Coronoa und die Medien

Im Umgang mit der Pandemie werden Phänomene noch deutlicher sichtbar als bei der Bewältigung anderer Krisen – etwa der Klimakrise: Die Pandemie und ihre Herausforderungen drängen auch medial viele andere Themen in den Hintergrund. Es scheint nur noch ein Thema auf allen Kanälen und in allen Medien zu geben: Corona. Die „Brennpunkte“ nach den regulären Nachrichtensendungen nehmen kein Ende. Wir werden mit einer Flut von Informationen konfrontiert. Manche von uns fühlen sich davon fast überrollt oder erschlagen. Wir wollen uns aus Quellen informieren, denen wir vertrauen können. In der Flut der vielen medialen Stimmen vernehmen wir aber auch die, die Zweifel äußern und Skepsis anmelden an dem, was der Hauptstrom der Informationsflut als richtig, wichtig, objektiv und „Stand der Wissenschaft“ kommuniziert.

Auf den Unterseiten wollen wir dieser Kontroverse Raum geben.

Corona – Lokales

Das Virus stellt uns seit vielen Wochen auf allen Ebenen vor immense Herausforderungen. Auf den Unterseiten von „Corona – Lokales“ wollen wir einiges aus der Informationsflut herausgreifen.

Vor der Pleite: wirtschaftliche Folgen der Corona-Krise für die Entwicklungsländer

Über 80 Länder haben beim IWF Notkredite beantragt, um einen Staatsbankrott zu vermeiden. Die jüngst vereinbarten Schuldenerlasse greifen zu kurz.

Von Bodo Ellmers | 17.04.2020

Die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise haben die Entwicklungsländer mit voller Härte getroffen. Rohstoffpreise sind kollabiert und damit auch die bedeutendste Quelle ihrer Exporteinnahmen. Seit sich Massenarbeitslosigkeit breitmacht, gehen auch die Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten zurück. Der Tourismus wurde weitgehend eingestellt. Die Kapitalflucht aus Entwicklungsländern seit Beginn der Coronakrise war schneller und größer als während der großen Finanzkrise von 2008. Alleine im März wurden netto gut 100 Milliarden US-Dollar abgezogen.

Der Finanzbedarf von Entwicklungsländern ist also enorm, sowohl zur akuten Bekämpfung der Coronakrise, als auch zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen. Während reiche Länder mit gewaltigen Rettungspaketen in der Krise gegensteuern, stehen viele der klassischen Politikoptionen dieser Pakete den armen Ländern nicht zur Verfügung.

Die fiskalischen Spielräume sind begrenzt, da viele Länder bereits hoch verschuldet sind und auch nur wenig zusätzliche Steuern erheben können. Während die Zentralbanken von reichen Ländern mit starken Währungen die geldpolitische „Bazooka“ eingesetzt haben, würde eine expansive Geldpolitik in Entwicklungsländern mit einer Abwertung ihrer Währungen einhergehen und damit die Finanzierung wichtiger Importe und die Bedienung der Auslandsschulden erschweren.

Die Vereinten Nationen haben daher ein gewaltiges Rettungspaket für den globalen Süden im Volumen von 2,5 Billionen US-Dollar gefordert. Nach Angaben der Konferenz der UN für Handel und Entwicklung (UNCTAD) sollte sich das Paket aus drei Komponenten zusammensetzen:

  1. 500 Milliarden Dollar sollen einen Marschall-Plan für den Gesundheitssektor armer Länder finanzieren. Die UNCTAD hält die Finanzierung dieses Plans über Zuschüsse reicher Länder für angebracht, da diese in den letzten Jahrzehnten ihren Verpflichtungen zur Leistung von Entwicklungshilfe nicht in vereinbarter Höhe nachgekommen sind. Es handele sich also um eine Nachzahlung.
  2. Eine Billion Dollar zusätzliche Finanzhilfen sollten durch Sonderziehungsrechte – das internationale Reserveguthaben des IWF – an die Entwicklungsländer fließen. Das ist mit einer Erhöhung der Geldmenge vergleichbar, wie sie die EZB für Europa vorgenommen hat. Der IWF übernimmt quasi die Rolle der Zentralbank des Globalen Südens.
  3. Eine weitere Billion Dollar könnte indirekt durch Schuldenerlasse freigesetzt werden. Das ist kein Transfer in arme Länder, sondern der Verzicht auf zukünftige Transfers aus armen Ländern. Dies würde fiskalische Spielräume zum Wiederaufbau ihrer Wirtschaft schaffen.

Spektakuläre Staatspleiten wie die von Argentinien letztes Jahr waren bereits Vorzeichen der neuen Krise.

Die Schuldenlast wiegt enorm: In Zeiten billigen Geldes und niedriger Zinsen in Europa und den USA haben zahlreiche Investoren Anlagemöglichkeiten im globalen Süden gesucht. Das hat die Schuldenberge dort auf bislang nie gesehene Höhen getrieben.

Spektakuläre Staatspleiten wie die von Argentinien letztes Jahr waren bereits Vorzeichen der neuen Krise. Fast die Hälfte der Länder niedrigen Einkommens fällt laut Einstufung des Internationalen Währungsfonds in die Kategorie der Länder mit hohem Schuldenkrisenrisiko, und diese Einstufung beruht auf Daten von vor der Coronakrise. Diese hat die Blase jetzt zum Platzen gebracht: In Rekordzeit haben über 80 Länder Notkredite beim IWF beantragt, um Staatspleiten zu vermeiden. Daher der enorme Druck auf die internationale Gemeinschaft und ihre Institutionen, von IWF bis zu G7 und G20, Schuldenerlasse zu beschließen.

Als ice-breaker hat dabei der IWF selbst fungiert: Er beschloss am 13. April, einer Gruppe von 25 Ländern die Ratenzahlungen für den Rest des Jahres zu erlassen. Diese Entscheidung bedeutet, dass 215 Millionen Dollar an Zahlungen eingespart werden, hat also eher symbolischen Charakter.

Netto dürfte dabei allerdings überhaupt kein positiver Effekt für Entwicklungsländer herauskommen. Denn der IWF erwartet, von seinen reicheren Mitgliedsstaaten für entgangene Ratenzahlungen entschädigt zu werden, was diese aus ihren Entwicklungshilfebudgets finanzieren sollen. Es ist also ein Nullsummenspiel, bei dem arme Länder an Entwicklungshilfe verlieren, was sie an Schuldenerlass gewinnen. Eine Alternative wäre, dass der IWF solche Schuldenerlasse selbst finanziert, durch den Verkauf eines Teils seiner nicht unerheblichen Goldreserven.

Am 15. April haben die G20 nachgezogen – nach hitzigen Verhandlungen zwischen den beiden geopolitischen Antagonisten USA und China.

Der Beschluss der G20 sieht vor, einer Gruppe von 77 der ärmsten Entwicklungsländer die Ratenzahlungen für den Rest des Jahres zu stunden, wenn diese das jeweils beantragen. Damit würden etwa 14 Milliarden Dollar an Liquidität freigesetzt, die ansonsten dieses Jahr in den Schuldendienst geflossen wären. Der G20-Beschluss verschafft den armen Ländern also etwas Luft, ein echter Schuldenerlass ist es jedoch nicht, denn die Länder müssen die nicht geleisteten Raten über die folgenden drei Jahre nachzahlen. Wenn sie das denn können: Es ist davon auszugehen, dass die Coronakrise viele hoch verschuldete arme Länder in die tatsächliche Staateninsolvenz treibt. Aus dieser kommen sie jedoch nur mit einer echten Schuldenstreichung wieder heraus.

Zudem ist das Paket nicht völlig frei von Konditionen. Länder, die davon profitieren, müssen ein laufendes IWF-Programm haben. Diese Programme sind höchst umstritten, denn sie enthalten in aller Regel Konditionen zur „fiskalischen Konsolidierung“, wie Austeritätspolitik beim IWF euphemistisch heißt. Diese vom IWF aufgezwungenen Konditionen haben in vielen Ländern zum kaputt sparen der Gesundheitssysteme geführt, und sie daher verletzlicher für die Coronapandemie gemacht. Den IWF und seine Programme hier ins Spiel zu bringen, heißt also den Bock zum Gärtner zu machen.

Es ist davon auszugehen, dass die Coronakrise viele hoch verschuldete arme Länder in die tatsächliche Staateninsolvenz treibt.

Außerdem müssen sich Länder verpflichten, während des Zahlungsaufschubs keine neuen Kredite zu Marktzinsen aufzunehmen. Das ergibt in Anbetracht ihrer hohen Schuldenlast einerseits Sinn, heißt aber auch, dass ihre Möglichkeiten zur kontrazyklischen Fiskalpolitik eingeschränkt werden. Natürlich sind auch die Rettungspakete in Deutschland und anderswo im globalen Norden erstmal durch neue Schulden finanziert.

Letztlich beschränkt sich der G20-Deal auf die bilateralen Schulden. Hier haben sich die USA durchgesetzt, denn der mit Abstand größte bilaterale Gläubiger gegenüber dem globalen Süden ist China.

Um effektiv Mittel frei zu setzen, müssten sich kurzfristige Schuldenmoratorien und langfristige Schuldenerlasse aber auch auf die multilateralen Kredite – wie zum Beispiel der US-dominierten Weltbank – und ganz besonders auf Kredite bei privaten Banken und auf Staatsanleihen armer Länder erstrecken. Letztere werden ganz überwiegend von großen Investmentfonds in den USA und Europa gehalten. Fremdwährungsanleihen von Entwicklungsländern sind extrem hoch verzinst, mit Sätzen von bis zu zehn Prozent jährlich. Diese wiegen also am Schwersten auf den Budgets der armen Länder und müssten prioritär angegangen werden.

Die derzeitigen Maßnahmen von IWF und G20 sind erste Schritte, aber noch meilenweit entfernt vom Schuldenerlassvolumen, das die UN in der Coronakrise für nötig hält. Entscheidend sind in den nächsten Wochen vor allem zwei Dinge. Erstens, dass vom Zahlungsaufschub zum tatsächlichen Schuldenerlass übergegangen wird, denn die Probleme lassen sich nicht lösen, wenn sie lediglich in die Zukunft verlagert werden. Zweitens, dass auch die privaten Gläubiger durch Schuldenumstrukturierungen mit eingebunden werden. Spekulanten haben in den letzten Jahren viel verdient, wenn sie sich gegen den Kauf von Bundesanleihen und stattdessen für Hochzins- und Hochrisikoanleihen armer Länder entschieden haben. Jetzt müssen sie auch Abschreibungen hinnehmen.

Die Umstrukturierung privater Schulden können die G20 allerdings nicht dekretieren. Ihre Rolle wäre, armen Ländern, die die Bedienung privater Schulden in der Coronakrise einstellen, rechtliche und politische Rückendeckung zu geben. Gerechtfertigt ist das in dieser Krise allemal. In seinen Leitprinzipien zu Schulden und Menschenrechten hat der UN-Menschenrechtsrat festgestellt, dass Staaten menschenrechtsrelevante Ausgaben – wie etwa für Bildung und Gesundheitsdienste – über den Schuldendienst priorisieren müssen, wenn die Mittel knapp werden. Kein Staat hat das Recht, die Menschenrechte seiner Bürgerinnen und Bürger mit Füßen zu treten, um die finanziellen Ansprüche von Gläubigern zu erfüllen, selbst wenn das die Einstellung des Schuldendienstes erfordert. In der Coronakrise werden viele Staaten vor diese Wahl gestellt werden.

Zwischen Ausnahmezustand und globaler Solidarität: zwei neue Livestreamformate der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Die Corona-Krise ist nicht nur eine Pandemie, der weltweit Zehntausende von Menschen zum Opfer fallen, die Corona-Krise verändert auch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Polizeiliche und militärische Notstandsmaßnahmen werden verhängt. In manchen Ländern wie in Ungarn wird das Parlament entmachtet. In anderen Ländern wie in Brasilien verlieren autoritäre Herrscher dagegen an Legitimation. Politische Tabus werden gebrochen. Auf einmal brechen konservative Regierungen die Dogmen der neoliberalen Austeritätspolitik und legen massive staatlich finanzierte Investitionsprogramme auf. Der ohnehin krisenhaften Weltwirtschaft droht eine globale Rezession mit schweren sozialen und politischen Folgen. Die Welt verändert sich im Zeitraffer.

Wieder einmal verfestigt und vertieft die Krise dabei ohnehin bestehende strukturelle soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Infizierte Menschen ohne Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitssystem sterben schneller als Privatpatienten. Menschen in den Slums der Mega-Cities im globalen Süden oder einem Flüchtlingslager können sich weniger schützen als die Bewohner*innen der Vorstädte im globalen Norden. Die unterbezahlten Beschäftigten im Gesundheitswesen – meist Frauen – müssen nicht nur bis zur Erschöpfung arbeiten, sondern sind auch besonders ansteckungsgefährdet. Frauen sind auch von der Schließung von Kitas und Schulen besonders betroffen. Prekär Beschäftigte geraten schneller in Existenznot. Grenzschließungen entziehen ohnehin unterbezahlten Wanderarbeiter*innen die Lebensgrundlage.

Gleichzeitig führt die Krise auch zu einer Welle der Empathie, Solidarität und der sozialen Widerstände. Nachbarn beginnen sich gegenseitig zu unterstützen. Mit dem Applaus für die Beschäftigten im Gesundheitsbereich wächst auch das Bewusstsein über deren schlechte Arbeitsbedingungen.

Auch linke politische Forderungen werden lauter: Ein kostenloses, für alle zugängliche Gesundheitssystem wird genauso eingefordert wie die Konversion der Produktion von Konsumgütern in medizinisches Gerät. Austeritätspolitik und Privatisierungspolitik werden genauso in Frage gestellt wie die neoliberale Handelspolitik. Private Patentrechte werden in Frage gestellt. In Italien kommt es zu Streiks, um die Rechte der Beschäftigten im Corona-Krisenkontext durchzusetzen. Die sozialen Konflikte um die Frage, wer die Kosten für die Corona-Krise tragen muss, werden die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen in vielen Ländern für lange Zeit bestimmen.

Auch die internationale Politik und geopolitische Kräfteverhältnisse werden durch die Krise beeinflusst. Die Corona Krise hat zu einer neuen Auseinandersetzung um die Funktion und die innere Strukturen der Europäischen Union geführt. Die Weigerung der Bundesregierung auf die Forderung nach «Corona Bonds» zur Finanzierung der Krisenlasten in den besonders betroffenen Ländern im Süden Europas einzugehen sowie die Weigerung der EU-Kommission die autoritären Maßnahmen in Ungarn zu sanktionieren, stürzen die EU in die tiefste Krise seit 2008. Weltweit zeichnet sich ab, dass die Position der USA weiter geschwächt wird und der Aufstieg der VR China zur Hegemonialmacht beschleunigt wird.

Auch für die Rosa-Luxemburg-Stiftung heißt die Corona-Pandemie, dass eigentlich alle unsere Veranstaltungen nicht mehr in der gewohnten Form stattfinden können. Viele unserer Angebote bieten wir stattdessen als digitale Formate an: als Onlineseminare, Livestreams und Video-Podcasts. Zwei dieser neuen Angebote, die in der nächsten Woche anlaufen werden, möchten wir im Folgenden kurz vorstellen.

Coronavirus: Das Versagen der alternativen Medien

Quelle: Telepolis  – 02. April 2020  

Coronavirus: Das Versagen der alternativen Medien

Für viele ist es unvorstellbar, dass die Regierung ausnahmsweise etwas richtig macht. Ein Kommentar

In vergangenen Artikeln habe ich die politisch Verantwortlichen teilweise heftig kritisiert. Es gab eklatante Versäumnisse, und wahrscheinlich ist es das Verdienst der Fachleute in der zweiten Reihe, die Politiker zum Handeln gebracht zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung im Großen und Ganzen richtig sind.

Für die letzten Zweifler noch einmal eine einfache Betrachtung. Italien, Spanien und Frankreich kämpfen bereits mit einer Welle von Notfällen, bei der Menschenleben geopfert werden müssen – obwohl erst ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung infiziert war. Denn aus 50.000 positiv Getesteten, selbst wenn man eine zehnfach höhere Dunkelziffer annimmt, wird nicht mehr als ein Prozent der Einwohner (60 Mio). Lässt man 90, 50 oder auch nur 25 Prozent der Bevölkerung sich infizieren, müsste man sich die katastrophale Situation also um den Faktor 25 verstärkt vorstellen (das zeitverzögerte Einsetzen der Krankheit macht die Situation noch schlimmer). Das kann leider sehr schnell gehen, denn bei einer täglichen Zunahme der Infizierten um 30%, wie sie in allen betroffenen Ländern ohne Gegenmaßnahmen zu beobachten war, dauert dies keine zwei Wochen (1,3 hoch 14 =Faktor 39). Im Übrigen sind die Details dieser Rechnung völlig egal, da sie im Ergebnis das Zeitfenster zum Handeln nur um wenige Tage verlängern.

Verrücktheit – hoffentlich – gestoppt

Ich bin froh, dass es in Deutschland wahrscheinlich gelingt, einen derartigen Zusammenbruch zu verhindern, und dass die Wahnsinnsidee einer „Herdenimmunität“ zugunsten einer vernünftigen Strategie aufgegeben wurde (Abkehr vom deutschen Sonderweg). Vielleicht könnte dies auch einmal Anlass zum Durchschnaufen sein, bevor man die nächsten Forderungen erhebt.

Stattdessen mehren sich die Stimmen, die sich über die angebliche Hysterie beklagen: Corona sei nicht so schlimm, aber die Maßnahmen dagegen schon. Viele Publizisten können offenbar eine einfache Rechnung wie die obige nicht in eigener Denksouveränität nachvollziehen. Stattdessen beruft man sich auf Autoritäten wie ehemalige Lungenärzte, Klinikdirektoren oder emeritierte Professoren der Mikrobiologie und Virologie.

Frage: Wie viele Menschen mit vergleichbaren Titeln und Berufswegen gibt es wohl in Deutschland? Tausend? Zehntausend? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, darunter 2-3 zu finden, die sich gerne interviewen lassen, ohne die rechnerischen Grundlagen der Epidemiologie zu verstehen? Ziemlich groß. Aber diese Überlegung beruht ja auch auf Mathematik, der ungeliebten Wissenschaft der Zahlen.

Der Coronaflüsterer

So lauschen Hunderttausende auf YouTube den eindringlichen Worten von Sucharit Bhakdi samt seinen „fünf Fragen“ an die Bundeskanzlerin, und ich bin froh, wenn sie besseres zu tun hat, als darauf zu antworten. Manche seiner Argumente wären sogar plausibel, ginge es darum, eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen. Aber der Professor lebt im Elfenbeinturm. Man kann nicht im Verlauf einer Pandemie, bei der wenige Tage über viele Menschenleben entscheiden, Wochen dauernde statistische Erhebungen einfordern.

Der Mann versteht nicht, worauf es ankommt. Natürlich sind die italienischen Todeszahlen zu hoch gegriffen. Aber sollen die Ärzte in Bergamo deswegen nebenbei schnell 500 Leichen in Schutzausrüstung obduzieren, um die Todesursachenstatistik zu verfeinern? Mag sein, dass 50 Prozent der Infizierten asymptomatisch sind. Aber was macht das für einen Unterschied? Die Luftverschmutzung in der Lombardei spiele eine Rolle. Mag sein. Und in Wuhan, Madrid, New York, Straßburg, Rosenheim? Und was ist, wenn es nicht so ist?

Bhakdi verlangt, dass Maßnahmen erst ergriffen werden, wenn die Gefährlichkeit des Virus gesichert sei. Was für ein Unsinn. Man muss vorsorgen, solange die Ungefährlichkeit nicht gesichert ist. In die gleiche Kerbe haut Stanford-Koryphäe John Ioannidis, der im Focus Maßnahmen „ohne zuverlässige Datenbasis“ beklagt.

Nassim Taleb, einer der wenigen Denker, die Ereignisse wie die Corona-Krise vorhergesehen haben, spottet nicht zu Unrecht, Ioannidis empfehle „den Abschluss einer Versicherung, sobald man das Ausmaß des Schadens kennt“. Überhaupt wünscht man sich, dass mehr Leute mit einer rationalen Risikostrategie aus dem schwarzen Schwan vertraut wären: Man richtet sich eben auf den worst case ein, anstatt zu phantasieren, „vielleicht geht das Virus im Sommer weg“.

High Noon für Irrationalität

Man fragt sich eigentlich, warum die Feuerwehr noch ausrückt in Deutschland, so ganz ohne Datenbasis. Weiß man denn genau, ob das Gebäude überhaupt brennbar ist? Ob da Menschen drin sind, vielleicht sogar unter 80 Jahren? Ob der Rauch wirklich so giftig ist? Halten nicht die Menschen schon seit Jahrhunderten ein Lagerfeuer ganz gut aus? Dies ist leider die Art von Überlegungen, die im Moment auf den alternativen Nachrichtenportalen kursieren.

Paul Schreyer, Autor von ausgezeichneten Büchern, behauptet aus dem Handgelenk, die höheren Infiziertenzahlen würden durch mehr Tests generiert. Falsch, denn sonst würden in Italien nicht ca. 10% anschlagen und in Südkorea und Russland nur ca. 0,1%. Vor allem ist das Argument aber völlig irrelevant im Hinblick auf die anstehenden Entscheidungen.

Am tiefsten in der faktenfreien Blase verhaftet ist das Magazin Rubikon, in dem man zum Thema Corona wirklich alles findet – vom Geschwafel über einen neuen Faschismus durch Corona bis hin zu menschenverachtenden Phantasien, die Alten könne man ja sterben lassen. Die Nachdenkseiten sind im Vergleich dazu eine Oase.

KenFM, ebenfalls von mir geschätzt, schreibt, Corona könne es nicht mit der Spanischen Grippe von 1918 aufnehmen. Schön, aber soll es das? Die illegalen Kriege des Westens im Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen, Jemen usw., gegen die sich Jebsen in den letzten Jahren verdienstvoll positioniert hatte, konnten es auch nicht mit den Toten des Ersten Weltkriegs aufnehmen, aber was ist das für ein Argument?

Die alternative Blase

Ich erkläre mir das Phänomen so, dass sich diese Medien in einer ähnlichen Echokammer befinden, wie die von ihnen zu recht kritisierten Mainstreammedien, die uns in den letzten Jahren mit dem transatlantischen Narrativ zu weltpolitischen Ereignissen beglückt haben. Um das einzuordnen: Ich hüte mich, den Begriff „Verschwörungstheorie“ unüberlegt zu gebrauchen, glaube weder an einen Einzeltäter in Dallas, noch an die offizielle Version von 9/11, noch an die vielen Märchen, die uns über die Ukraine, MH17, Syrien, die Skripals und einige andere „Terroranschläge“ von den westlichen Regierungen und ihren folgsamen Medien aufgetischt wurden.

In diesen Fällen gab es jedoch regelmäßig geostrategische Interessen und plausible Motive im Hintergrund. Aber die Vorstellung, dass der US-Deep State plötzlich zusammen mit Trump, Putin, Xi Jinping, Modi und den Europäern eine „Corona-Hysterie“ inszeniert, um einen gemeinsamen geheimen Plan umzusetzen, ist doch ein bisschen paranoid.

Gibt es vielleicht noch andere Böse? Ach ja, Bill Gates. Seit Ebola 2014 warnt er davor, dass die Welt – was ziemlich idiotisch ist – einer Pandemie unvorbereitet gegenübersteht. Wahrscheinlich redet er jede Woche davon, zuletzt im Oktober 2019, deswegen muss er ja an dieser Pandemie schuld sein, klar. Die Verantwortlichkeit für den nächsten Asteroiden auf Kollisionskurs und die nächste Sonneneruption wäre damit auch geklärt. Nebenbei: Die Frage nach dem Ursprung des Virus, der es sich lohnen würde, bei Gelegenheit nachzugehen, wird kaum gestellt.

Noch etwas treibt mich um: Warum haben die internationalen Alternativmedien wie The InterceptMoon of alamaba.orgConsortiumnews noch nichts von der Erkenntnis ihrer deutschen Investigativkollegen mitbekommen, Corona sei nur ein Hype?

Ich bin erst mal froh, dass die zynische Idee, die Bevölkerung von einer Krankheit mit noch unerforschten Folgen befallen zu lassen, anscheinend ad acta gelegt wurde – was angesichts des Geisteszustands eines Trump, Johnson oder Bolsonaro keineswegs selbstverständlich war. Wäre es nicht einen Hauch von Anerkennung wert, dass die Auswüchse des Neoliberalismus, die auf der ganzen Welt Leid und Tod verursachen, hier nicht zur perversen Spitze getrieben wurden, indem man weitere Millionen Menschen opfert, um den Planeten weiter unbehelligt zu strapazieren?

Lieber nachdenken für später als sofort schreien

Nicht alles, was angeordnet wurde, ist perfekt. Thomas Moser bemerkt zum Beispiel, warum „Hygienedemos“ mit Schutzmasken und Mindestabstand nicht erlaubt sein sollten, und er hat Recht. Ich würde es wahrscheinlich begrüßen, wenn ein Oberverwaltungsgericht in 3-4 Wochen zu strenge Regeln (sollte es sie dann noch geben) kippt, deren Einhaltung nicht plausibel der Infektionsvermeidung dient. Aber würde ich heute demonstrieren?

Ich finde, man könnte den Verantwortlichen, die ja nicht wenig zu tun haben, auch etwas Zeit lassen, sinnvoll nachzujustieren. Sicher muss die Mobilitätseinschränkung früher oder später einem intelligenterem smart distancing weichen. Aber die absolute Priorität liegt im Moment ohnehin, alle zum Tragen von Schutzmasken zu bewegen. Genauso wichtig ist die Isolierung der Kranken.

Handydaten werden mit Sicherheit ein heiß diskutiertes Thema. Aber ganz ehrlich: Glaubt irgendjemand 7 Jahre nach Snowden und nach Glenn Greenwalds No Place to Hide, dass er nicht getrackt und totalüberwacht ist, wenn es darauf ankommt? Maßnahmen mit klarem Ablaufdatum kann man auch hier im Interesse der Sache in Kauf nehmen. Natürlich gibt es Figuren, die die Situation ausnutzen wollen, wie Orban mit seinem Ermächtigungsgesetz oder die unsäglich dummen Forderungen nach mehr Internetzensur von Seiten der EU. Der Kampf dagegen muss aber ohnehin geführt werden und hängt wenig davon ab, wie weit ich im Park joggen kann. Schließlich, dass mich nicht jemand missversteht: Ich setze mich vorbehaltlos ein für die Meinungsfreiheit der Publikationen, die ich oben kritisiert habe.

Es ist nur schade, wenn sie sich in der jetzigen Ausnahmesituation durch ihr Weltbild, alles Böse komme von oben, weiter disqualifizieren. Denn wenn man eines Tages die Lehren aus Corona zieht – etwa die elementare Daseinsvorsorge dem System der kurzfristigen Profite zu entziehen, werden Stimmen gebraucht werden, die der neoliberalen Ideologie Paroli bieten. Dann könnte diesen Medien der Unsinn, den sie heute erzählen, auf die Füße fallen.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch „Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur – Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten“ erschien 2019 im Westend-Verlag.