Der Corona-Crash: Die zweite Eurokrise?

Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe Mai 2020

Von Steffen Vogel

Der Corona-Crash: Die zweite Eurokrise?

Es waren starke Worte, die Ursula von der Leyen Ende März im aus Infektionsgründen fast leeren Plenarsaal des Europaparlamentes fand: „Die Geschichte schaut auf uns. Lassen Sie uns gemeinsam das Richtige tun – mit einem großen Herzen, nicht mit 27 kleinen.“[1] Die Kommissionspräsidentin reagierte damit auf einen beschämenden Mangel: In den ersten Tagen nach Ausbruch der Corona-Pandemie in Europa, dem größten Schock seit dem Zweiten Weltkrieg, war von Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nichts zu spüren.

Die Regierungschefs behandelten die Krise zunächst als eine rein nationale, ganz so, als ob Viren in unseren vernetzten Gesellschaften an den eilig abgeriegelten Grenzen halt machen würden. Selbst als Italiens Botschafter bei der EU Ende März um Schutzmasken für sein schwer getroffenes Land bat, kassierte er nur Absagen; Deutschland beispielsweise hatte zwischenzeitlich einen Exportstopp verhängt. Schließlich besannen sich die anderen Europäer zwar eines Besseren, aber da hatte China – das Italien in seine Neue Seidenstraße einbinden möchte – schon öffentlichkeitswirksam geliefert. Europa versagte in jenen Tagen nicht nur menschlich und politisch, sondern auch geostrategisch.

Seither hat es viele Solidaritätsappelle aus allen Ecken der EU gegeben. Doch so sehr sich Europas Regierungen darüber einig sind, dass diese Krise für die EU eine „Bewährungsprobe“ (Angela Merkel) darstellt, so umstritten bleibt doch, wie eine europäische Antwort aussehen soll. Besonders in der Eurozone prallen auch nach mehreren Videokonferenzen die Gegensätze immer noch hart aufeinander, gipfelnd im Streit um Coronabonds. So fehlt es bislang an einem starken Signal der Einheit an die Bürger des Kontinents, aber auch an die nervösen Finanzmärkte. Das aber ist hochgefährlich, könnte es doch die wütende Abwendung vieler Europäer von der EU zur Folge haben. Aus der Corona- droht damit eine zweite Eurokrise zu werden, die noch schwerer zu bewältigen wäre als die erste – wenn überhaupt.

Schon die erste Eurokrise, die vor zehn Jahren begann, war ganz wesentlich eine Folge politischen Scheiterns: Das Fehlen einer schnellen, solidarischen Antwort auf die finanziellen Probleme Griechenlands führte 2010 zu Unruhe auf den Finanzmärkten, die auch andere südeuropäische Staaten mit sich riss und schließlich die Eurozone als ganze bedrohte – und mit ihr die EU.

Im Fokus standen schon damals die rezessionsgeplagten Mitglieder Italien und Spanien, die als dritt- und viertgrößte Volkswirtschaft des Euroraums zu groß waren, um notfalls mit europäischen Krediten vor einem Staatsbankrott geschützt zu werden. Erst als Mario Draghi, seinerzeit Chef der Europäischen Zentralbank, im Herbst 2012 ankündigte, zur Not unbegrenzt Staatsanleihen kriselnder Eurostaaten anzukaufen, beruhigte sich die Lage – zumindest ökonomisch, nicht aber politisch. Denn die maßgeblich von Deutschland forcierten Kreditauflagen – radikale Austeritätspolitik mit ihren dramatischen gesellschaftlichen Folgen – hatten einen Keil zwischen die Euroländer getrieben, was 2015 zum letztlich vergeblichen Aufbegehren Griechenlands führte.[2] Die fatale politische Spaltung jener Jahre wirkt bis heute nach und prägt ganz entscheidend die unterschiedlichen Reaktionen auf die Coronakrise.

Dabei rächt sich, dass die Eurozone in den Jahren seit 2015 keine Institutionen geschaffen hat, um eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik zu betreiben. Ein europäischer Finanzminister etwa – von Frankreich gefordert, von Deutschland blockiert – hätte eine gesamteuropäische Lösung präsentieren können und damit eine wirtschaftspolitische Debatte angestoßen, statt wie jetzt einen Streit zwischen Nationen. Dabei tritt mit aller Heftigkeit ein ungelöster Grundsatzkonflikt zu Tage: Nach wie vor begreifen etwa die Regierungen Deutschlands und der Niederlande ökonomische Krisen nicht primär als Ausdruck struktureller Defizite in Europa, sondern als Ergebnis eines politisch-moralischen Versagens der betroffenen Länder. Südlicher Schlendrian habe demnach zur Überschuldung Griechenlands oder Italiens geführt. Daher wollen sie selbst jetzt in einer akuten Notlage nicht für ihre Nachbarn haften. Denn wer das damit verbundene finanzielle Risiko eingehe, so ihr traditionelles Kernargument, müsse auch Kontrollbefugnisse haben. Besonders unverblümt zeigte sich dies jüngst in den Worten des niederländischen Finanzministers Wopke Hoekstra. Der Christdemokrat hatte allen Ernstes eine Untersuchung darüber gefordert, warum manche südeuropäischen Staaten so schlecht auf die Pandemie vorbereitet gewesen seien.

Wen wundert es da, dass viele Südeuropäer die derzeitige Debatte um die Grenzen der europäischen Solidarität angesichts des massenhaften Sterbens in ihren Ländern schlicht als hartherzig und kleinlich empfinden. Deutlich wurde dies im empörten Ausbruch des spanischen Premierministers Pedro Sánchez in einer Videokonferenz der EU-Regierungschefs gegenüber Angela Merkel: „Begreifen Sie denn nicht, welchen Notstand wir hier erleben?“[3] Sánchez und andere verlangen ein starkes Zeichen, dass die Staaten der Eurozone nicht nur in einem Boot sitzen, sondern sich ihren Sitznachbarn auch verpflichtet fühlen.

Geteilte Lasten

Ein solches Signal wären – neben den schon vereinbarten europäischen Kreditlinien für Unternehmen und dem Kurzarbeitergeld – vor allem jene Coronabonds, gegen die sich Berlin und Den Haag sperren. Von neun Eurostaaten werden sie mit enormer Vehemenz gefordert – darunter neben den Südeuropäern auch westeuropäische Länder wie Belgien, Luxemburg und vor allem Frankreich.

Die Eurostaaten würden mit diesen Bonds gemeinsame Anleihen auflegen und dafür dank der deutschen Kreditwürdigkeit nur niedrige Zinsen zahlen. Bislang müssen hochverschuldete Eurostaaten wie Italien auf den Finanzmärkten im Vergleich zu Deutschland Aufschläge in Kauf nehmen. Diese sogenannten Spreads steigen derzeit wieder, da Anleger angesichts der enormen Lasten, die auf Italien zukommen, zunehmend nervös werden. Damit drohen Rom deutlich höhere Kosten für den Wiederaufbau. Die „Financial Times“ bringt diese Gefahr so auf den Punkt: „Solange die Eurostaaten nicht das Risiko teilen, werden sich Investoren gezwungen sehen, sich auf das finanzielle Risiko jedes einzelnen Landes im Kampf gegen die Pandemie zu fokussieren.“[4] Im schlimmsten Fall steigen die Aufschläge derart, dass Länder wie Italien nicht genügend Mittel aufnehmen können, um die Krise zu bewältigen. Sie blieben dann für Jahre in einer Dauerkrise gefangen.

Aus diesem Grund taugt auch die Lösung nicht, die Berlin und Den Haag ins Feld führen: Kredite aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Der ESM wurde in der Eurokrise geschaffen, daher rührt auf den Märkten sein Ruf als Notfallinstrument. Wer sich jetzt an ihn wendet, „wird automatisch als offizieller Pleitekandidat gebrandmarkt“, so die Finanzökonomin Doris Neuberger.[5] Zudem reichen die Mittel des ESM nicht aus, um die enormen Kosten des Wiederaufbaus zu stemmen. Und Kredite erhalten die besonders betroffenen Staaten derzeit schon von der EZB. Was sie jetzt aber brauchen, sind „Finanztransfers“, wie selbst der arbeitgebernahe Ökonom Michael Hüther treffend feststellt.[6] Das würde es den Regierungen ermöglichen, die nötigen milliardenschweren Investitionen in ihre pandemiegeschädigte Wirtschaft zu tätigen, ohne ihre Schulden noch weiter zu vergrößern und sich dadurch langfristig weiter zu schwächen. Europäische Bonds wären dafür die wirkungsvollste Lösung: Die Eurostaaten nähmen dann gemeinsam zu niedrigen Kosten Kredite auf und würden sie auf eine Weise untereinander verteilen, die dem erhöhten Bedarf von Ländern wie Italien und Spanien entspricht. Diese Lastenteilung käme letztlich allen zugute, weil sie die Eurozone stabilisieren würde.

Das gilt nicht nur in ökonomischer, sondern auch in politischer Hinsicht. Besonders deutlich zeigt sich das in Italien. Das Gründungsmitglied der EU war das erste Epizentrum der Pandemie außerhalb Asiens und lebt seither mit täglichen Schreckensmeldungen über Triage in Krankenhäusern, vom Virus dahingeraffte Ärztinnen und Pfleger sowie einsame Begräbnisse.

Es ist aber auch ökonomisch und politisch besonders verwundbar: Italien erlebt seit 2008, dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, schon seine dritte Rezession und ist mit 135 Prozent seiner Wirtschaftsleistung hochverschuldet. Zudem hat das Land jahrelang auf Brüsseler Druck gespart, gerade auch im Gesundheitssektor. Dort wurden zwischen 2009 und 2017 mehr als 46 000 Stellen gestrichen, so dass nur noch 5,8 Krankenpfleger auf tausend Einwohner kommen, in Deutschland sind es immerhin 12,9. Auch die Krankenhäuser sind schlechter ausgestattet als bei den nördlichen Nachbarn: Zu Beginn der Pandemie standen in Deutschland 33,9 Intensivbetten pro 100 000 Einwohner zur Verfügung, in Italien nur 8,6.[7] Diese Kürzungen werden in Italien oft als deutsches Diktat begriffen. Jetzt lösen sie bei vielen Wut aus, nach dem Motto: Erst zwingt uns Deutschland zu Austerität, dann will es uns keine Atemschutzmasken schicken und schließlich verweigert es uns auch noch Coronabonds.

Die rechtsradikale Lega um ihren Chef Matteo Salvini setzt bereits alles daran, diese Wut weiter zu schüren und auszubeuten. War Salvini zu Beginn der Pandemie noch abgemeldet, weil seine Kritik am souverän agierenden Premierminister Giuseppe Conte schlecht ankam, so nutzt er jetzt die harte Haltung in Berlin und Den Haag für spaltende Polemik. ESM-Kredite geißelt er als „Ausverkauf unserer Zukunft“, auch deswegen gelten sie im Land als „toxisch“.[8] Das fällt ihm umso leichter, als die demütigende Behandlung Griechenlands, das in der Eurokrise ESM-Kredite beantragen musste, durch die europäischen Gläubiger in Italien – und nicht nur dort – noch derart präsent ist, dass Salvini erfolgreich an die Angst vor ökonomischer Fremdherrschaft anknüpfen kann.

Conte drängt also auch aus politischen Gründen auf Coronabonds. Denn die europäische Zukunft seines Landes ist alles andere als garantiert. Seit der Eurokrise wächst in Italien die Skepsis an der EU – und diese haben Berlin und Den Haag nun nochmals erheblich gesteigert: Mittlerweile sind 49 Prozent der Italiener für einen EU-Austritt ihres Landes, im vergangenen November waren es bloß 29 Prozent. Ein italienischer Exit aber wäre, ganz im Gegensatz zum letztlich stabilisierend wirkenden Brexit, für Euro und EU kaum verkraftbar. Salvini, dessen Lega nach wie vor die Umfragen anführt, hat wiederholt mit einem Austrittsreferendum kokettiert. Sollte er die nächste Wahl gewinnen, könnte er diese Ankündigung wahrmachen.

Eine tödliche Gefahr

Es ist daher nicht übertrieben, wenn der inzwischen 94jährige große Europäer Jacques Delors warnt, „der Mangel an europäischer Solidarität“ bilde „eine tödliche Gefahr für die Europäische Union“.[9] Zwar mag die zitierte Umfrage eine Momentaufnahme sein, aber solche negativen Dynamiken können sich verstetigen, besonders im Fall einer anhaltenden Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit und verbreiteten Abstiegsängsten.

Umso fataler ist die harte Haltung von Merkel und ihrem niederländischen Amtskollegen Mark Rutte. Merkel fürchtet zwar nicht ohne Grund den Widerstand aus konservativen Kreisen gegen Coronabonds – und deren mögliche Hinwendung zur AfD –, doch selbst im haftungs- und austeritätsfixierten Deutschland wird die Debatte inzwischen offener geführt als noch vor zehn Jahren: Auch prominente CDU-Politiker wie Norbert Lammert und Elmar Brok plädieren für Coronabonds – die Kanzlerin wäre also auch im eigenen Lager nicht isoliert. Ruttes Regierung wiederum versucht, die vakante britische – euroskeptische und marktradikale – Position auszufüllen: Sie opponiert auch deshalb gegen Coronabonds, weil sie den Einstieg in eine europäische Finanzpolitik verhindern will. Genau dies ist aber überfällig: Die EU ist längst nicht mehr nur ein Bündnis einzelner Staaten, die allein für ihre wirtschaftliche Lage verantwortlich sind. Vielmehr hat sie gemeinsame Institutionen ausgeprägt, von denen insbesondere die gemeinsame Währung auch eine gemeinsame Politik erfordert, inklusive gemeinsamer Haftung. In diesem Sinne betrachtet etwa der OECD-Generalsekretär Coronabonds als nötigen weiteren Schritt der europäischen Integration.

Doch selbst wenn europäische Bonds – wie derzeit gefordert – nur zeitlich befristet aufgelegt werden, könnte dies für Deutschland mit Kosten verbunden sein. Diese verblassen jedoch vor den ungleich höheren Kosten einer zweiten Eurokrise: „Wir sind nicht mehr der reiche Norden, wenn der ganze Süden umkippt“, warnte jüngst der ehemalige Präsident der niederländischen Zentralbank, Nout Wellink,[10] und erinnerte damit daran, wie sehr ausgewiesene Handelsnationen wie Deutschland und die Niederlande von einem stabilen Europa abhängen.

Eine gemeinsame Haftung ist daher das Gebot der Stunde. Denn eines steht fest: In diesen harten Zeiten helfen Europa keine technokratischen Kompromisse und keine blumigen Appelle – sondern nur spürbare Solidarität.

[1] Vgl. Karoline Meta Beisel und Björn Finke, Appell vor dem Videogipfel, in: „Süddeutsche Zeitung“, 27.3.2020.

[2] Vgl. Steffen Vogel, Grexit verhindert, Europa verspielt?, in: „Blätter“, 8/2015, S. 5-8.

[3] Vgl. Carlos E. Cué und Bernardo de Miguel, Michel: „¿Tenemos acuerdo, Pedro?” Sánchez: „No. Así es inaceptable.” Así fue la tensa cumbre de la UE, www.elpais.com, 28.3.2020.

[4] Tommy Stubbington, Italian debt sinks after ‚corona bond’ plan falters, www.ft.com, 15.4.2020.

[5] Vgl. Ulrike Herrmann, Tausend Ökonomen gegen Merkel, in: „taz“, 5.4.2020.

[6] Vgl. „Ein Lackmustest für europäische Solidarität“, Interview mit Michael Hüther, www.deutschlandfunk.de, 28.3.2020.

[7] Thomas Fritz, Corona-Krise: Wie deutsche PolitikerInnen den Gesundheitsnotstand in der EU verschärften, www.saveourservices.de, 2.4.2020.

[8] Federico Fubini, Nel gioco delle alleanze europee è Macron che ha la carta decisiva, in: „Corriere della Sera”, 4.4.2020.

[9] Sophie de Ravinel, Le manque de solidarité est un „danger mortel“ pour l’Europe, selon Jacques Delors, www.lefigaro.fr, 28.3.2020.

[10] Martin Visser, Wellink: Italië helpen, of gevaar dat EU uiteenvalt, www.telegraaf.nl, 30.3.2020

Die Corona-Krise in historischer Perspektive – Offener Brief an die Regierungen der Mitgliedsländer und die Institutionen der EU

VON MASSIMILIANO LIVI · 6. APRIL 2020

Von: Carlo Spagnolo – Vito Gironda – Christian Jansen – Massimiliano Livi

 Die Corona-Krise in historischer Perspektive – Offener Brief an die Regierungen der Mitgliedsländer und die Institutionen der EU

Das folgende Dokument ist das Ergebnis einer Diskussion der ersten vier Unterzeichner über die Bedeutung der Haltung der Historiker*innen gegen aktuelle antideutsche Ressentiments, die durch historische Narrative untermauert wird, die nicht nur gefährlich sind, sondern auch irreführend sind.
Umgekehrt werden nicht nur in Deutschland „tugendhafte“ Länder, die wenig Staatsschulden haben, den „verantwortungslosen“ Süd-Ländern gegenübergestellt. Dies beunruhigt uns sehr, weil wir uns professionell mit der deutschen und italienischen Geschichte und ihren vielfältigen Verflechtungen beschäftigt haben und daher wissen, wie sehr das Verhältnis zwischen Italien und Deutschland die kontinentale Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, aber auch weil solche Verzerrungen eine Verfestigung nationaler Stereotype und nationalistischer Engstirnigkeit in der öffentlichen Meinung bewirken können. Dies gilt es zu vermeiden.

Wir wollen mit unserem Offenen Brief die Regierungen und Institutionen in der gesamten EU darauf hinweisen, dass ohne mutige Entscheidungen und ohne ein vorausschauendes und beispielloses Eingreifen der EU die heutige Krise zu einem demokratischen Notstand führen könnte.

Als Historiker sehen wir mit Besorgnis den vielfachen Rückgriff auf nationale Stereotype angesichts eines Notstands, der eine distanzierte Analyse und eine langfristige Vision erfordert. Derzeit erleben wir eine ernste Krise: nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine soziale und wirtschaftliche Krise. Sie betrifft alle europäischen Länder.

Wenn das BIP für jeden Monat des Shutdown um 2,5% sinkt, wird es in den am stärksten vom Virus betroffenen EU-Ländern eine Rezession von mindestens 7,5% geben; bis zum Ende des Jahres wird in Italien mit einem Rückgang von 10% des BIP gerechnet. Nach der bereits erlebten Rezession von 2008 bis 2011 könnte dies fatal sein. Dies könnte für die bereits geschwächten Länder bedeuten, aus dem Euro herausgedrängt zu werden. Eine Bankenkrise könnte ganz Südeuropa betreffen, wird aber auch die anderen Länder nicht unberührt lassen. Ein zu pessimistisches Szenario?

All diejenigen, die wissen, wie sich in der Vergangenheit immer wieder Krisen in Tragödien verwandelt haben (z.B. 1914 in Europa), sollten versuchen, die öffentliche Debatte auf ein höheres, europäisches Niveau zu bringen, anstatt in nationale Stereotype zurückzufallen.

Die Partner der EU stehen vor schwierigen und wahrscheinlich unumkehrbaren Entscheidungen, kurz gesagt, wir alle stehen vor einer Situation, die ohne Übertreibung als historischer Wendepunkt bezeichnet werden kann.

Zusammen mit den Ungleichgewichten einer Globalisierung, die den Finanzen Vorrang vor der Realwirtschaft einräumt, rücken einige ungelöste Fragen des Maastricht-Vertrags und der Wirtschafts- und Währungsunion in den Vordergrund. Zoll- und Währungsunionen ohne politische Einheit werden früher oder später scheitern. Wenn die strukturellen Asymmetrien, die der Gesundheitsnotstand zusätzlich verschärfen wird, nicht überwunden werden, könnte die Union zusammenbrechen.

Was kann unsere Aufgabe als Historiker sein?

Wir sollten betonen, dass einerseits das wiedervereinigte Deutschland nicht vergessen darf, dass seine ökonomische Prosperität auf einem Entgegenkommen der Sieger im Kontext des Kalten Krieges basiert (Londoner Schuldenabkommen, Aufnahme in die EWG) und dass es im Zentrum Kontinentaleuropas in hohem Maße von der europäischen Einigung profitiert hat, aber auch eine besondere historische Verantwortung trägt.

Andererseits müssen Frankreich, Spanien und Italien deutlich machen, dass sie auf eigenen Füßen stehen und ihren besten demokratischen Traditionen gerecht werden können. Wenn diese ausgewogene Perspektive verloren geht, leidet der ganze Kontinent.

Die abnehmende Bedeutung Europas in der globalisierten Welt ist ein unumkehrbares historisches Phänomen. Deshalb müssen die EU-Mitglieder erkennen, dass sie nur gemeinsam über einen ausreichend großen Binnenmarkt verfügen, um gegen diesen Trend ihren Wohlstand zu halten und sich gegen anderen global Players wie China, die USA, Indien usw. zu behaupten. Kurzfristig können einzelne Staatengruppen zwar allein aus der Krise herauskommen, langfristig werden sie sich dem Niedergang nur gemeinsam entgegenstellen können. Wenn die Fäden Europas (nicht nur der EU) wieder einmal zerrissen werden, geraten wir in Konflikte, die uns Historiker*innen aus unserer Beschäftigung mit der Vergangenheit nur zu vertraut sind.

Zwei Weltkriege und die europäischen Faschismen sollten uns deutlich gemacht haben, dass die Rezepte des 19. und 20. Jahrhunderts (Imperialismus, Nationalismus, Rassismus und Rivalitäten innerhalb Europas) keine Lösungen verheißen und den Niedergang Europas beschleunigt haben. Nach 1945 war der Preis dafür die Teilung des Kontinents und die Vorherrschaft zweier imperialer Supermächte.

Die Bundesrepublik Deutschland sollte nicht vergessen, dass sie von den Verbündeten wiederaufgebaut wurde, um dem Westen in einer antikommunistischen, demokratischen Konkurrenz zu dienen. Auch die europäische Integration hatte ihre Wurzeln in diesem Kontext und hat die liberalen Demokratien in Deutschland und Italien stabilisiert. Im europäischen Umbruch von 1989-1991 wurde die Gelegenheit verpasst, eine echte europäische Verfassung zu erarbeiten und damit die Dynamik jener Jahre zu nutzen, um eine politische Union voranzubringen und der europäischen Integration eine demokratische Legitimation zu verleihen.

Wenn einerseits das moralistische Argument, Deutschland solle nun die von den Westmächten 1953 erlassenen Reparationen doch noch zahlen, heute unsinnig ist (vor allem wenn es von ex-faschistischen Ländern unterstützt wird),

so ist andererseits die Weigerung der „tugendhaften“, weniger verschuldeten Staaten ebenso unangemessen, die ungleich verteilten Vorteile des gemeinsamen Marktes anzuerkennen und stattdessen weitere Sparmaßnahmen für Länder zu fordern, die seit vielen Jahren unter harten Wohlfahrtseinschnitten gelitten haben, nicht zuletzt dem jetzt auf dramatische Weise spürbaren Abbau im Gesundheitswesen.

Die Lehren aus der Geschichte müssen auf einer allgemeineren Ebene gezogen werden:  Die Erinnerung an die umfassende moralische, ökonomische und soziale Zerstörung unseres Kontinents im Jahr 1945 aufgrund der nationalistischen und rassistischen Hybris der faschistischen Staaten – allen voran Italiens und Deutschlands – muss als Dreh- und Angelpunkt einer gemeinsamen europäischen Verpflichtung gegenüber Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Frieden verstanden werden. Ihr müssen auch die Wirtschaft und die finanziellen Institutionen gerecht werden.

Heute geht es darum, den Blick nach vorne zu richten, gemeinsame Standards bei Löhnen und Sozialleistungen zu garantieren, den jüngeren Generationen eine Zukunftsperspektive zu geben, und hierfür die EU mit Aufgaben zu betrauen, die die in einer vergangenen historischen Epoche entstandenen Nationalstaaten nicht mehr allein erfüllen können.

 Diese Aufgaben sind, kollektive Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, Telekommunikationsinfrastruktur, Grundlagenforschung usw. zu garantieren und dabei unabhängiger zu werden von den USA, China usw.. Es ist in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten Vieles gelungen. Aber dieser europäische Weg kann angesichts des wiederauflebenden Nationalismus nicht ohne eine neue demokratische Kooperation fortgesetzt werden.

Es geht also nicht nur um den Schutz der Gläubiger vor den Schuldnern. Sondern viel wichtiger ist es, über unsere gemeinsame Zukunft nachzudenken und die Mittel bereitzustellen, um sie zu verwirklichen. Es ist allen klar, dass die Schuldnerländer eine ernsthafte Verantwortung für die Ineffizienz ihrer Gesundheits- und Steuersysteme haben. Aber ebenso klar sollte sein, dass es kein kollektives Verschulden der Menschen in den Schuldnerländern gibt, so wie wir gelernt haben, dass es keine kollektive Schuld Faschismus und Krieg erklären kann.

Welche Schuld haben die Arbeitnehmer in den Schuldnerländern? Und sollten die reicheren Länder nicht die Asymmetrien anerkennen, die sie begünstigen (z.B. niedrigere Finanzierungskosten, die den Wettbewerb im Binnenmarkt verzerren)?

Warum werden die Löhne in Ländern mit sehr hohen Handelsüberschüssen niedrig gehalten, was die europäische Binnennachfrage drückt und die Solidarität zwischen den Arbeitnehmern verhindert?

Als Historiker*innen fordern wir die Regierungen und Institutionen der Europäischen Union dazu auf, die Gegenwart distanziert und differenziert, ohne nationalistische Scheuklappen und ohne Rückgriffe auf nationale Stereotype, zu betrachten und anzuerkennen, dass der gegenwärtigen Krise viele Warnzeichen vorausgegangen sind, die nicht beachtet wurden.

Die Unzulänglichkeiten einzelner Mitgliedsstaaten befreien die anderen Regierungen nicht aus ihrer moralischen Verantwortung der Europäischen Union gegenüber. Die Fäden der Demokratie und der europäischen Integration sind so eng miteinander verflochten, dass bei einem Scheitern der letzteren auch die erstere in Gefahr ist, was tatsächlich bereits der Fall ist.

Hoffen wir, dass nicht die Logik der unmittelbaren nationalen Interessen die Entscheidungen bestimmt, sondern eine langfristige Vision der für alle Bürger*innen Europas lebenswichtigen Bereiche, die von der Politik zu gestalten sind.

Wenn Politiker*innen ihrer Rolle als kreative Kompromisssucher nicht gerecht werden, können sie schnell zu „terribles simplificateurs“ (furchtbaren Vereinfachern) werden, wie der Historiker Jacob Burckhardt einmal formuliert hat, und apokalyptisch wirken.

Vermögensabgabe zur Bewältigung der finanziellen Folgen der Corona-Krise – Bundestagsgutachten

Quelle: Fokus – Montag, 27.04.2020

Gastbeitrag von Gabor Steingart

SPD und Linkspartei machen sich Gedanken über die Finanzierung der gewaltigen Ausgaben. Gedanken, die da ansetzen, wo das Denken der politischen Linke klassischerweise ansetzt: beim Portemonnaie der Vermögenden. Genau das tat einst auch ein Vater der Union.

Im Bundestag zirkuliert ein am 9. April vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages vorgelegtes Papier: Verfassungsmäßigkeit einer Vermögensabgabe zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona_Pandemie Gutachten Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag April 2020

In Auftrag gegeben wurde es vom stellvertretenden Vorsitzenden und finanzpolitischen Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, dem Deutsch-Italiener Fabio De Masi.

Die Deutsche Presseagentur hat mit einer irreführenden Überschrift – mutmaßlich aus Versehen – die politische Debatte um das Papier verhindert: „Gutachten: Zweifel an Zulässigkeit von Vermögensabgabe wegen Corona“, lautete die Überschrift, die zahlreiche Medien, darunter auch „Der Spiegel“ und das Fachportal „Finanzen.net“, genau so veröffentlichten.

Vermögensabgabe könnte direkt ins Depot der Reichen führen

In Wahrheit allerdings erfährt man bei genauer Lektüre des Gutachtens, dass die Wissenschaftler den Befürwortern einer Vermögensabgabe juristische Brücken bauen, die direkt in die Depots der Reichen führen könnten. So heißt es da:

  • „Dadurch, dass die Vermögensabgabe im Grundgesetz in Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 ausdrücklich normiert wurde, ist sie grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig.“
  • „Die Vermögensabgabe muss laut Verfassung eine einmalige Abgabe bleiben. Allerdings ist es zulässig, diese einmalige Abgabe über mehrere Jahre zu verteilen, wie es etwa bei den Lastenausgleichsabgaben im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes (LAG) von 1952 praktiziert wurde.“

In Teilen der Merkel-CDU wird die juristische Debatte nicht gänzlich ohne Sympathie verfolgt. Man weiß ja: Die Finanzierung der kostspieligen Corona-Subventions-Orgie, um das Wort der Kanzlerin aufzugreifen, wird das nächste große Thema der deutschen Innenpolitik. Mit einer Vermögensabgabe könnte man sich am Wahltag die Loyalität der sozialdemokratischen Wählermilieus sichern.

Megareiche opfern, Fabrikarbeiter gewinnen – das tat ein Vater der Union

Die politische Gleichung geht so: Man verliert die Familien Albrecht, Klatten und Otto – und gewinnt die Fabrikarbeiter.

Die Blaupause für einen solchen Substanzeingriff haben nicht Karl Marx oder Oskar Lafontaine geliefert, sondern der ehemalige Finanzminister Matthias Erzberger. Der Zentrumspolitiker – der also der direkten Vorgängerin der CDU angehörte – setzte das Reichsnotopfer nach dem für Deutschland verlorenen 1. Weltkrieg durch.

Erzberger wollte „soziale Befriedung der Nation“

Das Notopfer war in der Weimarer Republik eine Vermögensabgabe, die infolge der staatlichen Finanznot nach dem Weltkrieg in den Jahren 1919 bis 1922 erhoben wurde. Progressiv besteuert wurden Sach- und Realvermögen wie Bargeld, Bankguthaben, Forderungen, Wertpapiere, Aktien, Anleihen, Immobilien und Maschinen. Die Steuersätze starteten bei 10 Prozent und stiegen bis 65 Prozent für Vermögen über sieben Millionen Mark an.

Erzberger begründete den Eingriff eines konservativen Politikers in die Vermögenswerte mit der sozialen Befriedung der Nation:

  • „Der große Steuersouverän der Zukunft kann nur das einige Deutsche Reich sein.“
  • „Gerechtigkeit im gesamten Steuerwesen zu schaffen ist mein oberstes Ziel. Ein guter Finanzminister ist der beste Sozialisierungsminister.“

Zweite Vermögenssteuer wurde erst 1995 wieder abgeschafft

Im Jahr 1922 wurde diese Vermögenssteuer wieder abgeschafft – zugunsten einer Vermögenssteuer, die dann Hitler-Diktatur, Zweiten Weltkrieg, Neuanfang, DDR-Zusammenbruch und Wiedervereinigung überlebte. Erst 1995 wurde der Eingriff in bereits versteuerte Vermögenswerte vom Bundesverfassungsgericht wieder abgeschafft.

Den Namen Matthias Erzberger hält man im Finanzministerium bis heute in Ehren. Der größte Sitzungssaal ist nach dem Erfinder der Vermögensabgabe benannt.

SIPRI-Bericht: Rekordplus bei den Militärausgaben – Deutschland führend beim Wachstum in Westeuropa

Quelle: taz – Autor: Reinhard Wolff – taz-Auslandskorrespondent für Skandinavien und das Baltikum

STOCKHOLM taz | Auf 1.917.000.000.000 Dollar beliefen sich die weltweiten Militärausgaben 2019 – 1,9 Billionen. Ein Plus von 3,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr und damit der höchste jährliche Anstieg seit dem vergangenen Jahrzehnt. Wurden pro Kopf der Weltbevölkerung 249 Dollar (2018: 243 Dollar) für militärische Ausrüstung ausgegeben, bekam die öffentliche Entwicklungshilfe mit 21,83 Dollar weniger als ein Elftel davon.

Dem am Montag veröffentlichtem diesjährigen „Global Military Expenditure“-Rapport des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri ist auch zu entnehmen, dass wie immer in den mehr als drei Jahrzehnten, in denen Sipri solche Berichte publiziert, die USA mit weitem Abstand die Liste der Aufrüster anführen. 2019 standen sie allein für 732 Milliarden Dollar und damit 38 Prozent der globalen Militärausgaben. Die Steigerung führt Sipri vor allem auf die Rekrutierung von zusätzlich 16.000 Soldaten und die laufende Modernisierung des konventionellen und atomaren Waffenarsenals der USA zurück. Die USA als größtes Nato-Mitglied „heizen das weltweite Wachstum bei den Militärausgaben an“, konstatiert Sipri.

Das zweitplatzierte China, das mit 5,1 Prozent seine Ausgaben etwa im gleichen Takt wie die USA auf von Sipri geschätzte 261 Milliarden Dollar erhöhte, rangiert vor Indien, Russland und Saudi-Arabien mit jeweils 71 bis 61 Milliarden Dollar. Wenn für Indien erstmals die weltweit dritthöchsten Militärausgaben gemeldet werden, wird diese Entwicklung laut dem Sipri-Forscher Siemon T. Wezeman „von den Spannungen und Rivalitäten zwischen Indien, Pakistan und China angetrieben“.

In Westeuropa führt die Bundeswehr das Wachstum bei den Militärausgaben an. Während diese in Frankreich (50,1 Milliarden, Platz 6) und Großbritannien (48,7 Milliarden, Platz 8) in etwa unverändert waren, wuchsen sie im siebtplatzierten Deutschland gleich um 10 Prozent auf 49,3 Milliarden Dollar. Kein Staat unter den Top 15 auf der Sipri-Liste verzeichnet ein solches prozentuales Wachstum, Deutschland liegt mit diesem Anstieg doppelt so hoch wie der gesamteuropäische Durchschnitt von 5 Prozent.

Selbst Russland wandte mit 65 Milliarden 2018 nur knapp ein Drittel mehr für sein Militär auf als Deutschland. Das Wachstum der deutschen Ausgaben lässt sich laut Sipri „teilweise durch die Wahrnehmung einer erhöhten Bedrohung durch Russland erklären, die von vielen Nato-Mitgliedstaaten geteilt wird“. 2019 gaben alle 29 Nato-Staaten zusammen 1.035 Milliarden Dollar für das Militär aus, fast das 16-Fache Russlands

Covid-19: Vom Beginn einer Skepsis – Auf den Konsens folgt der Dissens

Quelle : Telepolis – 27. April 2020  

 

Unter den Jüngeren und besser Gebildeten schwindet allmählich die Akzeptanz gegenüber den verabschiedeten Corona-Maßnahmen. Zu diesem Befund kommt Psychologin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt. Seit Anfang der Krise versucht sie mit ihrer Forschungsgruppe das Stimmungsbild innerhalb der Bevölkerung zu ermitteln.

Dieses nun neuerdings „leicht sinkende Vertrauen in die Notstands-Maßnahmen“ dürfte sich maßgeblich über zwei unterschiedliche Faktoren erklären lassen: Erstens, dass die durch die Lockdown-Situation bedingte dauerhafte Anspannung psychologische Ermüdungserscheinungen nach sich zieht, und zweitens, dass sich gerade unter jungen und gebildeten Leuten die Risikowahrnehmung hinsichtlich Covid-19 verändert hat.

Abseits der Studien der Erfurter Gruppe um Betsch kommt auch das MDR-Meinungsbarometer zu einem ähnlichen Befund: Die Bevölkerung in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen stehe immer weniger hinter den von der Politik beschlossenen Maßnahmen – und dies trotz einer gleichbleibend hohen Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Politik.

Während anfänglich über mehrere Wochen ein breiter gesellschaftlicher Konsens hinsichtlich der Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus sowie der Notwendigkeit, rigoros Maßnahmen zu ergreifen, zu verzeichnen war, regt sich nun abseits der verschwörungstheoretischen Schmuddelecke seriöse Kritik aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen. Kritik, die das Potential hat, eine durch die Flüchtlingsdebatte ohnehin schon auseinanderdividierte Gesellschaft ein weiteres Mal zu spalten.

Nach Einschätzung des Publizisten Ramin Peymani wurde durch das Virus nicht nur das Immunsystem hunderttausender Menschen, sondern auch das Immunsystem der gesamten Gesellschaft befallen. In den gegenwärtigen Entwicklungen erkennt er die Entwicklung hin zu einer von Angst getriebenen Gesellschaft die in großen Teilen schon das Stellen kritischer Fragen verurteilt.

Der Chefredakteuer der „Augsburger Allgemeinen“ Gregor Peter Schmitz dürfte sich Peymanis Befund anschließen. Nach Zusendung hunderter wütender Zuschriften anlässlich eines kritischen Artikels resümiert er: „Wer als Journalist die aktuellen Schutzmaßnahmen auch nur hinterfrage, handele mindestens unsolidarisch, wenn nicht gar ungehörig.“ Und weiter: „[…] wir [müssen] Fragen aussprechen, statt sie als unaussprechbar abzuwürgen. Etwa: Was zur Hölle machen wir da gerade? Vergessen wir aus Angst vor dem Virus jede Abwägung? Und sollte uns nicht frösteln lassen, mit welcher Geschwindigkeit Grundrechte zur Disposition gestellt werden?“

Die Meldungen über eine neue Blockwart-Mentalität die sich in einer verstärkten Lust am Denunziantentum ausdrückt, scheinen sowohl Peymani als auch Schmitz hinsichtlich ihrer Einschätzungen recht zu geben. Denn hinter der selbst vom Bundesinnenministerium jüngst befürchteten Verrohung der Gesellschaft im Allgemeinen und dem Denunziantentum im Speziellen steht der offenkundige Wunsch, dass kritische Stimmen einerseits und als abweichend wahrgenommenes Verhalten im Alltag andererseits zum Wohle eines größeren Ganzen sanktioniert werden müssen.

Susann Gaschke geht in einem Meinungsbeitrag für die „Welt“ noch einen Schritt weiter. Sie spricht von einer neuen Ideologie, die die Gesellschaft spaltet sowie Familien, Kollegen und Freunde entzweit. Ihre Diagnose lautet:

Wer sich über die widersprüchlichen Botschaften des Robert-Koch-Instituts irritiert zeigt oder Fragen zu willkürlich erscheinenden Maßnahmen der Ordnungsmacht stellt, entlarvt sich als Ungläubiger. Höchstwahrscheinlich will er alte Leute umbringen, zugunsten von Wirtschaftswachstum oder Party-Hedonismus.

Susann Gaschke

Mit guten Gründen kann also unterstellt werden, dass sich aktuell eine neue Konfliktlinie zwischen Befürwortern und Skeptikern der verlängerten Maßnahmen in der innerdeutschen Diskurslandschaft herauskristallisiert. Genährt wird diese Konfliktlinie durch das tägliche Anwachsen kritischer Stimmen aus Wissenschaft, Politik, Medizin, Wirtschaft, Journalismus und Recht. Im Folgenden soll anhand einiger weniger charakteristischer Beispiele skizziert werden, welche Widersprüche gegenwärtig im diskursiven Raum verortbar sind und wie diese Widersprüche die angesprochene Konfliktlinie konstituieren.

Streit um Grund für das Absinken der Reproduktionszahl

Die derzeit wohl hitzigste Debatte kreist um eine vom Robert-Koch-Institut veröffentliche Grafik im Epidemiologischen Bulletin 17/2020. Konkret thematisiert diese Grafik den Kurvenverlauf der Reproduktionszahl R – ein zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewichtiger Wert, der regierungsseitig als zentral hinsichtlich der Lockerung der Maßnahmen kommuniziert wurde.

Die effektive Reproduktionszahl R ist ein Schätzer, der Auskunft darüber geben soll, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Daraus folgt plausiblerweise: Ein stabiler Wert weit unter 1 wäre langfristig optimal. Gelingt dies, so wären auch Lockerungen denkbar.

Die vom RKI veröffentliche Grafik zeigt nun, dass R schon vor dem 23.03 – dem Tag der Inkraftsetzung der Maßnahmen – nämlich am 20.03 unter 1 rutschte. Auf Basis dieser Grafik schlussfolgten im Anschluss diverse Autoren (darunter u.a. Stefan Homburg, Professor für Öffentlichen Finanzen an der Universität Hannover), dass die Maßnahmen nicht wirksam gewesen sein können. Denn wenn schon vor dem 23.03.2020 R unter 1 sank und sich die Kurve hier einpendelte, so sei nicht erkennbar, inwiefern die getroffenen Maßnahmen als Unterschiedmacher angenommen werden können.

Die Erklärungen von Seiten der Virologie kamen umgehend: Schon weit vor der Ergreifung der Maßnahmen hätten die Menschen ihr Verhalten durch aktives social distancing und erhöhte Hygiene zu Ungunsten der Infektionsausbreitung umgestellt und aus diesem Grund sei der Wert auch schon vor der Ergreifung der Maßnahmen unter R = 1 gesunken. Weiterhin sei zu erwarten gewesen, dass ohne die Ergreifung der Maßnahmen R wieder über 1 angewachsen wäre.

Am 22.04 informierte Prof. Gérard Krause, Koordinator der Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, bei Markus Lanz umfangreich über eine sinnige Interpretation dieser Grafik. Tatsächlich sei es auch aus seiner Sicht auf Basis dieser Informationen viel zu vorschnell anzunehmen, dass die Maßnahmen keinen Effekt gehabt hätten. Eine Frage, die aber bisher unbeantwortet blieb, wird im Gespräch mit Krause nun von Lanz aufgeworfen: Gesetzt den Fall, die Maßnahmen wirken tatsächlich und der erste Blick auf die Grafik trügt, weshalb sinkt die Reproduktionszahl dann nicht weiter ab, sondern stabilisiert sich bei knapp unter 1? Krause antwortet hierauf, dass er das „so nicht beantworten könne“ und dass möglicherweise ein Effekt existiere, der eine weitere Unterdrückung verunmögliche und ein weiteres Reduzieren von R dann unter Umständen nur durch noch massivere Einschränkungen als die bisher getroffenen realisierbar wäre (vgl. Video ab 8:30).

Im Anschluss gesteht er ein, dass man nicht wirklich wisse, welche Teile der Maßnahmen wie gewirkt hätten. Kurzum: Die Wissenschaft steht bezüglich relevanter Fragestellungen ganz am Anfang. Oder anders: Wissenschaft hinkt – natürlicherweise – der Zeit hinterher und somit fehlt es der Politik letztlich an Rechtfertigung hinsichtlich der getroffenen Maßnahmen.

So merkte der Präsident der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt unmittelbar nach der von der Regierung kommunizierten Verlängerungen der Kontaktbeschränkung bis zum 3. Mai an, dass es keine konkrete wissenschaftliche Grundlage für die beschlossene Verlängerung gibt und darüberhinausgehend auch keine Indizien vorliegen, dass eine Überforderung der Krankenhäuser erwartbar wird. Reinhards Einschätzung steht hier also in einem eklatanten Widerspruch zur Position der Bundeskanzlerin Merkel. Erst kürzlich warnte sie vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ und betonte ihre Sorge, dass sich die Entwicklung der Corona-Infektionen wieder umkehre.

Einen Schritt weiter ging der Infektiologe und Direktor des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf Ansgar Lohse. Er forderte – wie die „BZ“ berichtete -, mehr Infektionen zuzulassen. Lohse im Wortlaut: „Ohne eine Impfung, die vor 2021 nicht kommen wird, kann die unkontrollierte Ausbreitung des Virus nur gestoppt werden, wenn eine ausreichende Zahl von Menschen eine Immunität entwickelt. Die Epidemie wird sonst jedes Mal neu aufflammen, wenn wir die Maßnahmen lockern. Wir müssen zulassen, dass sich diejenigen, für die das Virus am ungefährlichsten ist, zuerst durch eine Ansteckung immunisieren.“

Im Anschluss räumte er ein, dass Ziel der Herdenimmunität zwar ein heikles Unterfrangen sei, ein differenzierter Umgang aber dennoch unumgänglich ist: „Ich bin mit vielen Kollegen aus ganz verschiedenen Fachrichtungen im Diskurs, die ähnlich denken. Wir sind uns einig, dass wir nicht nur auf Corona schauen dürfen. Auf Dauer richten wir sonst zu große Schäden an.“

Qualität der Datenlage

Aber auch direkt aus der Wissenschaft werden Zweifel laut: So bemängelt Prof. Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Gesundheit-Sachverständigenrats, die unzureichende Datenqualität und verweist auf die daraus folgende Unmöglichkeit, fundierte Aussagen zu treffen. Insofern aber keine fundierten Aussagen aufgrund der möglicherweise mangelhaften Datenqualität getroffen werden können, wird auch fraglich, inwiefern die getroffenen Maßnahmen überhaupt sinnvoll zu rechtfertigen sind. Gerlach zufolge habe er große Zweifel an der Validität der Daten auf deren Basis nun aber weitreichende Entscheidungen getroffen werden. Die Folge sei eine teilweise im Blindflug erfolgende Debatte über Infektionsraten und über die Effektivität ergriffener Eindämmungsmaßnahmen.

Geht man nun von dem Grundsatz aus, dass derjenige, der die Maßnahmen verlängern möchte, sich zu rechtfertigen habe (hier also die Politik), so wird auch deutlich, wie wichtig die kritische Frage nach der Datenqualität faktisch zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird.

Zu einem ähnlich ernüchternden Befund hinsichtlich der Datenqualität gelangt der renommierte und in wissenschaftlichen Kontexten vielzitierte Statistik- und Gesundheitswissenschaftler John Ioannidis von der Stanford University. Er skizziert zwei mögliche Erkenntnisse, die am Ende der Pandemie stehen könnten: Entweder wir hatten es tatsächlich mit einer „once-in-a-century pandemic“ zu tun oder aber es handelt sich um ein „once-in-a-century evidence fiasco“. Auch er beklagt, dass Entscheidungen von enormer Reichweite ohne zuverlässige Datenbasis getroffen werden, und stellt die zentrale Frage, wie politische Entscheidungsträger überhaupt abwägen können, ob die getroffenen Maßnahmen am Ende nicht mehr schaden, als sie nutzen.

Wer ist gefährdet?

Eine von Ioannidis betreute und bisher auf dem Preprint-Server medRxiv publizierte Studie kommt zu dem Ergebnis, „dass das Risiko, an Covid-19 zu sterben, bei gesunden, jüngeren Menschen verschwindend gering ist“. Ioannidis und sein Team üben aufgrund ihrer Ergebnisse im Anschluss scharfe Medienkritik, wenn sie vermerken, dass ihre Resultate in Kontrast zu vielen News-Storys über das Sterben junger Menschen und der damit einhergehenden Panik stehen.

Besonders pikant in diesem Zusammenhang: Nicht nur die Medien scheinen diese Panik zu nähren. Erst am Dienstag den 21.04.2020 ließ Lars Schaade, Vizepräsident des Robert-Koch-Institut verlauten, dass jeder schwer an Covid-19 erkranken könne und somit nicht nur für Risikogruppen eine erhöhte Gefahr bestünde.

Vor dem Hintergrund der von Ioannidis vorgestellten Ergebnisse, müsste sich das RKI aber hinsichtlich seiner Beurteilung des Bedrohungspotentials zumindest die Frage nach Verhältnismäßigkeit stellen lassen. Allgemeiner: Auf welcher Datenlage beruht hier die Warnung des RKI? Auf anekdotischer Evidenz – also einem Denken in bloßen Möglichkeiten – oder aber auf generalisierbaren Aussagen über Wahrscheinlichkeiten, die empirisch belegt werden können? Anders: Welcher empirische Befund rechtfertigt die Suggestion, dass sich Menschen, die keiner Risikogruppe angehören, ebenfalls in keiner „falschen Sicherheit“ wiegen dürften?

Aus der forensischen Praxis wiederum berichtet der Rechtsmediziner Prof. Dr. Klaus Püschel, dass die von ihm obduzierten Todesopfer alle an schweren Vorerkrankungen gelitten hätten und jeder dieser Menschen im Laufe des Jahres diesen erlegen wäre. Er schlussfolgert, dass keine der Zahlen die Angst vor dem Virus rechtfertige und er von einer vergleichsweise harmlosen Erkrankung ausgehe. Dementsprechend müsse man lernen mit dem Virus zu leben und zwar ohne Quarantäne.

Auch Püschel relativiert somit indirekt die Einschätzung des RKI. Dass jeder – also auch Menschen die keiner Risikogruppe zuzuordnen sind – zumindest theoretisch schwer an Corona erkranken können, wird dabei zu keinem Zeitpunkt negiert. Dennoch dürfte die Betonung, dass dies nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nicht sehr wahrscheinlich ist, fundamental sein.

Mangel an Beatmungsgeräten

Der Vorsitzende des Verbands der pneumologischen Kliniken Thomas Voshaar, Chefarzt im Bethanien-Krankenkaus Duisburg-Essen, berichtet hingegen Bemerkenswertes hinsichtlich der Beatmungspraxis bei schwerwiegenden Krankheitsverläufen. Im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“ sagt er, dass das frühe und vorschnelle Intubieren von Covid-19-Patienten häufig medizinisch nicht gerechtfertigt sei und unter Umständen sogar gefährlich für den Intensivpflichtigen werden könne. Und weiter, dass es in Fachkreisen bezüglich einer sinnvollen Intubationspraxis vor Ausbruch der Pandemie keine Kontroverse gab.

Der ursprüngliche Konsens hinsichtlich einer sinnvollen Beatmungspraxis wurde also aufgegeben und dies ist – beispielsweise im Falle von China, Italien und Frankreich – möglicherweise auf das in den Kliniken entstandene Chaos zurückzuführen. Ein weiterer mutmaßlicher Grund für die Aufgabe dieses Konsens könnte sein, dass diverse Intensivmediziner davon ausgehen, dass bei einer Intubation im Allgemeinen die Aerosol-Belastung für das klinische Personal geringer sei. Eine Annahme, der Voshaar jedoch kategorisch aus inhaltlichen wie aus ethischen Erwägungen widerspricht: „Das ist unethisch. Wir können doch das Wohl des Patienten nicht dem Wohl des Personals unterordnen. Inhaltlich ist es auch unsinnig. Erfahrene Pneumologen und Intensivpfleger können die Aerosol-Belastung gering halten.“

Voshaars Argumentation schwächt hier das Narrativ der geringen Beatmungskapazitäten und der damit verbundenen Furcht vor „italienischen Verhältnissen“. Nicht zwingend der Mangel an Gerätschaft, sondern eine sinnvolle, da patientenentsprechende Intubationspraxis sei entscheidend.

Noch Ende März warnte aber RKI-Chef Lothar Wiehler im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vor diesem möglichen Beatmungsgerätemangel: „Wir können nicht ausschließen, dass wir hierzulande ebenfalls mehr Patienten als Beatmungsplätze haben.“ Und weiter: „Wir müssen jedenfalls damit rechnen, dass die Kapazitäten nicht ausreichen, ganz klar.“ Angemerkt und Wiehler zugute gehalten werden muss hier selbstredend, dass zum Zeitpunkt des Interviews (29.03) für niemanden sicher prognostizierbar war, wie sich die Situation entwickelt – die irritierenden Bilder aus Italien rechtfertigten rückblickend fraglos die öffentlichkeitswirksame Formulierung großer Sorge. Allerdings wurde die in den Raum gestellten Befürchtungen bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht kritisch nachbesprochen und neu bewertet. Stattdessen betonte Wiehler am 21.04.2020: „Es ist kein Ende der Epidemie in Sicht, die Fallzahlen können wieder steigen.“

Auslaufen der Pandemie oder zweite Welle?

Nun wird aber selbst diese Einschätzung des RKI fraglich. So publizierte der israelische Mathematiker Prof. Isaac Ben-Israel kürzlich eine statistische Analyse bezüglich des Wachstums und des Rückgangs der Corona-Fälle. Hierzu analysierte Ben-Israel die zur Verfügung stehenden Zahlen der vom Corona-Virus betroffenen Ländern und kam zu dem Schluss, dass die Verbreitung des Virus nach etwa 40 Tagen seinen Höhepunkt erreicht habe und nach 70 Tagen annähernd vollständig abklingt – und dies völlig unabhängig davon, welche spezifischen Maßnahmen die jeweiligen Länder ergriffen hätten.

Ben-Israel hat für dieses Phänomen zwar keine Erklärung, dennoch ist er davon überzeugt, dass hier ein Muster vorliege und die Zahlen diesbezüglich für sich selbst sprechen würden. Die Lockdowns seien somit seiner Auffassung nach die Folge einer Massenhysterie.

Eine Einschätzung, die auf ganzer Linie dem Chefvirologen der Berliner Charité Prof. Dr. Christian Drosten widersprechen dürfte. Hinsichtlich der gerade erst vorgenommen Lockerungen der Maßnahmen befürchtet er neue Infektionsketten und warnt, dass in diesem Fall Deutschland seinen Vorsprung in der Pandemiebewältigung verspielen könnte.

Eine Sorge, die nicht nur Ben-Isarel nicht teilen dürfte, sondern der vermutlich auch Nobelpreisträger der Chemie, Michael Levitt, skeptisch gegenüberstehen würde. Levitts Ergebnisse decken sich mit denen Ben-Israels. Auch er prognostiziert ein baldiges Ende der Pandemie. Ebenfalls mit statistischen Methoden arbeitend hatte er bereits im Februar annähernd korrekt den Verlauf der Pandemie in China und dessen Ende vorhergesagt. Und auch Levitt beklagt nun, dass die Medien für unnötige Panik gesorgt hätten, indem sie ständig über die aktuellen Fallzahlen – auch hinsichtlich erkrankter Prominenter – berichteten.

Dieser Medienschelte schließt sich auch der Kommunikationswissenschaftler Stephan Russ-Mohl an. Im Interview mit dem „Cicero“ sagte er in Richtung des Journalismus, man hätte „PR-hörig und regierungslammfromm berichtet“.

Richtig ist sicherlich, dass gerade in den Anfängen der Pandemie häufig mit alarmierenden Bildmaterial gearbeitet wurde. Richtig ist aber auch, dass nicht jede Kritik an Medien und Journalismus in Bezug auf die Corona-Berichterstattung gerechtfertigt oder gar fair ist. Die „Frankfurter Allgemeine“ hat erst kürzlich auf die teils heftige Kritik von unterschiedlichen Seiten reagiert und zitiert hierzu abschließend den ehemalige Intendanten des Hessischen Rundfunks, Helmut Reitze: „Nicht alles, was Sie nicht gesehen haben, haben wir nicht nicht gesendet.

Ein unvoreingenommener Blick auf die gegenwärtige Berichterstattung bestätigt dies. Denn sowohl öffentlich-rechtliche als private Medien schienen und scheinen durchaus bemüht, den unterschiedlichen Stimmen in der Causa Corona Platz einzuräumen – so war erst kürzlich der bereits zitierte Prof. Dr. Gérard Krause zu Gast bei Markus Lanz und erläuterte differenziert, welche ethischen wie gesellschaftlichen Schwierigkeiten die getroffenen Maßnahmen implizieren. Und schon am 14.03 war Prof. Dr. Karin Mölling Interviewgast bei radioeins und postulierte, dass Corona kein Killervirus sei und stattdessen die Panikmache als eigentliches Problem benannt werden müsse.

Nur in einigen wenigen diskussionswürdigen Fällen wurde medienseitig klarere Position ergriffen – so z.B. im Falle Wolfgang Wodargs (der neben seinen viral gegangenen YouTube-Videos auch in einem mittlerweile gelöschten Beitrag von Frontal 21 auftreten durfte), Hendrik Streecks und Sucharit Bhakdi. Inwiefern die Kritik an diese prominenteren Kritikern bzw. besänftigenden Stimmen berechtigt ist, muss im Einzelnen diskutiert werden und soll nicht Gegenstand vorliegenden Beitrags sein.

Fest steht aber: Selbst ohne Wodarg, Streeck und Bhakdi regen sich Stimmen, die den offiziellen Verlautbarungen des RKI im Allgemeinen und den Einschätzungen und Warnungen Christians Drostens im Speziellen widersprechen. Umso brisanter ist es, wenn Drosten in einem über 10.000 Mal auf Facebook geteilten Clip des Bundesinnenministeriums für Gesundheit über „verlässliche Quellen“ aufklärt und appelliert, man möge „sich nicht auf irgendwelche Professoren oder Doktoren“ verlassen, die „nur, weil sie Mediziner sind, für sich beanspruchen, Ahnung von diesen Dingen zu haben.“

Völlig grotesk wirkt dieser Appell vor dem Hintergrund, dass Drosten selbst erst kürzlich auf Twitter vermerkte, dass es der Diskurs sei, der die wissenschaftliche Meinungsbildung ermögliche, er nun aber in einem Clip des Bundesinnenministerium pauschalisierend kritische Stimmen diskreditiert und somit diskursfeindlich agiert.

Drostens ungelenker, anmaßender und auch unverschämter Appell kann hier also in einem Atemzug mit Kanzlerin Merkels entnervter Klage über die „Öffnungsdikussionsorgien“ genannt werden. In beiden Fällen wird alleinige Deutungshoheit beansprucht und auf einen Konsens in der Sache gepocht, der faktisch längst nicht mehr gegeben ist. All dies mutmaßlich, um innerhalb der Bevölkerung keine Zweifel hinsichtlich getroffenen Eindämmungsmaßnahmen zu provozieren.

Die nun anfangs aber angesprochene neu entstehende Konfliktlinie nimmt gerade ihren Anfang in den disputierlichen Sphären der Wissenschaft und Politik, wird von hier ausgehend medial vermittelt und bahnt sich so ihren Weg in die Bevölkerung. Und dies ist nicht Ausdruck eines gesellschaftlichen Defizits, hier zeigt sich stattdessen, dass Demokratie so funktioniert, wie sie funktionieren soll. Denn eine Einigkeit, die keine ist, kann nicht durch autoritäres Einfordern von Seiten einzelner Wissenschaftler und der Politik gewonnen werden.

Diese Einigkeit kann auch nicht dadurch gewonnen werden, dass aus kritischen Stimmen pauschal als Verschwörungstheoretiker oder in Anlehnung an die Klima-Skeptiker zu „Corona-Leugnern“ gelabelt werden. Vielmehr ist es die Akzeptanz eines fruchtbaren Dissens und der beständige respektvolle Diskurs, das Abwägen, das Streiten und das beständige Prüfen, was langfristig eine echte gemeinsame Orientierung in der Krise schafft.

Gegenwärtig stehen wir diesbezüglich noch am Anfang. Durch die Vielzahl kritischer und honoriger Stimmen ist aber ein erster Schritt in die richtige Richtung getan. Diesen gesellschaftlichen Diskurs zu führen und auszuhalten muss das Ziel sein. Wenig hilfreich hingegen scheint ein regierungsseitige vorgenommenes und seiner Rhetorik nach paternalistisches Einstimmen der Bevölkerung auf eine „neue Normalität“ für lange Zeit.

Begrüßenswert hingegen ist, wenn eine buntgemischte Gruppe mit unterschiedlichen Berufsbiographien den Weg in die Öffentlichkeit und somit in den Diskurs sucht. So meldeten sich Juli Zeh (Autorin und Juristin), Boris Palmer (Oberbürgermeister Tübingen), Julian Nida-Rümelin (Philosoph und Ex-Kulturstaatsminister), Christoph M. Schmid (Ökonom), Thomas Straubhaar (Ökonom) sowie Alexander Kekulé mit einem Debattenbeitrag im Spiegel zu Wort und plädierten für einen Weg aus dem Lockdown, der die Güter Gesundheit und Freiheit gegeneinander aussöhnt. Ein Vorschlag zur Güte, der gesamtgesellschaftlich diskutiert werden sollte, um mit Maß und Ziel erfolgreich durch diese außerordentliche Zeit zu schreiten.