von oben, weiter disqualifizieren. Denn wenn man eines Tages die Lehren aus Corona zieht – etwa die elementare Daseinsvorsorge dem System der kurzfristigen Profite zu entziehen, werden Stimmen gebraucht werden, die der neoliberalen Ideologie Paroli bieten. Dann könnte diesen Medien der Unsinn, den sie heute erzählen, auf die Füße fallen.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch „Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur – Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten“ erschien 2019 im Westend-Verlag.

Die gefährliche Macht der Corona-Mythen

Die gefährliche Macht der Corona-Mythen

Stand: 11.04.2020

Die Mythen rund um Corona, die derzeit im Netz geteilt werden, haben längst ihre Wirkung entfaltet. Wie viele Millionen Menschen sie sehen, zeigt eine Analyse von NDR, WDR und SZ.

Von Christian Basl, WDR, Svea Eckert und Peter Hornung, NDR

Das Coronavirus sei in einem Labor gezüchtet worden, die Krise von Politikern seit langem geplant, oder die Maßnahmen der Bundesregierung schlicht überzogene Panikmache: Solche und ähnliche Mythen, Falschinformationen und Halbwahrheiten werden derzeit in Videos und Texten massenhaft in sozialen Netzwerken verbreitet. Laut einer Datenrecherche von NDR, WDR und “Süddeutscher Zeitung” (SZ) gemeinsam mit dem Datenanalysten Philip Kreißel wurden 19 solcher fragwürdigen YouTube-Videos in den letzten sechs Wochen rund zwölf Millionen Mal angesehen.

Diese und weitere Texte und Videos wurden auf Facebook 300.000 Mal geteilt. Das bedeutet: Vermutlich Millionen Menschen haben auf der Plattform Halbwahrheiten und Falschinformationen zu Corona gesehen. Journalistische Faktenchecks, die Inhalte genau dieser Videos und Texte überprüft haben, wurden dagegen zwanzig Mal weniger geteilt und erreichten demnach viel weniger Menschen.

Das Beispiel Bhakdi

Die Auswertung zeigt, wie massiv sich Falschinformationen über Covid-19 innerhalb kürzester Zeit in den sozialen Netzwerken verbreitet haben. Ein besonders prominentes Beispiel ist ein Video des emeritierten Mikrobiologen Sucharit Bhakdi. Bhakdi hat seit etwa Mitte März auf YouTube einen eigenen Kanal. Am 29. März wendet er sich in einem Video an die Bundeskanzlerin. In dem Video sitzt er an einem Tisch, liest von einem Blatt vor und zieht ab und an seine randlose Brille vom Gesicht, wenn er seine Schlussfolgerungen zieht.

Er wirft Merkel vor, überzogene politische Maßnahmen auf Grundlage lückenhafter Daten ergriffen zu haben. Die Politik sei Panikmache. Das Video wird in den folgenden beiden Wochen rund 2,2 Millionen Mal angesehen. Auf Facebook wird es über 67.000 Mal geteilt, 72.000 Mal kommentiert und mehr als 100.000 Mal mit einem Like oder einer anderen Reaktion bewertet. Auch in Texten und anderen Videos wird Bhakdis Video positiv aufgegriffen und verbreitet sich so noch stärker.

Drei Tage nach Erscheinen des Videos überprüft das Factchecking-Format #Faktenfuchs vom Bayerischen Rundfunk (BR) die Aussagen von Bhakdi: „Die Annahmen, die seinen Fragen zugrunde liegen, suggerieren, dass die Gefährlichkeit des Sars-CoV-2-Erregers überschätzt werde, sie sind aber oft nicht wissenschaftlich belegt und verweisen vor allem auf Datenlücken. „Forscher betonen: Die Lückenhaftigkeit der Datenlage sei kein Grund, Entwarnung zu geben“, schreiben die BR-Reporter.

Diffuse Gemengelage

Diese diffuse Gemengelage an wahren Informationen, steilen Thesen und erfundenen Tatsachen gilt für viele der untersuchten Videos und Texte rund um Corona. Forschende der Universitäten Münster und München untersuchten ebenso massenhaft von „alternativen Medien“ verbreitete Beiträge zu Corona in sozialen Netzwerken und fanden heraus: „Es hat sich gezeigt, dass sich die ‚Alternativmedien‘ während der Corona-Krise gerne die Faktenlage zurechtbiegen und Gerüchte sowie einzelne Verschwörungstheorien verbreiten“, so Professor Thorsten Quandt über das Ergebnis der Studie. Das macht es für Nutzer so schwer, die falschen von den wahren Informationen zu trennen.

Was tun die Plattformen dagegen? Facebook schränkt Reichweiten von Beiträgen mit irreführenden Informationen ein und kennzeichnet sie. Lediglich Beiträge, die zu physischen Schaden führen könnten – etwa der „Tipp“, Bleichmittel als Schutz vor Corona zu trinken – würden laut einem Sprecher von Facebook gelöscht. YouTube entfernt Videos, die etwa behaupten, das Coronavirus existiere nicht oder die dessen Übertragung bestreiten, sagt ein Sprecher von YouTube.

Zudem zeigt die Videoplattform Infotafeln zu Covid-19 aus seriösen Quellen an, diese seien nach eigenen Angaben bereits zehn Milliarden Mal gesehen worden. Hilft das etwas? Die Gesamtzahl der verbreiteten Corona-Mythen im Netz dürfte noch viel höher liegen: Kanäle, die generell viele Verschwörungstheorien verbreiten, veröffentlichten ebenfalls viele Videos zu Corona. 45 Millionen Menschen haben sie laut Datenanalyse von Kreißel gesehen.

Zum Vergleich: Das erfolgreichste deutsche Youtube-Video 2019 („Die Zerstörung der CDU“ von Rezo) hatte im gesamten letzten Jahr 16 Millionen Views.

Corona-Krise: Keine Rückkehr zur „Normalität“ des Kapitalismus! Beitrag des Wissenschaftlichen Beirats von Attac

Corona-Krise: Keine Rückkehr zur „Normalität“ des Kapitalismus!

Ein Beitrag aus dem Wissenschaftlichen Beirat von Attac

Die Corona-Epidemie ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, sondern die größte Erschütterung des Kapitalismus seit der Weltwirtschaftskrise 1929 und deren Folgen.

Während im globalen Süden die Menschen schon lange mit Chaos, Kontrollverlust und Ausnahmezustand konfrontiert sind, trifft es nun auch die reichenLänder. Begleitete der Westen den Ausbruch der Seuche in China noch mit dünkelhafter Süffisanzund Ignoranz, so konfrontiert sie ihn jetzt selbst mit ungekannter Verwundbarkeit, ja Ohnmacht.

Bereits vor Corona hatte ein ganzes Krisenbündel die Welt im Griff: Klima- und Umweltkatastrophe, Militarisierung und wachsende Kriegsgefahr, Aufstieg rechter Kräfte, die Spaltung in arm und reich und all den anderenVerwüstungen der neoliberalen Globalisierung. Besonders deutlich sichtbar waren die Folgen von Austerität und Privatisierung der Daseinsfürsorge im Gesundheitswesen.

Wie bankrott der neoliberale Kapitalismus ist, zeigt sich daran, dass im Krisenmanagement reihenweise dieDogmen fallen. Die Schwarze Null ist tot. Geld spielt keine Rolle. Jetzt wird für Rettungspakete eine Billion nach der anderen locker gemacht.Die Zentralbanken haben die Schleusen unbegrenzt geöffnet.Was gestern noch Teufelszeug war wie Verstaatlichungen oder die Rückverlagerung von Wirtschaftszweigen in nationale Souveränität wird zur Notwendigkeit und findet selbstverständliche Akzeptanz.

Das eröffnet Chancen, nicht nur in Kategorien kurzfristigen Krisenmanagements zu denken, sondern die großen gesellschaftlichen Probleme, die Zukunftsfragenund die großen Alternativen zu thematisieren.

Das ganze Ausmaß des Desasters ist noch nicht absehbar. Aber Schlimmes steht wahrscheinlich noch bevor. In Indien, Brasilien und in afrikanischen Ländern könnte die Seuche apokalyptische Ausmaße annehmen.Sie kommt nun auf die bereits bestehenden Krisenzusammenhänge oben drauf und verschärft sie noch einmal um Größenordnungen.

Die Märkte reagieren irrational: für die Reproduktion notwendige Betriebe werden zerstört, an den Börsen können gleichzeitig die Aktienwerte steigen. Die Pandemie absorbiert die Problemlösungsfähigkeit der Politik auf allen Ebenen, von der Kommune bis zur UNO, und bindet Ressourcen und kostbare Zeit, die an anderer Stelle fehlen.

Die gesellschaftliche Linke, darunter Attac, steht vor der Aufgabe, sowohl für das Krisenmanagement kurzfristige Eingriffsmöglichkeiten zu finden, als auch zukunftsfähige Perspektiven für die Zeit nach der Seuche zu entwickeln.

Für die Herrschenden gilt schon jetzt die Devise: die Dinge müssen sich ändern, damit es beim Alten bleibt. Stattdessen muss emanzipatorische Politik dafür kämpfen, dass es keine Rückkehr mehr zur neoliberalen „Normalität“ des status quo ante gibt.

Der ganze Text kann hier gelesen werden:  Attac Wissenschaftlicher Beirat zur Corona_Krise April 2020


Attac-Kampagne: Gesundheit ist keine Ware!

Sehr geehrte Unterstützerin, sehr geehrter Unterstützer von attac,

die Corona-Pandemie betrifft uns nicht nur alle auf die eine oder andere Weise. Sie macht auch die Konstruktionsfehler unserer kapitalistischen globalisierten Wirtschaft noch sichtbarer als sonst: Die Märkte, die angeblich alles zum Guten regeln, ver­sa­gen. Die an Wachstum und Gewinn gebundene, exportorientierte Wirtschafts- und Handelspolitik droht zusammenzubrechen. Und der profitorientierte Umbau des Ge­sund­heits­sys­tems fällt uns (nicht erst) jetzt auf die Füße. „Gesundheit ist keine Ware!“ war das Motto einer der ersten Kampagnen von Attac im Juni 2002; wie aktuell sie noch ist, wird derzeit offensichtlich. Wir brauchen ein Gesundheitssystem, das sich am Gemeinwohl orientiert – unterstütze deshalb das Attac-Engagement dafür unter www.attac.de/gesundheit-ist-keine-ware!

Im Finanzierungssystem über Fallpauschalen gibt es keine Anreize, Be­hand­lungs­kapa­zitä­ten vorzuhalten, um unvorhersehbaren Krisensituationen gerecht werden zu können, denn bezahlt werden nur erbrachte Leistungen, nicht aber eventuelle Kata­stro­phen wie Pandemien. Nicht mehr die Bedürfnisse der Patient*innen stehen im Mittelpunkt des Behandlungsprozesses, sondern der betriebswirtschaftliche Gewinn, der mit jeder einzelnen Erkrankung erzielt werden kann; durch die Einsparungen zur Profitmaximierung fehlen heute unter anderem rund 50.000 Pfleger*innen.

Dabei haben Krankenhäuser im Rahmen der Daseinsvorsorge neben der alltäglichen stationären Krankenversorgung genau diese Aufgabe: Sie sind die entscheidenden Einrichtungen unseres Gesundheitswesens, die Betroffenen im Katastrophenfall helfen sollen – auch das ist ein Zeichen der Solidarität, dass wir als Gesellschaft in solchen Ausnahmesituationen Verantwortung übernehmen für die Leidtragenden. Mit Krankenhäusern als gewinnorientierten Wirtschaftsunternehmen ist diese Solidarität nicht einlösbar. Deshalb engagieren wir uns für die Abschaffung der Fallpauschalen und für ein Gesundheitssystem für Menschen, nicht für Profite!

Fast alle sind von der Corona-Krise in unterschiedlichem Maß betroffen. Viele treiben jetzt auch existenzielle Sorgen um, und wir wissen, dass es deshalb derzeit auch schwieriger ist, zu spenden.

Ein Patient ist keine Ware, ein Krankenhaus kein Unternehmen! Dafür engagieren wir uns nicht nur in dieser Gesundheitskrise – unterstütze uns deshalb – falls möglich – unter www.attac.de/gesundheit-ist-keine-ware!

Pläne des Robert-Koch-Instituts aus 2012 gegen Pandemie: Plötzlich real

Quelle: taz vom 7.4.20 – Autor: Daniel Godeck

Pläne aus 2012 gegen Pandemie: Plötzlich real

Zu wenig Klinikbetten, ein Engpass an Ausrüstung – 2012 haben Behörden das Szenario einer Viruspandemie durchgespielt. Es passierte – wenig.

BERLIN taz | Das Szenario ist düster: Ein neuartiges Virus breitet sich über den gesamten Erdball aus. Auch in Deutschland infizieren sich Millionen Menschen. „Die Symptome sind Fieber und trockener Husten, die Mehrzahl der Patienten hat Atemnot.“ Einen Impfstoff gibt es nicht. Die Zahl der Erkrankten übersteigt die Bettenanzahl in den Kliniken „um ein Vielfaches“. Die Folge: „Die medizinische Versorgung bricht bundesweit zusammen.“

So steht es in der Risikoanalyse für eine Viruspandemie, die Behörden unter Federführung des Robert Koch-Instituts (RKI) bereits im Jahr 2012 im Auftrag der Bundesregierung erstellt haben. Bis vor Kurzem hätte wohl jeder Leser des Berichts ein solches Szenario als eher unrealistisch abgetan.

Doch heute, in Zeiten der Covid-19 Pandemie, erscheint die Anfang 2013 erschienene Bundestagsdrucksache 17/12051 fast wie ein Blick in die Kristallkugel. Wobei die seinerzeit durchgespielte fiktive SARS-Pandemie in ihren Auswirkungen deutlich extremer ausfällt als die tatsächlich grassierende Corona-Pandemie.

Gleichwohl machte die Risikoanalyse zwei Schwachstellen im Gesundheitssystem aus, die einem in Zeiten von Corona sofort bekannt vorkommen. Einmal der befürchtete Mangel an Klinikbetten: „Der aktuellen Kapazität von 500.000 Krankenhausbetten stehen im betrachteten Zeitraum mehr als vier Millionen Erkrankte gegenüber, die im Krankenhaus behandelt werden müssten“, heißt es im Bericht. Außerdem wird vor einem Engpass an Medikamenten, Desinfektionsmittel und Schutzausrüstung gewarnt.

Ein „Maximalszenario“, keine bindende Wirkung

Gefolgt ist aus der Feststellung von 2012, dass Betten und Ausrüstung fehlen, offenkundig wenig.

Laut Deutscher Krankenhausgesellschaft haben die knapp 2.000 Kliniken hierzulande heute rund 500.000 Betten –ebenso viele wie 2012 also. Auch an Schutzausrüstung wie Atemmasken fehlt es.

Stellt sich die Frage: Wurden etwa gar keine Konsequenzen aus dem Bericht gezogen? Zumindest vom Bund scheint damals keine große Reaktion ausgegangen zu sein.

Ein erster Grund dafür, liegt in der nicht-verbindlichen Natur des Berichts. Das RKI spricht von einem „Maximalszenario (…) um das theoretisch denkbare Schadensausmaß einer Mensch-zu-Mensch übertragbaren Erkrankung mit einem hochvirulenten Erreger zu illustrieren.“ Eine eins-zu-eins-Umsetzung des Berichts war also schlicht nicht vorgesehen.

Der andere – und vermutlich gewichtigere Grund dafür, dass der Bericht keine praktischen Folgen nach sich zog, findet sich im föderalen System des deutschen Staates. Es war zwar der Bund, der die Risikoanalyse erstellt hat – über mögliche Reaktionen auf den Bericht bestimmen aber die Länder, etwa was den Katastrophenschutz betrifft. Für die Vorbereitung auf mögliche Katastrophen sind in Friedenszeiten allein die Bundesländer zuständig, der Bund kann dagegen laut Grundgesetz hier nur im „Spannungs- und Verteidigungsfall“ eingreifen. Bemühungen, dem Bund mehr Kompetenzen beim Bevölkerungsschutz zu übertragen, scheiterten bislang am Veto der Länder.

„Definitiv zu wenig passiert“

Aber ist damals wirklich nichts geschehen? Im Idealfall wäre es wohl so gelaufen: Nach Vorliegen des Berichts hätten die Länder ihre eigenen Pandemiepläne so angepasst, dass Schwachstellen beseitigt werden. Eine Nachfrage der taz bei mehreren Ländern, ob damals Konsequenzen aus dem Bericht gezogen wurden, bringt wenig Aufschluss.

Doch der Blick in die ländereigenen Pandemiepläne lässt tief blicken. Niedersachsens Influenza-Pandemieplan ist beispielsweise auf dem Stand von Oktober 2006. Auch in anderen Ländern fehlen – ebenso wie im Nationalen Pandemieplan (immerhin zuletzt 2017 aktualisiert) – klare Vorgaben nach dem Motto: So und so viele Schutzmasken sind in jeder Arztpraxis zu bevorraten.

Konstantin von Notz, Innenpolitiker der der Grünen im Bundestag, fordert daher Konsequenzen für den Bevölkerungsschutz. Seit der Analyse sei „definitiv zu wenig“ passiert, sagt er der taz. „Sicherlich hat das föderale System seine Berechtigung, beim Katastrophenschutz stoßen wir aber immer wieder an Grenzen“, beklagt er. Er fordert eine klarere Zuständigkeiten, um „Dinge einheitlich umzusetzen“.

Den schwarzen Peter allein den Ländern zuzuschieben, greift wohl dennoch zu kurz. So gibt es einen Passus im Infektionsschutzgesetz des Bundes, wonach dieser dann doch durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, die Vorsorge der Gesundheitsversorgung im Fall einer Pandemie zu regeln.

RKI-Chef unterschätzte Corona-Gefahr

So oder so wurde die Sache unterschätzt. „Pandemie- und Notfallpläne dürfen mittelfristig nicht in der Schublade verstauben“, beklagt Linken-Gesundheitspolitiker Achim Kessler. Sie müssten anhand wissenschaftlicher Kriterien erprobt und angepasst werden, worunter auch die beständige Aktualisierung der Lagerbestände von Schutzausrüstung falle. „All dies haben die Bundesregierung und die Länder versäumt“, beklagt er.

Tatsächlich hätte sich wohl kaum ein Politiker, ob in Bund oder Land, eine Pandemie wie Corona wirklich vorstellen können. Anfang 2013 waren die Eurokrise oder Pferdefleisch in Tiefkühllasagne bestimmende Themen. Für Pandemievorsorge war da wenig Platz.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat zuletzt selbst Fehler eingeräumt: „Wir haben auch gute Pandemie-Pläne. Aber wir haben sie nicht genug geübt.“ Und sogar RKI-Chef Lothar Wieler lag falsch, als er noch im Januar prognostizierte, dass sich das Virus „nicht sehr“ stark auf der Welt ausbreiten würde. Ein großer Irrtum.

Immerhin: Die Süddeutsche Zeitung berichtete kürzlich von einem „erstaunlich selbstkritischen Blick“ im Krisenstab der Bundesregierung – inklusive der Einsicht, dass der Gegenwert „auch nur eines Panzers“ besser in genügend Schutzkleidung investiert worden wäre

Marktlogik und Katastrophenmedizin

Quelle: Le Monde diplomatique (Deutsche Ausgabe) vom 09.04.2020, Renaud Lambert und Pierre Rimbert

Marktlogik und Katastrophenmedizin

Die Austeritätspolitik der letzten Jahrzehnte hat uns Krankenhäuser beschert, in denen Ärzte heute wie im Krieg entscheiden müssen, wer leben darf und wer sterben muss. Doch in der Corona-Pandemie schwindet die Macht der Marktideologen. Nur kollektiv und staatlich koordiniertes Handeln kann einen Ausweg bieten.

Bei einem Zaubertrick besteht die Kunst darin, die Aufmerksamkeit des Publikums abzulenken, damit es nicht merkt, was tatsächlich vor seinen Augen geschieht. Bei der Corona-Epidemie liegt die Magie in einem Diagramm mit zwei Kurven, das auf Fernsehkanälen in der ganzen Welt zu sehen ist. Die x-Achse gibt die Zeit an, die y-Achse die Zahl der schweren Erkrankungen.

Die erste Kurve geht steil nach oben, sie zeigt den Verlauf der Epidemie, wenn nichts unternommen wird. Diese Kurve überschreitet sehr schnell die horizontale Linie, mit der die maximale Aufnahmefähigkeit der Krankenhäuser angegeben ist. Die zweite Kurve zeigt die Entwicklung, wenn Maßnahmen wie Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung des Virus begrenzen. Sie ist leicht gewölbt, wie ein Schildkrötenpanzer, und bleibt unter der horizontalen Kapazitätsgrenze.

Das in den Medien allgegenwärtige Diagramm macht deutlich, wie dringend notwendig es ist, den Rhythmus der Ansteckungen zu verlangsamen, um die Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Wenn jetzt Journalisten in der ganzen Welt dieses Schaubild weiterverbreiten, wird ein wesentliches Element oft vergessen: die unauffällige Gerade, die die Zahl der Betten darstellt, die für Schwerkranke zur Verfügung stehen. Diese „kritische Schwelle“ wird quasi als gottgegeben akzeptiert. Dabei ist sie das Ergebnis politischer Entscheidungen.

Wenn man heute „die Kurve abflachen“ muss, liegt das auch daran, dass die seit vielen Jahren herrschende Austeritätspolitik die Messlatte gesenkt und das Gesundheitswesen seiner Aufnahmefähigkeit beraubt hat. 1980 gab es in Frankreich elf Krankenhausbetten pro tausend Einwohner, davon sind heute noch sechs übrig. Macrons Gesundheitsministerin hat im September 2019 vorgeschlagen, sie „bed managers“ zu überlassen, die das rare Gut zuteilen sollten.

Krankenhäuser sind keine Autofabriken

In den USA sank die Zahl von 7,9 Betten 1970 auf 2,8 im Jahr 2016.1 Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es in Italien 1980 für „schwere Fälle“ 922 Betten pro 100.000 Einwohner. 30 Jahre später waren es nur noch 275. Überall galt nur eine Devise: Kosten senken. Das Krankenhaus sollte wie eine Autofabrik im Just-in-time-Modus funktionieren. Das Resultat ist, dass die Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimation und Intensivtherapie (Siaarti) die Arbeit der Notärzte heute als „Katastrophenmedizin“ bezeichnet. Sie warnt, angesichts der fehlenden Ressourcen „könnte es nötig werden, eine Altersgrenze für den Zugang zur Intensivversorgung festzulegen“.2 Auch im Nordosten von Frankreich spricht man mittlerweile in ähnlicher Weise von „Kriegsmedizin“.

Die Coronakrise hat also nicht nur mit der Gefährlichkeit der Krankheit Covid-19 zu tun, sondern auch mit dem organisierten Niedergang des Gesundheitssystems. Doch statt diese Tatsache kritisch zu hinterfragen, laden die großen Medien – seit jeher die Echokammern der Sparpolitik – Leser und Zuschauer zu einer atemberaubenden philosophischen Diskussion ein: Wie entscheiden wir, wen wir retten und wen wir sterben lassen?

Diesmal wird es jedoch schwierig werden, die politische Frage hinter einem ethischen Dilemma zu verstecken. Denn die Corona-Epidemie führt allen vor Augen, dass unsere Wirtschaftsorganisation noch weit absurder ist, als man vermutet hatte: Während die Airlines ihre leeren Flugzeuge fliegen ließen, um ihre Slots zu behalten, erklärte ein Virologe, wie neoliberale Politik die Grundlagenforschung über das Coronavirus behindert hat.3

Offenbar muss man manchmal die Normalität verlassen, um zu begreifen, wie unnormal sie ist. Marshall Burke, Dozent am Zentrum für Ernährungssicherheit und Umwelt der Universität Stanford, twitterte dazu folgendes Paradox: „Die Reduktion der Luftverschmutzung aufgrund von Covid-19 in China hat vermutlich zwanzigmal so viele Leben gerettet, wie durch den ­Virus bisher verloren gingen. Das heißt nicht, dass Pandemien gut sind, aber es zeigt, wie gesundheitsschädlich unsere Wirtschaftssysteme sind, auch ohne Coronavirus.“4

Der Höhepunkt der Absurditäten in der Corona-Krise liegt dabei nicht einmal darin, dass es durch die Verlagerung von Produktionsketten einen Mangel an Medikamenten geben könnte, und auch nicht in der Verbohrtheit, mit der die Finanzmärkte Italien bestraften, als die Regierung die ersten Maßnahmen ergriff. Nein, den Höhepunkt finden wir in den Krankenhäusern selbst: Die Mitte der 2000er Jahre in Frankreich eingeführte „Gebührenberechnung nach Tätigkeit“ (tarification à l’activité, T2A) kalkuliert die Finanzierung der Einrichtungen anhand des Behandlungsaufwands für jeden einzelnen Patienten. Die Leistungen werden wie im Supermarkt einzeln abgerechnet.

Würde nun dieses aus den USA importierte Prinzip der Pflege als Ware während der aktuellen Krise angewendet, wären die Krankenhäuser, die die Schwerkranken aufnehmen, bald ruiniert. Denn der kritische Verlauf von Covid-19 erfordert vor allem eine Beatmung, die Zeit kostet, aber in der Tariftabelle weniger einbringt als diverse Untersuchungen und Eingriffe, die wegen der Epidemie verschoben wurden. Einbußen der Kliniken durch die Pandemie bestätigte etwa der deutsche Virusforscher Christian Drosten in seinem populären Podcast. Drosten sagte am 30. März im NDR: „Wir haben Betten freigeräumt. Das macht natürlich auch im Krankenhaus massive finanzielle Verluste. Auch die Medizin ist ein Wirtschaftszweig, und die Verluste sind extrem, die da jeden Tag entstehen.“

Für kurze Zeit schien es so, als sprenge das Virus die sozialen Grenzen. Seine Ausbreitung führte zu Maßnahmen, die wir uns jedenfalls in Friedenszeiten nie hätten vorstellen können. War nicht der Wall-Street-Banker plötzlich ebenso bedroht wie der chinesische Wanderarbeiter?

Sehr schnell aber wurde deutlich, dass auch in der Krise vor allem das Geld den Unterschied macht. Auf der einen Seite machen die Gutbetuchten es sich in ihren Villen mit dem Homeoffice-Laptop neben dem Pool gemütlich. Und auf der anderen Seite sind die bislang Unsichtbaren des Alltags, Pfleger, Reinigungskräfte, Kassiererinnen im Supermarkt und Lieferanten, einem Risiko ausgesetzt, das den Begüterten erspart bleibt. Eltern sitzen im Homeoffice in ihrer kleinen Wohnung, durch die das Geschrei der Kinder schallt, Wohnungslose würden gern in einem Zuhause bleiben.

Der Historiker Jean Delumeau, Autor einer Geschichte der „Angst im Abendland“, stieß in seiner Untersuchung über „typische kollektive Verhaltensweisen in Pestzeiten“5 auf eine Konstante: „Wenn die Gefahr der Ansteckung auftaucht, versucht man zunächst, die Augen davor zu verschließen.“ Und Heinrich Heine notierte nach der offiziellen Ankündigung der Choleraepidemie 1832 in Paris: „Die Pariser tummelten sich umso lustiger auf den Boulevards“, als „das Wetter sonnig und lieblich war“.6 Als Nächstes flohen dann die Reichen aufs Land, und die Regierung ordnete für die Stadt Quarantäne an. „Die Unsicherheit entsteht nicht nur aus dem Auftreten der Krankheit“, erklärt Delumeau, „sondern ebenso aus einer Auflösung des Alltags und der gewohnten Umgebung. Alles ist anders geworden.“ Genau diese Erfahrung machen heute die Einwohner von Wuhan, Rom, Madrid oder Paris.

Die großen Pestepidemien zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert wurden oft als Zeichen des Jüngsten Gerichts, des Zorns eines rächenden Gottes gedeutet. Damals wandten sich die Menschen entweder der Religion zu und flehten um Gnade oder sie suchten Schuldige in der Nachbarschaft. Juden und Frauen waren beliebte Sündenböcke. Im Europa des 21. Jahrhunderts trifft die Corona-Epidemie säkularisierte Gesellschaften, die seit der Finanzkrise von 2008 bei Themen wie Klimaverschlechterung, Politik, Finanzen, Demografie oder Migration in unterschiedlichem Ausmaß unter einem Gefühl des Kontrollverlusts leiden.

In dieser Endzeitstimmung, in der wieder Bilder der brennenden Kathedrale von Notre-Dame kursieren und über den kommenden Zusammenbruch geredet wird, richten sich alle Blicke auf die Regierung. Der Staat hat das Problem durch die langjährige Zerstörung des Gesundheitssystems verschärft – und ist dennoch die einzige Instanz, die eine Antwort auf die Epidemie finden kann. Aber wie weit kann man dabei gehen?

Noch im Februar löste die mehrwöchige Isolierung von 56 Millionen Einwohnern der chinesischen Provinz Hubei, die Stilllegung der Fabriken oder die Ermahnung der Bürger durch Drohnen mit Kameras und Megafonen in Europa spöttische Reaktionen aus oder Kritik an der eisernen Faust der Kommunistischen Partei.

Man bezahlt Feuerwehrleute nicht nur, wenn es brennt

„Aus der chinesischen Erfahrung lassen sich keine Lehren hinsichtlich der möglichen Dauer der Epidemie ziehen“, erklärte die Zeitschrift L’Express noch am 5. März. Sie sei dort durch „drastische Quarantänemaßnahmen verlangsamt worden, die in unseren Demokratien wahrscheinlich nicht anwendbar sind“. Doch kurze Zeit später war klar: Im Kampf gegen das Virus, das sich nicht um die Überlegenheit „unserer“ Werte schert, kommt man nicht umhin, zentralisierten Entscheidungen den Vorrang zu geben gegenüber den Freiheiten des Wirtschaftsliberalismus.

WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus betonte, es sei möglich, die Epidemie zu besiegen, aber nur mit einem kollektiven, koordinierten und umfassenden Herangehen und unter Einsatz aller Kräfte.7 Kollektiv und staatlich koordiniert: Das ist das Gegenteil von Markt. In wenigen Tagen vollführen die bis dato unangreifbaren Experten, die uns die Welt erklären, eine 180-Grad-Wendung: „Alles ist anders geworden.“ Begriffe wie Souveränität, Grenze, Einschränkung und sogar staatliche Hilfen, die seit einem halben Jahrhundert im öffentlichen Diskurs stets in die populistische Ecke gestellt oder als „nordkoreanisch“ bezeichnet wurden, erscheinen plötzlich als Lösungen in einer bis dato vom Kult der Geld- und Warenströme und von der Sparpolitik regierten Welt.

Von Panik getrieben, entdecken selbst die Mediengurus plötzlich, was sie eifrig ignoriert hatten: „Kann man nicht auch sagen, dass uns diese Krise im Grunde auffordert, ganz neu über Aspekte der Globalisierung, unsere Abhängigkeit von China, Freihandel und Flugverkehr nachzudenken?“, fragte am 9. März auf France Inter der Journalist Nicolas Demorand, der sein Mikrofon seit Jahren den Kritikern des Protektionismus überlässt.

Die Marktlogik muss den Verstand schon gründlich deformiert haben, wenn die Mächtigen erst nach dem Ausbruch einer mörderischen Pandemie den einfachen Wahrheiten Gehör schenken, die Mediziner seit Jahrzehnten wiederholen: „Ja, wir brauchen eine staatliche Krankenhausstruktur, die ständig verfügbare Betten hat“, betonen die Mediziner André Grimaldi, Anne Gervais Hasenknopf und Olivier Milleron.8 „Das neue Coronavirus hat das Verdienst, uns an Selbstverständlichkeiten zu erinnern: Man bezahlt die Feuerwehrleute nicht nur, wenn es brennt. Man möchte, dass sie in ihrer Wache bereitstehen, auch wenn sie nur ihre Fahrzeuge polieren, während sie auf den Alarm warten.“

Von der Krise im Jahr 1929 bis zur neoliberalen Offensive in den 1970ern hat sich der Kapitalismus erhalten und erneuert, indem er seine Institutionen, oft widerwillig, der Verpflichtung unterwarf, vorauszusehen, was ohne Warnung hereinbricht: Brände, Krankheiten, Naturkatastrophen, Finanzkrisen. Um das Unvorhergesehene zu planen, musste man mit der Marktlogik brechen, die allein nach Angebot und Nachfrage einen Preis festlegt, das Unwahrscheinliche ignoriert und die Zukunft mit Formeln berechnet, in denen die Gesellschaft nicht vorkommt.

Diese Blindheit der Standardökonomie, die an den Börsen ins Extrem getrieben wird, bemerkte auch der ehemalige Broker und Statistiker Nassim Nicholas Taleb. In seinem Buch „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“, das wenige Monate vor der Finanzkrise von 2008 erschien, schrieb er über die Prognostiker: „Das Expertenproblem besteht darin, dass sie keine Ahnung von dem haben, was sie nicht wissen.“9 Taleb bezeichnete es als absurd, das Unvorhergesehene zu ignorieren in einer Welt, die durch die Vervielfachung unerwarteter Ereignisse – eben die „schwarzen Schwäne“ – geprägt sei.

Ende März 2020 kann jeder, der an seinem Fenster die Stille der eingesperrten Stadt dröhnen hört, über die Verbissenheit nachdenken, mit der sich der Staat nicht nur der Intensivbetten beraubt hat, sondern auch seiner Planungsinstrumente, die heute von ein paar globalen Versicherungs- und Rückversicherungskonzernen monopolisiert werden.10

Kann die Zäsur dieser Pandemie die Entwicklung umdrehen? Um das Mögliche und das Zufällige wieder in die Steuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge aufzunehmen, um weiter zu schauen als bis zur Kosten-Nutzen-Rechnung und eine ökologische Planung vorzunehmen, müsste man den größten Teil der Dienste verstaatlichen, die für das Leben der modernen Gesellschaft unverzichtbar sind, von der Straßenreinigung über die digitalen Netze bis zum Gesundheitswesen.

Die Sichtweise des Historikers legt nahe, dass eine Veränderung der Verhältnisse, der Entwicklung, des Nachdenkens über das kollektive Leben und die Gleichheit unter normalen Umständen unmöglich ist. „Im Laufe der Geschichte“, schreibt der österreichische Historiker Walter Scheidel, „haben vier verschiedene Arten gewaltsamer Brüche die Ungleichheit verringert: Massenmobilisierungskriege, Revolutionen, der Bankrott von Staaten und verheerende Pandemien.“11 Sind wir an diesem Punkt angelangt?

Andererseits hat das Wirtschaftssystem im Verlauf seiner Geschichte eine außergewöhnliche Fähigkeit bewiesen, die immer häufiger werdenden Stöße zu parieren, die seine Irra­tio­nalität verursacht. So setzen sich auch bei den heftigsten Erschütterungen in der Regel die Verteidiger des Status quo durch. Sie nutzen die allgemeine Fassungslosigkeit aus, um die Macht des Marktes noch weiter auszudehnen. Der Katastrophen-Kapitalismus, den Naomi Klein kurz vor der großen Rezession von 2008 analysierte, schert sich nicht um die Erschöpfung der Rohstoffe und der sozialen Sicherungssysteme, die die Krise dämpfen könnten. In einer Anwandlung von Optimismus schrieb die kanadische Journalistin: „Wir reagieren auf einen Schock nicht immer mit Regression. Manchmal wachsen wir auch angesichts einer Krise – und zwar schnell.“12 Diesen Eindruck wünschte wohl auch Präsident Macron in seiner Erklärung vom 12. März zu erwecken.

Er wolle, „das Entwicklungsmodell, dem unsere Welt seit Jahrzehnten folgt und das jetzt seine Tücken offenbart, und die Schwächen unserer Demokratie hinterfragen“, sagte Macron. Bereits heute offenbare diese Pandemie, dass ein kostenloses Gesundheitswesen ohne Unterscheidung nach Einkommen, Karriere oder Beruf sowie unser Wohlfahrtsstaat kein bloßer Kostenfaktor sei, sondern „ein unverzichtbarer Trumpf, wenn das Schicksal zuschlägt“. Die Pandemie zeige, dass es Güter und Dienstleistungen gebe, die außerhalb der Marktgesetze stehen müssten. „Es ist Wahnsinn, wenn wir unsere Ernährung, unseren Schutz, die Fähigkeit, unser Leben zu gestalten, in fremde Hände geben. Wir müssen wieder die Kontrolle übernehmen.“

Drei Tage später verschob er die Rentenreform und die Reform des Arbeitslosengelds und verkündete Maßnahmen, die bisher als unmöglich galten: die Einschränkung von Entlassungen und die Aufgabe der Haushaltsbeschränkungen. Und die Umstände könnten diesen Wandel noch verstärken: Die Obsession des Präsidenten etwa, die Ersparnisse und Beamtenpensionen an den Aktienmärkten zu investieren, wirkt vor dem Hintergrund des Absturzes der Börsenkurse nicht gerade wie ein visionärer Geniestreich.

Das Arbeitsgesetz aussetzen, die Bewegungsfreiheit einschränken, Unternehmen mit vollen Händen unterstützen und sie von Sozialabgaben freistellen, auf denen das Gesundheitssystem beruht – diese Maßnahmen allerdings stellen keinen radikalen Bruch mit der bisherigen Politik dar. Der massive Transfer von öffentlichen Geldern in den Privatsektor erinnert an die staatliche Bankenrettung von 2008. Die Rechnung kam dann in Form der Sparpolitik, von der vor allem die Angestellten und die öffentlichen Dienstleistungen betroffen waren. Weniger Krankenhausbetten, um die Banken wieder flottzumachen: das war die Devise.

Auch deshalb drängte sich bei Macrons Rede die Erinnerung an einen Septembertag des Jahres 2008 auf. Damals, kurz nach dem Crash von Lehman Bro­thers, trat der damalige Präsident Sarkozy vor die Kameras und verkündete seinen verblüfften Anhängern feierlich: „Eine bestimmte Vorstellung der Globalisierung stirbt gerade mit dem Ende eines Finanzkapitalismus, der der ganzen Wirtschaft seine Logik aufgezwungen und dazu beigetragen hat, sie zu verderben. Die Idee, dass die Märkte immer recht haben, war eine irrsinnige Idee.“13 Das hinderte ihn allerdings nicht daran, auf den Weg des gewöhnlichen Wahnsinns zurückzukehren, sobald das Unwetter vorüber war.

1 Quelle OECD.

2 „Raccomandazioni di etica clinica per l’ammissione a trattamenti intensivi e per la loro sospensione“, Siaarti, Rom, 6. März 2020.

3 Bruno Canard, „J’ai pensé que vous avions momentanément perdu la partie“, Rede am Ende der Demonstration vom 5. März 2020, nachzulesen unter academia.hypotheses.org.

4 Twitter, 9. März 2020.

5 Jean Delumeau, „Angst im Abendland, Die Geschichte kollektiver Ängste in Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts“, Reinbek (Rowohlt) 1998.

6 Heinrich Heine, „Französische Zustände“, online frei verfügbar bei Zeno.org.

7 New York Times, 11. März 2020.

8 Le Monde, 11. März 2020.

9 Nassim Nicholas Taleb, „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“, München (Hanser) 2008.

10 Razmig Keucheyan, „La Nature est un champ de bataille. Essai d’écologie politique“, Paris (La Découverte) 2014.

11 Walter Scheidel, „Nach dem Krieg sind alle gleich: Eine Geschichte der Ungleichheit“, Darmstadt (Konrad Theiss Verlag) 2018.

12 Naomi Klein, „Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“, Frankfurt a. M. (Fischer) 2009.

13 Rede in Toulon am 25. September 2008.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, Renaud Lambert