Wer trägt die langfristigen Kosten der Covid-19-Wirtschaftskrise – solidarischer Lastenausgleichsfonds mit einer Vermögensabgabe

Prof. Dr. Rudolf Hickel

Wer trägt die langfristigen Kosten der Covid-19-Wirtschaftskrise – Solidarischer Lastenausgleichsfonds mit einer Vermögensabgabe

Die aktuelle Finanzpolitik hat sich zumindest am Anfang der Corona-Krise als handlungsfähig erwiesen. Unter dem gigantischen Druck der unmittelbaren Folgen der Covid-19-Wirtschaftskrise sind Maßnahmen jenseits des elenden Streits über die Frage mehr Markt/weniger Staat und Relevanz der Schuldenbremse durch den Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden. Bereitgestellt wird gegen den Absturz der infizierten Wirtschaft ein Nachtragshaushalt mit über 156 Mrd. Euro für das laufende Jahr. Absehbare Steuerverluste werden nicht durch Ausgabenkürzungen ausgeglichen, sondern durch den Nachtragshaushalt über die Aufnahme öffentlicher Kredite finanziert. Hinzukommen zusätzliche Ausgaben für Krisenkosten, die den ursprünglichen Sollwert 2020 im Bundeshaushalt um ein Drittel auf den Spitzenwert von 484,5 Mrd. Euro anheben. Staatsschuldenphobie war gestern. Dieser Nachtragshaushalt wird ausschließlich über öffentliche Kredite finanziert. Dabei bleibt es jedoch nicht. Milliardenschwere Schutzschilder werden zu recht durch den Bund und auch die Länder mit den folgenden Schwerpunkten eingerichtet: Verbesserung der Gesundheitsversorgung, Familienunterstützung, Hilfe für kleine Unternehmen, Selbständige und Freiberufler, Schutz für größere Unternehmen der Realwirtschaft mit 600 Mrd. Euro im „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“, steuerliche Hilfen für Unternehmen, generelles Kurzarbeitergeld sowie Miethilfen. Sollte es erforderlich sein, sattelt der Bundesfinanzminister noch ein eigenes Konjunkturprogramm drauf. Die Bundesregierung schätzt derzeit das Finanzvolumen für die beschlossenen Hilfsaktivitäten und Konjunkturprogramme auf 1 200 Mrd. Euro. Das wird bei weitem nicht reichen.

Staatliche Kreditfinanzierung in der aktuellen Wirtschaftskrise alternativlos

Die Frage, wer am Ende die Rechnung bezahlt, birgt neue Sprengkraft. Die Sorge, dass die Superreichen an der Spitze der Vermögenspyramide mal wieder geschont werden, ist groß. Dem muss ein Corona-Sozialvertrag entgegengesetzt werden. Im Mittelpunkt stehen Maßnahmen zur Absicherung der sozial und ökonomisch besonders Betroffenen. Allerdings sind Mitnahmeeffekte etwa großer, kapitalstarker Unternehmen auszuschließen. Einzelhandelsketten wie Adidas, H&M sowie Media/Saturn stehen ausgesetzte Mietzahlungen wegen ihrer Kapitalstärke nicht zu.

Wer aber bezahlt nach der Rückkehr zur Normalität die Rechnung für die massiv angestiegenen Staatsschulden? Zur Abschätzung des Gesamtvolumens sowie zur Verteilung der Finanzlasten wird eine schrittweise Vorgehensweise vorgeschlagen:

In der derzeitigen Phase der tiefen Rezession ist die staatliche Kreditaufnahme zur Finanzierung des aktuellen Nachtragshaushalts und eines dringend erforderlichen Konjunkturprogramms mit ökologischen Investitionsschwerpunkten alternativlos. Dafür sprechen auch die Niedrigzinsen und der ausbleibende Inflationsschub.

Allerdings wird nur ein Teil der durch die aufgelaufenen Staatsschulden im nachfolgenden Aufschwung wieder getilgt werden können.

Noch ist der Verlauf der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung über die Krise hinweg nicht erkennbar. Alles hängt von der Länge der Infektionsphase und dem davon abhängigen Verlauf des Bruttoinlandsproduktes ab. Kommt es zum starken Abschwung und zum nachfolgenden Boom des Bruttoinlandsprodukts (V-Verlauf) oder halten die massiven Produktionsverluste mehrere Monate an (U-Verlauf)?

Am Ende ist zwar innerhalb einer Bandbreite mit hohen konjunkturunabhängigen, strukturellen Defiziten zu rechnen. Die Finanzierung dieser Langfristlasten muss wegen des bereits ausgebrochenen Streites über die sozial angemessene Lastverteilung schnell geklärt werden. Die Gefahr ist groß, dass dieser Überhang an strukturellen Staatsschulden wie in früheren Jahren unter dem Druck der „schwarzen Null“ durch eine Austeritätspolitik mit Kürzungen in den Sozialhaushalten bzw. der Erhöhung von Massensteuern abgebaut werden wird.

Die von der aktuellen Krise sozial Belasteten wären dadurch auch noch über Jahrzehnte belastet. Diese in der Schuldenbremse angelegte Option muss ausgeschlossen werden. Denn nur eine glaubhafte Garantie sozialer Gerechtigkeit stärkt das politische Vertrauen in diesen schwierigen Zeiten und damit auch die Akzeptanz temporärer Einschränkungen des Lebens sowie die unterschiedlich verteilten Einkommensverluste. Auch dürfen angesichts der Klimakatastrophe die Investitionen in den ökologischen Umbau nicht geopfert werden. Dabei hat die Bundesregierung mit ihrem Nachtragshaushalt über 156 Mrd. € für dieses Jahr bereits in punkto Tilgung die Weichen falsch gestellt. 100 Mrd. €, die als nicht schuldenregelkonform erklärt wurden, sollen ab 2023 binnen 20 Jahren abgebaut werden. Zumindest sollte zur Vermeidung einer erneuten Einsparrunde die Tilgungsfrist auf 50 Jahre ausgeweitet werden.

Wer finanziert die längerfristigen staatlichen Kosten der Corona-Katastrophe?

Der Druck, eine akzeptable Lösung zur Finanzierung der Gelder für die Schutzschirme zu finden, ist groß. Im Mittelpunkt stehen die am Ende auf weit über eine Billion € aufgelaufenen Schulden des Bundes, der Länder und der Kommunen. Erinnerungen an frühere Notlagen werden wach.

Der Historiker Heinrich August Winkler sowie Andreas Bovenschulte, Regierungschef im Stadtstaat Bremen, haben unlängst die aktuelle Wucht der Herausforderung mit der Bewältigung der Lasten am Ende des zweiten Weltkriegs verglichen.

Im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes von 1952 wurde ein auf dreißig Jahre angelegter Ausgleichsfonds eingerichtet: Einnahmen aus einer einmaligen Abgabe auf das Vermögen zugunsten der Finanzierung der Ausgaben für Flüchtlinge und Vertriebene aus den Ostgebieten sowie für den Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft wurden umverteilt.

Die wichtigste Finanzierungsquelle war eine einmalige Vermögensabgabe, die allerdings durch die Verteilung über 30 Jahre pro Jahr bei 1,67% lag und angemessen aufgebracht werden konnte. Wenn auch die Dimension gegenüber dem Lastenausgleichsfonds von 1952 geringer ausfällt, lohnt sich auch die Erinnerung an den „Fonds Deutsche Einheit“.

Für die Jahre 1990 bis 1994 wurden die erforderlichen Kredite zur Finanzierung der Wiedervereinigung in diesem Fonds mit einem Planvolumen von 115 Mrd. DM zusammengefasst.

Der durch den Bund, die Länder und die Kommunen mitfinanzierte Fonds konnte nach der Übernahme eines Restbetrags durch den Bund bereits 2019 geschlossen werden. Die zuerst wechselhafte Phase des Solidaritätszuschlags, der erst ab 1995 verstetigt wurde, hat durchaus dem Staat die Finanzierung dieser Fondsmittel erleichtert.

Einmalige Vermögensabgabe für den „Solidarischen Corona-Fonds“

Ein Lastenausgleichsfonds, wie ihn der Bremer Bürgermeister Andreas Bovenschulte mit Blick auf das Nachkriegs-Lastenausgleichsgesetz von 1952 vorschlägt, weist finanzstrategisch und verteilungspolitisch in die richtige Richtung.

Es geht darum, die durch die infizierte Wirtschaft aufgelaufenen Kredite des Bundes, der Länder und der Kommunen in einem bundesweit gemanagten Sondervermögen zusammenzufassen. Hinter den gebündelten Krediten steht die dringend notwendige Finanzierung der medizinischen, sozialen und ökonomischen Schutzschilder.

Der künftige Nutzen liegt in den staatlich aufgefangenen Schadensfolgen. Darüber hinaus wird die Basis für die spätere Normalisierung der Wirtschaft stabilisiert. Vergleichbar mit dem Lastenausgleichsgesetz von 1952 sollte der Corona-Solidarfonds auf mindestens 30 Jahre angelegt werden.

Zur Finanzierung des aufzubringenden Kapitaldienstes werden derzeit zwei Abgaben diskutiert: eine einmalige Vermögensabgabe und ein neu aufgelegter Solidaritätszuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuerschuld.

Auch wegen der strittigen Erfahrungen mit dem bisherigen Soli wird eine einmalige Vermögensabgabe allerdings mit einer zeitlich gestreckten Aufbringung präferiert. Beim Lastenausgleichsgesetz von 1952 lag die Abgabe auf das erfasste Vermögen bei 50%. Im Sinne der Gleichbehandlung wird die Vermögensabgabe ohne Unterschiede auf das Realvermögen (also auch auf Immobilien) und das Geldvermögen erhoben.

Wichtigste Zielgruppe dieser Abgabe sind die privaten Haushalte in der Spitzengruppe der Reichen. Vergleichbare Vorschläge haben Saskia Esken (SPD) und Bernd Riexinger (DIE LINKE) unterbreitet. Dabei wird die Bezahlung der ermittelten Vermögensabgabe wie beim Lastenausgleichsgesetz von 1952 über mehrere Jahre verteilt. Diese einmalige, auf mehrere Jahre verteilte Vermögensabgabe unterscheidet sich von der regelmäßig jährlich zu erhebenden Vermögensteuer.

Die Einnahmen aus der der Not geschuldeten Vermögensabgabe fließt dem Bund zu, der jedoch den Corona-Solidarfonds für alle, durch die Corona-Krise ausgelösten Zusatzkredite auch bei den Ländern und Kommunen öffnet. Die einmalige Vermögensabgabe dient allerdings nur Finanzierung der außerordentlichen Kreditbedarfe infolge der Corona-Pandemie. Die Abschottung des Fonds gegenüber der normalen Finanzpolitik ist gewollt- Damit bleiben die dringlichen finanzpolitischen Themen vor der Corona-Wirtschaftskrise auf der Tagesordnung: Die Finanzierung der öffentlichen Investitionen erfolgt nach der „goldenen Regel“ über die Kreditaufnahme, die sozial gerechte Umverteilung der Steuerlast wird forciert und ökologische Umbauinstrumente wie die CO2-Abgabe werden eingesetzt

  • *Prof. Dr. Rudolf Hickel (Jahrgang 1942) ist Ökonom und Politikwissenschaftler. Zusammen mit anderen Wissenschaftler*innen und Gewerkschafter*innen hat Hickel die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gegründet. Dieser Arbeitsgruppe legte erstmals im November 1975 (kurz nach Verabschiedung des 1. Haushaltsstrukturgesetzes, mit dem der Sozialabbau in der Bundesrepublik eingeleitet wurde) ein „Memorandum für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik“ vor.
    Seit 1977 wird in jedem Jahr in der Woche vor dem 1. Mai ein weiteres Memorandum für eine alternative Wirtschaftspolitik veröffentlicht. Zusätzlich sind zahlreiche Stellungnahmen zu aktuellen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Fragen erstellt worden. Mittlerweile gilt das Memorandum vielfach als „Gegengutachten“ zum jährlichen Gutachten des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (der „fünf Weisen“).

Appell: Geld für Gesundheit statt für Rüstung

„Die Corona-Krise führt uns vor Augen, wie wichtig ein funktionierendes und gut ausgestattetes Gesundheitssystem ist. Jahrelang wurde beim Personal gespart und wichtige Bereiche wurden privatisiert. Angesichts der Corona-Krise und zukünftiger Prävention von Pandemien müssen die Gelder für das Gesundheitswesen massiv erhöht werden. Gleichzeitig gibt die Bundesregierung jedoch Milliarden Euro für Rüstung und Militär aus. Daher fordern wir von der Bundesregierung: Geld für Gesundheit statt für Rüstung!

Betrug der Verteidigungshaushalt 2014 lediglich 32 Mrd. Euro, ist dieser inzwischen bei 45 Mrd. Euro angelangt. Geplant ist gar eine Erhöhung auf bis zu 70 Mrd. Euro. Dies würde der irrwitzigen NATO-Zielvorgabe entsprechen, 2% des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben. Geld, das wir dringend im Gesundheitsbereich und anderen zivilen Bereichen benötigen! Der Bundeshaushalt 2020 verdeutlicht dieses: Die Ausgaben für Verteidigung machen rund 12% (45 Mrd. Euro) aus, die für Gesundheit lediglich 4 % (15 Mrd. Euro).

Statt Geld für Panzer oder Kampfflugzeuge auszugeben, brauchen wir mehr Intensivstationen und vor allem gut ausgebildetes sowie gut bezahltes Personal in allen Gesundheitsbereichen. Sparen wir an der Rüstung und investieren wir in das Leben. Honorieren wir die Arbeit von Pflege- und Klinikpersonal angemessen!

Daher fordern wir zu den bevorstehenden Verhandlungen des Bundeshaushaltes 2021 die Bundesregierung sowie alle Abgeordneten auf:
Die Rüstungsausgaben zu reduzieren und das Geld stattdessen in das Gesundheitswesen zu investieren.“

Grüner Marshallplan für Deutschland: mit notwendigen Wirtschaftshilfen Corona-Krise abfedern und die ökologische Transformation beschleunigen

Studie des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft im Auftrag von Greenpeace (Veröffentlichung: März 2020)

„Die Corona-Krise erschüttert in diesen Tagen unsere Gesellschaft und zwingt den Staat zu Soforthilfen und weitreichenden Konjunkturmaßnahmen historischen Ausmaßes. Während wir Gesundheit und die kurzfristige Unterstützung von Arbeitnehmer*innen und Unternehmen in den Fokus rücken, dürfen wir die Fehler vergangener Wirtschaftskrisen nicht wiederholen und müssen bei allen Maßnahmen an morgen denken. Die geplanten Hilfen für einen wirtschaftlichen Neustart können die Weichen stellen für die notwendige Transformation. Klimaschutz kann und muss dabei Treiber der wirtschaftlichen Gesundung sein und ist Grundlage für unseren langfristigen Wohlstand. Anhand einiger Beispiele wollen wir illustrieren, wie kurzfristige wirtschaftliche Unterstützung mit unseren langfristigen gesellschaftlichen Prioritäten in Einklang gebracht werden können.“

Grüner Marshallplan für Deutschland Studie im Auftrag von Greenpeace März 2020

Greenpeace hat zu dieser Thematik eine Petition gestartet!

Die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tragfähig gestalten – Empfehlungen für eine flexible, risikoadaptierte Strategie 

 Die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tragfähig gestalten – Empfehlungen für eine flexible, risikoadaptierte Strategie 

Koordination: Clemens Fuest und Martin Lohse –

2.April 2020

Autoren:

  • Dr. Andrea Abele-Brehm, Lehrstuhl Sozialpsychologie, Universität Erlangen-Nürnberg
  • Dr. jur. Horst Dreier, Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Würzburg
  • Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, ifo Institut, München / Universität München
  • Dr. Veronika Grimm, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Universität Erlangen-Nürnberg
  • Dr.med. Hans-Georg Kräusslich, Zentrum für Infektiologie, Universitätsklinikum Heidelberg / Deutsches Zentrum für Infektionsforschung
  • Dr.med. Gérard Krause, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Braunschweig / Medizinische Hochschule Hannover
  • med. Matthias Leonhard, Köln
  • Dr. med. Ansgar W. Lohse, Zentrum für Innere Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
  • Dr. med. Martin J. Lohse, Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Universität Würzburg / Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte
  • Dr. med. Thomas Mansky, Technische Universität Berlin
  • Dr. Andreas Peichl, ifo Institut, München / Universität München
  • Dr. Roland M. Schmid, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München
  • Dr. Günther Wess, Technische Universität München
  • Dr. Christiane Woopen, Ceres (Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health), Universität zu Köln

Kurzfassung der Empfehlungen

Ziele

Würden die aktuellen Einschränkungen vollständig aufgehoben, könnte sich das weiterhin in Deutschland vorhandene Virus in der weitgehend nicht immunen Bevölkerung erneut sehr rasch ausbreiten und eine große Zahl schwerer Erkrankungen verursachen.

Es ist aktuell nicht absehbar, wann eine wirksame Schutzimpfung oder eine breit anwendbare Therapie zur Verfügung stehen werden; voraussichtlich wird beides nicht vor 2021 der Fall sein. Weder dies noch eine ausreichende natürliche Immunität in der Bevölkerung können unter Beibehaltung der gegenwärtigen Restriktionen abgewartet werden.

Daher müssen künftige Maßnahmen so gestaltet und vorbereitet werden, dass sie einerseits eine gute gesundheitliche Versorgung sichern und dass sie sich andererseits über die erforderlichen Zeiträume durchhalten lassen.

Deswegen empfehlen wir den schrittweisen Übergang zu einer am jeweils aktuellen Risiko orientierten Strategie, die eine Lockerung von Beschränkungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld mit weiterhin effektivem Gesundheitsschutz verbindet.

Handlungsbedarf ergibt sich jetzt sofort, um gezielt Anpassungen der Maßnahmenpakete zu konzipieren, vorzubereiten und einzuleiten. Der Übergang von den aktuellen Beschränkungen zu einer solchen risikoadaptierten Strategie sollte stufenweise gestaltet werden.

Dabei stehen folgende Ziele im Mittelpunkt:

  • Die erneute rasche Ausbreitung des Erregers weitgehend zu unterbinden, sodass gleichzeitig die natürliche Immunität in der Bevölkerung langsam ansteigt;
  • das Gesundheitssystem zu stärken, um die bestmögliche Therapie für möglichst viele Erkrankte – mit COVID-19 ebenso wie mit anderen schweren Erkrankungen – gewährleisten zu können;
  • Gruppen mit hohem Risiko für schwere COVID-19-Erkrankungen zu schützen;
  • soziale und psychische Härten bei der Pandemiebekämpfung so weit wie möglich zu vermeiden;
  • wirtschaftliche Aktivitäten möglich zu machen, ohne unnötige gesundheitliche Risiken einzugehen;
  • Grundrechtseingriffe dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gemäß auf das erforderliche und angemessene Maß zu beschränken.
  1. Maßnahmen

Wir empfehlen ein graduelles, an bundesweiten ebenso wie an regionalen Möglichkeiten und Gefährdungen orientiertes Vorgehen hin zur risikoadaptierten Strategie.

Dieses sollte von einer bundesweit sowie regional organisierten Corona-Taskforce begleitet werden, in der Experten für die verschiedenen genannten Ziele mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen zusammenwirken.

Aufgabe der Taskforce ist es, die politische Entscheidungsfindung vorzubereiten und entsprechende Empfehlungen zu geben sowie die Umsetzung dieser Entscheidungen zu begleiten und zu kommunizieren. Die Corona Taskforce besteht aus einer bei der Bundesregierung angesiedelten Nationalen Taskforce und Regionalen Taskforces auf der Ebene der Bundesländer, die untereinander in engem Kontakt stehen. Bei ihnen laufen alle relevanten Informationen zusammen, die zur flexiblen Steuerung einzelner Schritte benötigt werden. Die Nationale Taskforce hat die Aufgabe der Gesamtkoordination.

Die Aufgabe der Taskforce wird es sein, die Maßnahmen für einen effektiven Gesundheitsschutz mit einer graduellen Lockerung von Beschränkungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichenUmfeld zu verbinden. Dies umfasst:

Spezifische Maßnahmen für den Gesundheitsschutz

Im Rahmen der risikoadaptierten Strategie sind folgende Vorkehrungen zu treffen, wobei hier ein besonderes Augenmerk auf den Schutz von Risikogruppen zu legen ist:

  • Umfassende Information und Schulung zu den erforderlichen Hygienemaßnahmen;
  • Breite Information und verbindliche Vorgaben zur Verwendung von Schutzausrüstungen (adaptiert nach Risikobereichen);
  • Koordinierte, großflächige Testungen zur Überwachung der Ausbreitung des Erregers und des Anstiegs der Immunität in der Bevölkerung;
  • Wiederherstellung der umfassenden und uneingeschränkten medizinischen Versorgung der Bevölkerung.

An Einzelmaßnahmen sind dringlich zu organisieren:

  • Die massive Steigerung der Produktion von Schutzkleidung und -masken in Deutschland;
  • Die Sicherung von Produktionskapazität für Impfstoffe und Medikamente in Deutschland;
  • Die regionale und überregionale Koordination der Beatmungskapazität, Benennung von Schwerpunktzentren und die Stabilisierung des bedarfsgerechten Ausbaus;
  • der Auf- und Ausbau einer IT-basierten Struktur zur Koordination und Strategieplanung.

Maßnahmen für Gesellschaft und Wirtschaft

An Maßnahmen im gesellschaftlichen Bereich sind dringlich zu ergreifen:

  • Stärkung der Kapazitäten und Erweiterung der Finanzierungsmöglichkeiten von Hilfen/
  • Begleitung für Personen aus Risikogruppen;
  • Stärkung der Kapazitäten und Erweiterung der Finanzierungsmöglichkeiten für die Bewältigung von psychischen und sozialen Folgeschäden der oben genannten einschränkenden Maßnahmen (psychotherapeutische Hilfen, Beratungsangebote, Bildungsförderung, etc.).

Grundsätzlich sollten bei der graduellen und risikoadaptierten Öffnung die folgenden vier Kriterien berücksichtigt werden:

  • Risiko der Ansteckung mit SARS-Cov-2
  • Risiko einer schweren COVID-19-Erkrankung
  • Relevanz des jeweiligen Bereiches der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens
  • Möglichkeit der Einführung und des Einhaltens von Schutzmaßnahmen

Die konkreten Maßnahmen können sich unterscheiden nach (1) Regionen, (2) Personengruppen, (3) Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und (4) wirtschaftlichen Sektoren.

Bei der differenzierten graduellen Öffnung muss die starke Vernetzung der gesellschaftlichen Bereiche, Unternehmen und Sektoren untereinander berücksichtigt werden. Das begrenzt die Möglichkeiten sinnvoller Differenzierung. Der Versuch, die Wiederaufnahme der Produktion zentral zu steuern, hätte planwirtschaftlichen Charakter und würde in der Praxis nicht funktionieren.

Diese Wiederaufnahme muss vorrangig von den Einrichtungen und Unternehmen selbst gesteuert werden. Die Taskforce kann hier nur Rahmenbedingungen und Kriterien empfehlen.

Für Entscheidungen über die Differenzierung von Öffnungsschritten sollten – unter Beachtung der Vorsichtsmaßnahmen des Gesundheitsschutzes – folgende Kriterien gelten:

  • Sektoren mit niedriger Ansteckungsgefahr, z.B. hochautomatisierte Fabriken, und weniger vulnerablen Personen, z.B. Kindertagesstätten und Schulen, sollten zuerst geöffnet werden;
  • Komplementaritäten zwischen Sektoren sind zu berücksichtigen. Beispielsweise können viele Menschen mit Kindern nicht zur Arbeit gehen, wenn Kindertagesstätten und Schulen geschlossen sind;
  • Sektoren, in denen gut mit Homeoffice und digitalen Techniken gearbeitet werden kann, haben weniger Priorität als Sektoren, in denen das nicht geht;
  • Hohe Wertschöpfung, wie sie insbesondere Teile des verarbeitenden Gewerbes aufweisen, sollte als Kriterium für prioritäre Öffnung berücksichtigt werden;
  • Beschränkungen, die hohe soziale oder psychische Belastungen implizieren, sollten vorrangig gelockert werden;
  • Regionen mit niedrigeren Infektionsraten und weniger Verbreitungspotential können eher geöffnet werden;
  • Nach Ausbildung von natürlicher Immunität können vor allem Bereiche und Regionen mit einer hohen Immunität geöffnet werden;
  • Regionen mit freien Kapazitäten in der Krankenversorgung können eher geöffnet werden.

Kommunikation

Ein differenzierter Stufenplan ist hochkomplex und das Gefühl der Bedrohung in der Bevölkerung sehr real. Um die Bevölkerung‚ die sich in einer kritischen Situation sieht, ‚mitzunehmen‘, ist eine sachliche, einheitliche, überzeugende und mit unserem Wertesystem in Einklang stehende Kommunikation erforderlich.

Die Kommunikation sollte ein Wir-Gefühl fördern, realistisch und transparent sein. Sie darf Risiken weder verharmlosen noch übertreiben.

Es sollte auch kommuniziert werden, dass die Rückkehr zur Normalität aller Wahrscheinlichkeit nach nur langfristig und mit bedeutsamen Anstrengungen und Kosten erreicht werden kann. Es wird aber umso besser gelingen, je mehr ein differenziertes, risikoangepasstes und entschlossenes Vorgehen von der gesamten Bevölkerung getragen und durch staatliche Maßnahmen unterstützt wird

Die Beschäftigten in den zu öffnenden Sektoren müssen bereit sein, die Arbeit wieder aufzunehmen. Das setzt vor allem ein hinreichendes Vertrauen in die weiter laufenden Maßnahmen der Pandemiebekämpfung voraus.

Planungen für die stufenweise Wiederaufnahme der Tätigkeit/Produktion müssen hinreichend früh vorliegen und kommuniziert sein, damit die betroffenen Akteure, etwa Unternehmen und Bildungseinrichtungen, eigene Vorkehrungen für die Öffnung beginnen können.

Ohne derartige Vorbereitungen kann eine risikoadaptierte Strategie nicht die erwünschte Wirkung entfalten. Die Umsetzung der hier beschriebenen Strategie ist zweifellos herausfordernd. Gleichwohl können die anstehenden Aufgaben mit Zuversicht begonnen werden. Kaum ein Land verfügt über so gute Voraussetzungen und Ressourcen wie Deutschland, um die Corona-Pandemie erfolgreich zu bestehen.

Diese Empfehlungen gehen vom Stand der Wissenschaft Anfang April 2020 aus und müssenselbstverständlich unmittelbar angepasst werden, wenn auf Grund neuer wissenschaftlicher Ergebnisse eine Änderung des diagnostischen und/oder therapeutischen Vorgehens in medizinischenFragen bzw. entsprechende Änderungen in anderen Sektoren indiziert sind.

Coronavirus-Pandemie-Strategie Fuest Lohse et al 2. April 2020

Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19: Datenbasis verbessern – Prävention gezielt weiterentwickeln – Bürgerrechte wahren

Präambel

Der vorliegende Text stellt sich der Aufgabe, die epidemiologische Problemlage wissenschaftlich zu klären und aus der gegebenen Situation Empfehlungen für wirksame Präventionsmaßnahmen abzuleiten. Die Vorschläge zur Prävention werden in einen gesellschaftspolitischen Rahmen gestellt, der für die Autoren in einem unauflösbaren Zusammenhang mit den geschilderten Sachverhalten steht. Dem umfangreichen analytischen Teil wird eine kürzere Zusammenfassung vorangestellt, die eine schnelle Orientierung über die vertretenen Standpunkte ermöglichen soll. Wie für ein Thesenpapier nicht anders zu erwarten, werden die wichtigsten Ergebnisse zu drei Thesen mit entsprechenden Unterpunkten verdichtet, die wortgleich in der Zusammenfassung und am Ende der jeweiligen Kapitel zu finden sind.

Die Autoren bemühen sich um eine klare Benennung der Fakten und Probleme. Sie verbinden hiermit keine Kritik an den handelnden Personen, die in den zurückliegenden Wochen unter den Bedingungen einer – die Steigerung sei erlaubt – „noch unvollständigeren Information“ entscheiden mussten als dies heute der Fall ist. In jeder Beziehung sind die Ausführungen dieses Thesenpapiers als konstruktive Beiträge gedacht, die den Zweck verfolgen, die Entscheidungen der kommenden Wochen zu unterstützen.

Zusammenfassung

Die Bedrohung durch SARS-CoV-2/Covid-19 macht ein Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft notwendig. Eine sinnvolle Beratung der politischen Entscheidungsträger muss mehrere wissenschaftliche Fachdisziplinen umfassen, wobei die diagnostischen Fächer (hier: Virologie), die klinischen Fächer (hier: Infektiologie, Intensivmedizin) und die Pflege ganz im Vordergrund stehen sollten.

Da eine Epidemie jedoch nie allein ein medizinisch-pflegerisches Problem darstellt, sondern immer auf die aktuelle Verfasstheit der gesamten Gesellschaft einwirkt und auch nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu bewältigen ist, erscheint zusätzlich eine Mitwirkung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft unverzichtbar.

Entscheidend ist hierbei die Einsicht, dass notwendige Verhaltensveränderungen auf Ebene der Bevölkerung und in den Institutionen (denen bei Covid-19 besondere Bedeutung zukommt) nie allein durch eindimensionale Einzelinterventionen (z.B. gesetzliche Vorschriften), sondern nur durch Mehrfach- bzw. Mehrebeneninterventionen erreicht werden können, zu denen eben auch psychologische, soziale, ökonomische und politische Maßnahmen zählen. …

Autoren

  • Dr. med. Matthias Schrappe, Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit
  • Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin
  • med. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen Hamburg/Bremen
  • Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin
  • Dr. phil. Holger Pfaff, Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds
  • Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit

Thesenpapier Corona Prof. Dr. med. Schrappe et al

Endversion vom 5. April 2020