IMI-Standpunkt 2022/010 (Update: 11.3.2022)
Weshalb Waffenlieferungen ein falscher Weg sind
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 7. März 2022
Angesichts des russischen Angriffes auf die Ukraine nicht tatenlos zusehen zu wollen, ist sicher bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Westliche Waffenlieferungen sind aber ein grundfalscher Weg, der nur zu mehr Opfern und einer weiteren Eskalation führt, wofür im Folgenden einig Argumente zur Diskussion gestellt werden sollen.
Tabubruch Waffenlieferungen
Die deutschen wie auch die europäischen Rüstungsexportrichtlinien sind – eigentlich – völlig eindeutig: Sie untersagen Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete (siehe IMI-Analyse 2019/29). Natürlich wurde diese Regel immer wieder umgangen, sicher handelt es sich aber im Falle der Ukraine – wo dies nun in großem Umfang, offen und erklärtermaßen geschieht – um einen Präzedenzfall.
Mit dem Tabu, keine Waffen in Kriegsgebiete zu schicken, wurde in Etappen gebrochen: Vergleichsweise harmlos war noch die Zusage für 5.000 Gefechtshelme, die bereits vor dem russischen Einmarsch gegeben wurde. Dann wurde den Niederländern die Zustimmung erteilt, 400 Panzerfäuste aus deutscher Produktion an die Ukraine zu liefern und parallel dazu 14 gepanzerte Fahrzeuge genehmigt. Kurz darauf wurde die Lieferung von 1.000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen des Typs „Stinger“ beschlossen. Zuletzt genehmigte das Wirtschaftsministerium dann die Abgabe von 2.700 Flugabwehrraketen (Typ ‚Strela‘) aus ehemaligen NVA-Beständen.
Auf EU-Ebene wurde bereits im März 2021 die Einrichtung einer Europäischen Friedensfazilität (EFF) beschlossen (siehe IMI-Analyse 2021/17). Sie wurde für 2021 bis 2027 ursprünglich mit 5,7 Mrd. Euro befüllt und dient der Finanzierung von EU-Militäreinsätzen sowie von Rüstungsgütern für verbündete Akteure (der sog. „Ertüchtigung“). Obwohl darüber im Vorfeld lange gestritten worden war, können über die Fazilität auch letale Waffen – oder Rüstungsgüter, „die dazu konzipiert sind, tödliche Gewalt anzuwenden, wie es im EU-EFF-Ratsbeschluss heißt – finanziert werden. Die Friedensfazilität kommt nun in der Ukraine erstmals im großen Stil zum Einsatz – schon am 27. Februar 2022 wurde gemeldet: „Die Ukraine soll nach einem Vorschlag des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell für 500 Millionen Euro Waffen und Ausrüstung aus der Europäischen Union bekommen. […] Das Geld soll aus der sogenannten „Europäischen Friedensfazilität“ kommen. […] 450 Millionen Euro sind nach dem Vorschlag für Waffen vorgesehen, 50 Millionen Euro für andere Ausrüstung.“
Was genau geliefert werden soll, ist noch unklar. Klar ist aber bereits jetzt, dass damit eine zentrale Säule der deutschen und europäischen Rüstungsexportrichtlinien zum Einsturz gebracht wurde. Es ist fast unvermeidlich, dass künftig bei der Frage von Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete unter Verweis auf den Ukraine-Präzedenzfall eine Einzelfallprüfung die kategorische Ablehnung ersetzen und damit die Lieferung solcher Waffen vereinfachen wird. Doch auch abseits solcher eher grundsätzlichen Erwägungen ist die Lieferungen von Waffen auch in diesem konkreten Fall falsch.
Beitrag zur Eskalation
Das gewöhnlich bestens informierte und eng mit dem EU-Apparat vernetzte Nachrichtenportal Bruxelles2 analysierte Anfang März 2022 die Optionen angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine. Der Autor Nicolas Gros Verheyde argumentierte dabei, es stünden nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Entweder die NATO werde direkt mit umfassenden Truppen in den Krieg eingreifen, ein Schritt, der sich aufgrund des immensen Eskalationspotenzials ausschließe (und auch ausgeschlossen wird). Oder es würden ernsthafte Verhandlungen mit dem Ausgangsangebot einer Neutralität der Ukraine aufgenommen – das sei zwar vor allem für die Ukraine eine schwer zu schluckende Pille, aber allemal besser als die Alterative: „Für die Ukrainer wäre es zweifellos bitter, aber viel weniger, als zu sehen, wie ihr Land von einer russischen Besatzungstruppe in Feuer und Blut verwandelt wird. Oder ständig unter der Bedrohung einer neuen Intervention leben zu müssen (vorausgesetzt, dass diese beendet wird). […] An sich ist die Neutralität angesichts des Krieges das geringere Übel.“
Diese bedachte Bewertung völlig missachtend scheinen sich NATO und EU für eine dritte Option entschieden zu haben, nämlich mit umfassenden Waffenlieferungen die Kampfkraft der ukrainischen Armee stärken zu wollen.
Allerdings geht trotz vereinzelter Berichte über Sabotageakte und schlechte Moral innerhalb der russischen Truppen kaum ein Beobachter davon aus, dass die Ukraine den Angreifer wird besiegen können. So äußerte sich etwa der ehemalige deutsche Spitzendiplomat Rüdiger Lüdeking im konservativen Magazin Cicero: „Will man zynisch sein, so muss man feststellen, dass die Ukraine verloren ist. Eine solche Feststellung mag schmerzen, entspricht jedoch der Lage, wie sie sich aktuell darstellt. Dies gilt auch, als sich die Nato die realpolitische Einsicht zu eigen gemacht hat, dass mit einem eigenen militärischen Eingreifen das Risiko eines großen Kriegs in Europa und gar eines Nuklearkriegs verbunden ist.“
Was sollen die Waffenlieferungen dann also bezwecken?
Die hilflose Antwort wäre, damit man den Eindruck erwecken kann, man würde die Ukraine nicht alleinstehen lassen. Eine zynische Antwort lautet, dass man Russland schwächen und in ein zweites Afghanistan verwickeln will. Und die häufigste Antwort dürfte wohl sein, dass man den Blutzoll hochtreiben möchte, um eine möglichst günstige Verhandlungsposition zu bekommen.
Alle Antworten sind eigentlich indiskutabel, öffentlich dürfte lediglich die letzte Variante erwähnt werden. Ihr lässt sich entgegenhalten, dass der Blutzoll, um den es hier geht, nicht von denjenigen zu entrichten sein wird, die jetzt diese Waffen schicken, auch nicht primär von Russland, sondern vor allem von den Menschen in der Ukraine. Übereinstimmende Analysen aus dem Militär besagen, dass sich Russland für ein – überaus hartes – aber skaliertes Vorgehen entschieden hat. Je größer der Widerstand ist, desto weiter wird der Krieg in der Ukraine demzufolge eskalieren und die Opfer zunehmen. Jakob Augstein etwa schreibt im Freitag: „Der Westen verlängert mit seinen Waffenlieferungen den Krieg. Sobald unsere Waffen dort zum Einsatz kommen, sind es nicht mehr nur Putins Tote, es sind dann auch unsere.“
Ganz ähnlich argumentiert der Politikprofessor Johannes Varwick, der bis kürzlich eher für eine konfrontative Politik gegenüber Russland eingetreten war: „Wir müssen uns überlegen, ob wir weiter die Ukraine in ihrem heldenhaften aber aussichtslosen Kampf unterstützen wollen oder ob nicht jetzt die Stunde für Nüchternheit und Realpolitik ist. Konkret bedeutet das, wir müssen Putin Verhandlungen anbieten, damit er sein Ziel auch ohne einen Krieg erreichen kann. Die Entscheidung über die Zukunft der Ukraine müssen natürlich die Ukrainer selbst treffen. Aber der Westen hat einen maßgeblichen Einfluss, indem er die Waffenlieferungen einstellt. Das ist nicht kaltherzig, sondern vom Ende her gedacht.“
Alternativen zum Krieg
Auch wenn sich neuere Berichte ob eines raschen russischen Sieges deutlich skeptischer zeigen als zu Kriegsbeginn und sich Einschätzungen über schwere Fehlkalkulationen auf russischer Seite häufen, dies erhöht nur die Wahrscheinlichkeit eines immer blutiger und länger andauerndes Krieges. Zur für die Ukraine sicherlich bitteren Pille einer Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ausgangspunkt einer Neutralität besteht keine sinnvolle Alternative. Gleichzeitig müssen diese Verhandlungen vom ernsthaften Bestreben geprägt sein, eine Sicherheitsarchitektur aufzubauen, die es verhindert, dass große Länder künftig nicht nach Gutdünken kleinere Staaten überfallen können – und das muss für alle gelten, für Russland, aber auch für die NATO-Länder.
Schenkt man westlichen Medienberichten Glauben, soll die Ukraine bei den jüngsten Verhandlungen am 10. März 2022 in einigen wesentlichen Punkten – unter anderem in der Frage einer möglichen Neutralität – zu Zugeständnissen bereit gewesen sein, eine Kapitulation aber zum Beispiel abgelehnt haben. Was hinter den Kulissen tatsächlich angeboten und verhandelt wird, lässt sich kaum sagen.
Doch selbst falls Russland auf Maximalforderungen bestehen sollte, gibt es zur Fortsetzung des Krieges dennoch eine Alternative. Letztlich kann und darf den Menschen in der Ukraine niemand vorschreiben, wie sie sich wehren sollen. Aber es gibt gleichzeitig auch keine Pflicht zu einer militärischen Unterstützung mit all ihren Folgen, auch deshalb nicht, weil sich große Teile der männlichen ukrainischen Bevölkerung dieser Entscheidung nicht einmal entziehen können.
Es ist somit durchaus fragwürdig, wenn aktuell die militärische Unterstützung der Ukraine zu einer moralischen Frage hochstilisiert wird, schreibt doch der Herausgeber der Zeitung gegen den Krieg, Winfried Wolf: „Es ist nach meinem politischen Verständnis in der heutigen Gesellschaft grundsätzlich fragwürdig, anderen Menschen zu empfehlen oder diese gar zu bedrängen, den Weg des Heldentods zu beschreiten. […] Naheliegender wäre es, […] auf einen weiteren militärischen Widerstand zu verzichten und zu einem landesweiten passiven Widerstand gegen die Besatzungsmacht mit dem Ziel der Zersetzung des Besatzungsregimes und einer demokratischen Wende in Russland selbst aufzufordern.“