Steuergeld für Naziklagen

Quelle: Kontext – Ausgabe 475 – 06.05.2020 – Von unserer Redaktion

Steuergeld für Naziklagen

Die AfD-Fraktion im Stuttgarter Landtag hat vier missglückte Versuche ihrer Mitarbeitenden, juristisch gegen Kontext vorzugehen, aus Fraktionsgeldern bezahlt. Ob das rechtmäßig ist, weiß keiner.

Ende Novermber 2019 hat Kontext unter dem Titel „Nazis in der zweiten Reihe“ einen Text veröffentlicht, der einigen Mitarbeitenden der AfD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg auf den Zahn fühlt und deren frühere oder aktuelle Verbindungen zur extremen Rechten aufzeigt. Wie zu erwarten, trafen wenig später vier Abmahnungen zu diesem Text ein. Die Kanzlei, die auch Marcel Grauf gegen Kontext vertritt, den Mitarbeiter der AfD-Abgeordneten Christina Baum und Heiner Merz, forderte uns im Namen ihrer Mandanten auf, insgesamt vier Unterlassungserklärungen zu unterschreiben.

Die Begründung in allen vier Fällen: Eine identifizierende Berichterstattung, also die Nennung der Vor- und Zunahmen der betreffenden Personen in unserem Artikel, sei nicht zulässig. Zudem seien die belastenden Informationen falsch. So habe etwa, um ein Beispiel zu nennen, Armin Allmendinger die erwähnten Artikel für die NPD-Zeitung „Deutsche Stimme“ nicht geschrieben. Und wenn dennoch Artikel von ihm erschienen seien, dann „ohne sein Wissen und Wollen“. Kontext liegen Allmendingers Texte vor. Ohne „Wissen und Wollen“? Da sind zumindest Zweifel angebracht.

Insgesamt haben neben Allmendinger auch die Mitarbeitenden Laurens Nothdurft, Meike Hammer und Reimond Hoffmann, Kreisrat in Rottweil und Gemeinderat der Stadt, in jeweils ähnlichem bis gleichem Wortlaut beim Landgericht Frankfurt am Main Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Verfügung gestellt.

Kontext hat keine Unterlassungserklärung abgegeben. Stattdessen haben unsere Anwälte eine Schutzschrift hinterlegt, mitsamt der Belege, auf die sich der angemahnte Artikel stützt. Das Landgericht Frankfurt hat den Antragstellern einen ausführlichen Hinweis erteilt und auf die geringen Erfolgsaussichten hingewiesen. So sei die Unwahrheit der angegriffenen Tatsachen nicht ausreichend glaubhaft gemacht und bei „Nazis“, „rechtsradikale“ und „Mitarbeitende mit braunen Flecken auf der Weste“ handele es sich im Zusammenhang mit der Berichterstattung um zulässige Meinungsäußerungen. Die vier Mitarbeitenden haben daraufhin ihre Anträge zurückgenommen und mitgeteilt, dass sie auf die geltend gemachten Ansprüche verzichten und diese nicht weiterverfolgen. Folgerichtig hat das Landgericht die Antragsteller dazu verpflichtet, die Kosten des Verfahrens zu jeweils einem Viertel zu tragen. Pro Person macht das 742 Euro und zehn Cent.

Die Verfahrenskosten überwiesen hat allerdings die AfD-Landtagsfraktion.

Nun ist allein schon fragwürdig, dass eine Fraktion im Landtag Leute beschäftigt und nachhaltig an ihnen festhält, die nachgewiesenermaßen Verbindungen zur extremen Rechten hatten oder haben: zur NPD, zur vom Verfassungsschutz beobachteten und inzwischen als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuften Identitären Bewegung oder zur mittlerweile verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend. Drei Minuten googeln reichen mittlerweile aus, um zu wissen, wen man da eingestellt hat.

Dass allerdings die Kosten von vier missglückten und auf Falschbehauptungen fußenden Abmahnversuchen gegen die Presse dann auch noch aus der Fraktionskasse gezahlt werden, ist bedenklich. Dürfen die das? Dürfen die, unter Verwendung von Steuergeldern, die zur Wahrnehmung der politischen Aufgaben, zur Organisation und Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes einer Fraktion eingesetzt werden sollen, den Versuch unternehmen, kritische Medien mundtot zu machen?

Naturgemäß antwortete die AfD-Fraktion nicht auf mehrfache Anfragen zur Sache. Diverse Verwaltungsrechtler, die Kontext angefragt hat, können diese Frage nicht beantworten. Zu speziell. Der Rechnungshof Baden-Württemberg schreibt, man habe sich zu „dieser Problematik noch nicht geäußert“. Die Verwendung von Fraktionsgeldern für Gerichtsverfahren von Mitarbeitern der Fraktion sei „bislang nicht Gegenstand von Prüfungen des Rechnungshofs“ gewesen.

Auch der Bundesrechnungshof antwortet in diesem Sinne. Dort sei diese Frage bisher ebenfalls noch nicht aufgetaucht, ergo noch nie geprüft worden. Die Landtagsverwaltung selbst wiederum verweist zurück an den Landesrechnungshof. Man möchte die Prüfung nach Ablauf der Wahlperiode abwarten. Dann warten wir ab. Dem Landesrechnungshof sei dieser Text zur Archivierung empfohlen

Corona und die nächste Eurokrise

Quelle: Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft

https://www.prokla.de/index.php/PROKLA

Autoren: Etienne Schneider  Felix Syrovatka – Apr 2020

 Corona und die nächste Eurokrise

Die Corona-Pandemie entwickelt sich zu einer weltweiten Wirtschaftskrise. Dadurch droht auch eine neuerliche Eurokrise, denn die Eurozone ist heute fragiler als am Beginn der letzten Eurokrise. Zum einen wurde die Eurokrise in Südeuropa, trotz aller Stabilisierungsversuche, bis heute nicht überwunden, zum anderen wurden institutionelle Reformen an der Architektur der Währungsunion in den vergangenen Jahren blockiert. Darüber hinaus steht mit Italien nun jenes Land im Fokus, in dem sich bereits vor der Corona-Pandemie die Widersprüche der ungleichen Entwicklung in Europa kumuliert und verdichtet haben. Vor diesem Hintergrund diskutiert der Artikel abschließend Gefahren und Chancen, die auf progressive Akteure angesichts einer neuen Eurokrise zukommen könnten.

Die Corona-Krise wird gerne mit einem „externen Schock“ (von der Leyen) oder einer Naturkatastrophe verglichen, die von außen über unsere Gesellschaft hereinbricht (Neumann/Pichl 2020).

Doch auch Pandemien fallen nicht einfach vom Himmel. Sie entwickeln sich unter gesellschaftlichen Verhältnissen und damit verbundenen spezifischen Formen des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. Das gilt bereits für die Entstehung der Epidemie. Kapitalistische Expansion und Landnahme befördern das Aufkommen von Infektionskrankheiten, die wie das SARS-CoV-2 zwischen Tier und Mensch übertragen werden. Durch die Abholzung von Wäldern für industriell-monokulturelle Landwirtschaft werden natürliche Barrieren durchbrochen, weil Wildtiere mit bislang unbekannten Viren aus ihren Habitaten vertrieben werden und so in Kontakt mit Nutztieren und Menschen kommen (Liu u. a. 2014; Shah 2020).

Der Vergleich der Corona-Krise mit einer bloßen Naturkatastrophe hinkt noch stärker, wenn man die globale Ausbreitung des Virus betrachtet.

Nicht nur hat sich Covid-19 trotz Isolation ganzer Millionenstädte wegen der in den letzten Jahrzehnten immer enger gewordenen Verflechtung Chinas in den kapitalistischen Weltmarkt rasant zu einer Pandemie ausweiten können (vgl. Schmalz in diesem Heft). Entscheidend für die Ausbreitung war auch, dass in Europa die Austeritätspolitik seit der Krise die Gesundheitssysteme in vielen Ländern schwer beschädigt hat und viel zu spät konsequente Maßnahmen zur Eingrenzung des Virus ergriffen wurden.

In genau jenem Moment Anfang März, als die EU zur Abriegelung ihrer Außengrenzen nicht einmal mehr davor zurückschreckte, Griechenland bei der Außerkraftsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention zu unterstützen, setzte sich die Europäische Kommission vehement gegen Grenzschließungen innerhalb des Schengen-Raums zur Eindämmung von Covid-19 ein (Gutschker 2020). Offensichtlich wurde der Erhalt der vier Grundfreiheiten (freier Personen-, Waren, – Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) – der symbolträchtigen Eckpfeiler des neoliberalen Binnenmarktprojekts (Ryner/Cafruny 2017) – als bedeutender eingeschätzt als eine konsequente Eindämmung der drohenden Pandemie durch eine Verringerung des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs.

Richtiggehend falsch ist der Vergleich der Corona-Krise mit einer Naturkatastrophe, wenn die sich nun entfaltende Wirtschafts- und Finanzkrise allein auf das Virus selbst und die Maßnahmen zu seiner Eindämmung zurückgeführt wird (Deutsche Bundesbank 2020: 5).

Vielmehr legt die Pandemie – wie auch 2007 das Platzen der Subprime-Blase auf den US-amerikanischen Immobilien- und Finanzmärkten – bestehende neuralgische Punkte und Krisentendenzen offen.

Beim Börsencrash Anfang März platzten in erster Linie Spekulationsblasen. Diese hatten sich vor dem Hintergrund einer schon länger schwachen produktiven Kapitalakkumulation durch das weltweite Überangebot an Liquidität, vor allem im Zuge der historisch beispiellosen langfristigen Zinssenkungen und der Quantitative Easing-Programme von Fed und EZB, gebildet (Lapavitsas 2020). Vor allem der amerikanische Aktienmarkt galt seit Jahren als stark überbewertet (NZZ, 9.5.2017). Dem gegenüber stehen angehäufte Überkapazitäten in der industriellen Produktion, speziell im Automobilsektor, aber auch in der Chemie- und Stahlindustrie, welche seit Jahren nicht abgebaut wurden.

In Deutschland war die Industrie bereits seit 2018 mit einer rückläufigen Wertschöpfung und einer Verwertungskrise des Kapitals konfrontiert (BDI 2019) – der Konjunkturzyklus, der nach der Weltfinanzkrise 2008 seinen Anfang nahm, neigte sich also spätestens 2019 seinem Ende entgegen.

Grundlegender Unterschied zur Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007

Zugleich unterscheidet sich die Corona-Krise grundlegend von der letzten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007. Während diese durch das Platzen der Subprime-Blase in den USA ausgelöst wurde und von den Finanzmärkten auf den produktiven Kapitalkreislauf übergriff, kommen durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus eine Vielzahl ‚realwirtschaftlicher‘ Sektoren, insbesondere der Tourismussektor, die Gastronomie, die Luftfahrt und der Nichtlebensmittel-Handel fast vollständig zum Erliegen.

Hinzu kommt die Einstellung der Produktion in weiten Teilen der Industrie. Der Einbruch dieser Sektoren zieht durch die wegbrechende Nachfrage alle weiteren Sektoren in den Krisensog hinein (Bayer 2020, Lapavitsas 2020). Die damit verbundenen Kreditausfälle und der Preisverfall an den Anleihen- und Aktienmärkten wird das ohnehin schon fragile Banken- und Finanzsystem hart treffen. Der Ausfall sogenannter Leverage Loans und Collateralized Loan Obligations, d. h. verbriefter Kredite an hoch verschuldete Unternehmen, wird diese Erschütterung noch verschärfen (IWF 2019).

Wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 droht aber auch die Corona-Krise – so unsere These – durch die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) in Europa zusätzlich verschärft zu werden. Diese Eurokrise 2.0 könnte deutlich tiefer, härter und für die WWU existenzbedrohender verlaufen als die letzte Krise.

Dafür gibt es mindestens drei Indizien:

  • Erstens wurde die Eurokrise von 2008/2009 trotz anderweitiger offizieller Behauptungen nie vollständig überwunden.
  • Zweitens wurden die grundlegenden Widersprüche bzw. ‚Konstruktionsfehler‘ der WWU trotz einer mittlerweile über acht Jahre geführten Reformdiskussion nicht beseitigt (Schneider/Syrovatka 2018).
  • Drittens steht mit Italien – jenem Land, in dem sich die Widersprüche der WWU bereits seit einigen Jahren auf besondere Weise verdichten – dieses Mal kein vergleichsweise kleines, peripheres Land wie Griechenland, sondern die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, im Brennpunkt der Krise (Sablowski et al. 2018).

Ewig schwelt die Eurokrise

Entgegen allen offiziellen Verlautbarungen der europäischen Institutionen wurde die Eurokrise nie gänzlich überwunden.

  • Zwar gingen die Leistungsbilanzungleichgewichte durch die Austeritätspolitik zurück, vor allem in den südeuropäischen Krisenstaaten blieb die Konjunkturentwicklung nach den verheerenden Krisenjahren aber schwach. Das griechische BIP war im vergangenen Jahr auf dem Niveau von 2002. Aber auch Spanien, Portugal, Italien und selbst Frankreich konnten bis heute nicht ihr wirtschaftliches Vorkrisenniveau erreichen (IWF 2020).
  • Dementsprechend blieb auch die Arbeitslosigkeit auf einem hohen Niveau, insbesondere unter jungen Menschen.
  • Die durchschnittlichen Reallöhne stagnierten oder sanken, wie in Spanien oder Italien, die soziale Ungleichheit nahm zu, während die Staatsverschuldung explodierte.
  • Allein Griechenland sitzt auf einem Schuldenberg von 180 Prozent seines BIPs, trotz des Schuldenschnitts im Jahr 2012 ein Plus von 38 Prozent gegenüber 2010 (EZB 2020).

Die so weiter schwelende Eurokrise wurde durch die Politik der EZB überdeckt. Zwar gelang es der EZB seit Mario Draghis Devise „whatever it takes“ 2012 mit ihrem Anleihenkaufprogramm, die Risikoaufschläge für südeuropäische Staatsanleihen zu senken und die akute Phase der Eurokrise zu beenden. Die tieferliegenden Krisentendenzen wurden dadurch aber nicht bearbeitet, sondern nur zeitweilig unterdrückt. Immer wieder kam es zu sprunghaften Anstiegen der Risikoaufschläge auf die Staatsanleihen der südeuropäischen Länder. Auch nach dem Ausbruch des Corona-Virus in Italien stiegen die Risikoaufschläge wieder rasant an.

 Die blockierte Reform der Eurozone: das historische Versagen der EU

Dass die südeuropäischen Mitgliedsstaaten durch die Corona-Krise auf den Finanzmärkten Anfang März erneut massiv unter Druck gerieten, offenbart das historische Versagen der EU.

Die europäischen Eliten haben den Konjunkturzyklus der letzten zehn Jahre verstreichen lassen, ohne die grundlegenden Widersprüche und Konstruktionsfehler der WWU zu beheben. Diese ergeben sich – grob vereinfacht – aus zwei Besonderheiten der Architektur der WWU.

  • Erstens stehen der supranationalen Geldpolitik der EZB keine effektiven Ausgleichs- und Risikoteilungsmechanismen gegenüber, d. h. Instrumente, die der Entwicklung von Ungleichgewichten zwischen Ländern und Regionen entgegenwirken (Becker u. a. 2015; Holman 2004).
  • Zweitens darf die EZB wegen des verankerten Verbots der „monetären Staatsfinanzierung“ anders als andere Zentralbanken nicht unmittelbar als „Lender of Last Ressort“ gegenüber den Euroländern auftreten, d. h. im Krisenfall unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen. Dadurch könnten die Euroländer im Prinzip zahlungsunfähig werden, was spekulative Attacken auf den Finanzmärkten gegen einzelne Mitgliedsstaaten ermöglicht.

Diese Widersprüche wurden in der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 offensichtlich und sowohl von den europäischen Institutionen als auch von den europäischen Staats- und Regierungschefs intensiv diskutiert. Zentraler Gegenstand dieser Diskussion war seit 2012 die Einführung und der Ausbau von Mechanismen zur Risikoteilung und Konvergenz zwischen den Mitgliedsstaaten. Dazu gehörten insbesondere die Forderung nach gemeinsamen Staatsanleihen der Euro-Länder, sog. Eurobonds, die Schaffung des Postens eines europäischen Finanzministers samt einem umfangreichen Eurozonenbudget zur Förderung von Konvergenz und zum Ausgleich „asymmetrischer Schocks“ sowie die Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Einlagensicherung im Euroraum (Übersicht siehe: Schneider/Syrovatka 2019).

Diese Forderungen, vor allem von französischer und südeuropäischer Seite erhoben und in Deutschland auch von den Gewerkschaften unterstützt, heben freilich den grundsätzlich krisenhaften Charakter kapitalistischer Akkumulation nicht auf, könnten aber dazu beitragen, dass die Widersprüche der WWU nun nicht abermals zum Brandbeschleuniger einer tieferliegenden Krise werden.

Doch die Widerstände waren groß. Neben der „Hanseatischen Liga“ aus den Niederlanden, Finnland und den baltischen Ländern (Guntrum 2019a) wurden die Reformvorschläge vor allem durch die deutsche Bundesregierung blockiert. Zwar betrachtet der deutsche Machtblock den Euro als zentrales Element seiner weltmarktorientierten Exportstrategie, die Kosten seiner Stabilisierung und Verteidigung sollten jedoch auf ein Minimum begrenzt und soweit wie möglich ausgelagert werden. Daher wurde in Südeuropa eine Austeritätspolitik durchgesetzt, die nicht nur soziale Infrastrukturen wie das Gesundheitssystem massiv beschädigte, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Jahren erheblich schwächte (Sablowski u. a. 2018).

Verschärft wird diese Situation dadurch, dass die Finanzmärkte auch nach der Finanzkrise 2007ff. weitestgehend unreguliert blieben. Mehr noch: Die für die Finanzkrise 2007ff. ursächlich verantwortliche Kreditverbriefung wurde durch die Kommission im Rahmen der Kapitalmarktunion wiederbelebt und mit der Einführung sogenannter STS-Verbriefungen neue Finanzmarktrisiken geschaffen (Theobald u. a. 2017: 9-13).

Auch eine europäische Finanztransaktionssteuer fehlt bis heute. Zugleich blieb die Europäische Bankenunion aufgrund des deutschen Widerstands weiter unvollendet. So fehlt bis heute eine europäische Einlagensicherung, eine Regulierung des Schattenbankensystems ebenso wie eine gemeinsame Letztsicherung („Back-Stop“) zur Abwicklung von Banken.

Gerade diese wäre derzeit von zentraler Bedeutung, finden sich in den Bilanzen europäischer Banken doch nach wie vor notleidende Kredite in Höhe von 786 Milliarden Euro (EZB 2020). Die Corona-Krise trifft damit nicht nur auf eine fragile Währungsunion, sondern zugleich auf ein immer noch instabiles und unzureichend reguliertes europäisches Finanzsystem (Guntrum 2019b).

Italien als Epizentrum der Eurokrise 2.0.

Als wäre dies nicht bereits genug, nahm die Ausbreitung des Corona-Virus mit Italien auch noch in jenem Land zuerst einen dramatischen Verlauf, in dem sich die Widersprüche der WWU schon seit einigen Jahren akkumulieren und verdichten (Sablowski u. a. 2018).

Die italienische Industrie kam bereits vor der ersten Eurokrise massiv unter Druck, da die preisliche Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr durch Währungsabwertung erhalten werden konnte. Die damit verbundene De-Industrialisierung wurde durch die Krise nochmals verstärkt und erklärt die lang anhaltende wirtschaftliche Stagnation. Das BIP befindet sich heute auf dem Niveau von 2006. Im vierten Quartal 2019 schrumpfte die italienische Wirtschaft sogar um 0,3 Prozent, sodass Italien auch ohne die Corona-Pandemie in eine Rezession abgerutscht wäre (EZB 2020). Diese ökonomischen Krisentendenzen verschränkten sich mit der Erosion des traditionellen Parteiensystems und dem Aufstieg der Lega sowie der Fünf-Sterne-Bewegung zu einer politischen Krise.

Zugleich ist die Staatsverschuldung mit 136 Prozent des BIPs die zweithöchste in der Eurozone. Hinzu kommt ein enorm fragiles Banken- und Finanzsystem. Noch immer verstecken sich in den Bilanzen der italienischen Banken ausfallgefährdete Kredite in Höhe von knapp 350 Milliarden Euro, was in etwa sieben Prozent der Gesamtverbindlichkeiten entspricht (EZB 2020).

Unternehmenspleiten im Kontext der Quarantänemaßnahmen könnten daher eine Kaskade an Bankeninsolvenzen verursachen. Das Einspringen des italienischen Staates mit Rettungsprogrammen („Bail-Out“) scheint vor dem Hintergrund der geringen Größe des europäischen Abwicklungsfonds wahrscheinlich, zumal ein „Back-Stop“ immer noch fehlt. Dadurch droht abermals ein verheerender Teufelskreis von Banken- und Staatsschuldenkrise, welcher jedoch mit Italien die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone treffen und damit die Währungsunion insgesamt in den Abgrund reißen könnte.

 Gefahren und Chancen für die Linke

Die Kontingenz der aktuellen historischen Situation macht es für progressive Akteure in Europa schwierig, sich auf zukünftige Auseinandersetzungen vorzubereiten.

Sicher ist, dass die bisherige Kapazität des in der letzten Krise geschaffenen europäischen Rettungsschirm ESM nicht ausreicht, um eine drohende Staatspleite Italiens abzuwenden. Daher sah sich die EZB bereits Mitte März gezwungen, mit einem bis dato beispiellosen Anleihekaufprogramm, dem Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) im Umfang von 750 Milliarden Euro, dem rasanten Anstieg der Risikoaufschläge auf italienische Staatsanleihen entgegenzutreten und Draghis Devise „whatever it takes“ von 2012 zu erneuern.

Dies führte zu heftigen Konflikten innerhalb des EZB-Rates. Denn durch das PEPP könnte die EZB bald mehr als ein Drittel der gesamten Staatsanleihen einiger Länder halten, was ihr eine politisch heikle Sperrminorität bei der Frage etwaiger Schuldenrestrukturierungen verschaffen würde.

Unklar ist angesichts des durchaus dramatischen Verlaufs der Krise auch, wie lange es der EZB gelingt, die Risikoaufschläge auf italienische und andere südeuropäische Staatsanleihen mit ihrem Anleiheprogramm nach unten zu drücken. Vor diesem Hintergrund wird von den südeuropäischen Euroländern und Frankreich wieder die Forderung nach Euro-Anleihen erhoben, seien sie befristet (Corona-Bonds) oder nicht (Euro-Bonds).

Diese werden von Deutschland, den Niederlanden, Österreich und Finnland zwar nach wie vor blockiert. Doch die vorsichtige Unterstützung von Euro-Bonds durch Isabel Schnabel, dem deutschen EZB-Direktoriumsmitglied (FAS, 23.3.2020), der sich inzwischen auch das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft angeschlossen hat (Matthes/Demary 2020), und die darauf folgende prompte Ablehnung von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (Handelsblatt, 23.3.2020) zeugen von erheblichen Spannungen selbst innerhalb des deutschen Machtblocks.

Aus unserer Sicht sind ausgehend von dieser Situation derzeit mindestens drei Szenarien für den Verlauf der drohenden Eurokrise 2.0 denkbar:

Szenario 1 – Auseinanderbrechen der Eurozone und Gefahr einer weitreichenden Renationalisierung:

Italien kommt durch spekulative Attacken auf den Finanzmärkten immer weiter unter Druck, zugleich verschärft sich die Krise des ohnehin fragilen italienischen Bankensystems. Es kommt zusätzlich zu den vielen notleidenden Krediten zu einer Kaskade weiterer Kreditausfälle. Da sich der gemeinsame europäische Bankenabwicklungsmechanismus als zu klein und zu zahnlos erweist, versucht der italienische Staat, durch finanzielle Hilfsprogramme das Bankensystem vor dem Zusammenbruch zu bewahren, was in den oben beschriebenen Teufelskreis von Banken- und Staatsschuldenkrise führt und Italien immer stärker ins Kreuzfeuer spekulativer Attacken auf den Finanzmärkten bringt.

Darüber hinaus steigen die Risikoaufschläge für Spanien, Portugal und Griechenland, da auch in diesen Ländern die Banken mit erheblichen Ausfallrisiken konfrontiert sind und die für die südeuropäischen Ökonomien bedeutende Tourismusbranche brachliegt.

Die EZB stemmt sich dieser Dynamik mit Anleihekaufprogrammen entgegen, die Konflikte im EZB-Rat eskalieren jedoch. Die nordeuropäischen Mitgliedstaaten sehen die unbegrenzte Ausweitung der Anleihekäufe als Verstoß gegen das Mandat der EZB und blockieren alle weiteren Anleihekaufprogramme, wodurch die Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen in die Höhe schießen und eine Refinanzierung an den Kapitalmärkten unmöglich wird. Euro- bzw. Corona-Bonds werden von Deutschland, den Niederlanden, Österreich und Finnland dennoch weiter blockiert, wodurch sich die Konflikte auch im Europäischen Rat immer weiter zuspitzen.

Ein Einsatz des ESM zur Abwendung einer italienischen Staatspleite wird erwogen, doch die benötigten Summen zur Refinanzierung übersteigen das Ausleihvolumen des ESM. Eine Aufstockung der derzeit verfügbaren 410,1 Milliarden Euro ist in Deutschland aufgrund der auch dort immensen Kosten zur Stabilisierung der Wirtschaft nicht durchsetzbar. Italien wird zahlungsunfähig, die Eurozone bricht auseinander oder schrumpft zumindest auf eine Kern- bzw. Rumpf-Eurozone aus den nordeuropäischen Ländern, möglicherweise unter Einschluss Frankreichs, zusammen. Dieses Szenario ist denkbar, aufgrund der enormen Bedeutung des Euro für das weltmarktorientierte Kapital in Deutschland und für die geopolitische Rolle der EU insgesamt aber unwahrscheinlich.

Szenario 2 – Pragmatische Stabilisierung und neoliberaler Backlash:

Die EZB stockt ihre Anleihekäufe immer weiter auf, anders als 2010 unterdrückt sie die Spekulationsdynamik gegen die schwächsten Mitgliedsländer der Eurozone aber gleich zu Beginn der Krise.

Eine Eurokrise 2.0 steht zwar noch mehrere Monate im Raum, sie eskaliert jedoch nicht in gleicher Weise wie zwischen 2010 und 2012. Zugleich einigen sich die Staats- und Regierungschefs nach harten Konflikten zwischen den nord- und südeuropäischen Staaten auf eine neuartige, umfangreiche Kreditlinie („Covid Credit Line“) innerhalb des ESM und Notkredite der Europäischen Investitionsbank (EIB), womit die europäische Unterstützung für die Krisenländer, insbesondere Italien, an eine Konditionalität, d. h. die Umsetzung von Strukturreformen, gebunden wäre.

Möglicherweise einigen sich die Staats- und Regierungschefs sogar auf zeitlich und in ihrem Umfang begrenzte Corona-Bonds, die die Situation in Südeuropa zusätzlich stabilisieren. Dies wäre dann vorstellbar, wenn sich das ESM-Kreditvolumen im weiteren Krisenverlauf als zu niedrig erweist und eine schnelle Aufstockung notwendig erscheint. Dabei drängen die nordeuropäischen Mitgliedsstaaten jedoch darauf, die Anleihen über den ESM zu emittieren (Pröbstl 2020). Dies zielt auf eine Stärkung des ESM – das zentrale Durchsetzungsvehikel der Austeritätspolitik – und die Beibehaltung des Prinzips der Konditionalität bei den Rettungsmaßnahmen. Denkbar ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass die nordeuropäischen Mitgliedsstaaten eine Verlagerung der Überwachungskompetenzen von der Europäischen Kommission zum ESM zur Bedingung möglicher Corona-Anleihen machen – eine Maßnahme, die vom deutschen Finanzministerium schon seit Längerem angedacht ist (BMF 2017).

Sowohl gemeinsame europäische Anleihen jeglicher Form als auch die Aussetzung der Obergrenze für EZB-Anleihekäufen waren in der Vergangenheit rote Linien für die deutsche Politik.

Dementsprechend kommt es zu heftigen Konflikten im deutschen Machtblock und einem neuerlichen Erstarken der AfD. Um diese Risse im Machtblock zu kitten, pocht Deutschland gemeinsam mit anderen nordeuropäischen Ländern darauf, dass die europäischen Fiskalregeln nach ihrer derzeitigen Aussetzung nicht nur möglichst bald wieder in Kraft gesetzt, sondern auch noch rigoroser durchgesetzt werden.

Die stark gestiegene Staatsverschuldung überall in Europa bietet ebenso wie nach der letzten Krise die Rechtfertigung für drastische austeritätspolitische Einschnitte mit abermals verheerenden sozialen Folgen. Auch in Deutschland nutzen die neoliberalen Eliten die Krise, um weitere Einschnitte in den Sozialsystemen sowie eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durchzusetzen. Die bescheidenen klimapolitischen Errungenschaften (Kohleausstieg, Flottenemissionsziele) der vergangenen Jahre werden unter dem Vorwand verschleppt, dass ‚die Wirtschaft‘ um jeden Preis und so schnell wie möglich wieder hochgefahren werden muss.

Szenario 3 – Die Krise als Möglichkeitsfenster für eine postneoliberale Politik der sozialen Infrastrukturen und der sozial-ökologischen Transformation:

Die Krise entwickelt sich zunächst wie in Szenario 2. Die Erfahrung der Bedeutung eines gut funktionierenden öffentlichen Gesundheits- und Pflegesystems und anderer kritischer sozialer Infrastrukturen der Fundamentalökonomie hat sich durch die Corona-Krise aber derartig tief in das kollektive Bewusstsein eingeschrieben, dass sich an vielen Orten breite gesellschaftliche Bündnisse gegen austeritätspolitische Einschnitte und für eine fundamentalökonomische Erneuerung organisieren (Foundational Economy Collective 2020).

Einzelne Länder, unterstützt durch progressive Bündnisse in den anderen Mitgliedstaaten, setzen sich auch nach ihrer Wiederinkraftsetzung gezielt über die Fiskalregeln im Sinne eines „strategischen Ungehorsams“ (Schneider/Mittendrein 2017) hinweg, wodurch diese nach und nach unterhöhlt und letztlich fallengelassen werden.

Anstelle von austeritätspolitischen Einschnitten werden die öffentlichen Haushalte einnahmeseitig, etwa durch die Einführung bzw. Erhöhung von Vermögens-, Erbschafts- und Bodenpreissteigerungssteuern, konsolidiert und auf diese Weise auch die Finanzierung sozialer Infrastrukturen gesichert und sukzessive ausgebaut. Dadurch kann die Krise auch sozialpolitisch abgefedert werden. Dennoch brechen infolge der Krise relevante Produktionsstrukturen weg und wichtige Unternehmen werden mit öffentlichen Mitteln gestützt oder sogar verstaatlicht.

Dies bietet neue Chancen (Bayer 2020; Brand/Högelsberger 2020; Demirović 2020.

Unternehmenshilfen können an die Umsetzung von Klimamaßnahmen gekoppelt und so Produktionsstrukturen sozial-ökologisch wiederaufgebaut und transformiert, Schlüsselbereiche der Wirtschaft können durch öffentliche Beteiligung demokratisiert werden – und letztlich kann auch die Abhängigkeit vom Weltmarkt, vor allem in so kritischen Bereichen wie der Versorgung mit medizinischen Gütern, durch eine ausgleichende, bedürfnisorientierte Re-Regionalisierung der Produktion in Europa verringert werden.

Literatur

Bayer, Kurt (2020): EU-Wirtschaftspolitik in Zeiten der Coronakrise. Wien.

BDI (2019): Mini-Wachstum im dritten Quartal 2019. Quartalsbericht Deutschland. Berlin.

Becker, Joachim u.a. (2015): Uneven and dependent development in Europe: The crisis and its implications. In: Jäger, Johannes/Springler, Elisabeth (Hg.): Asymmetric Crisis in Europe and Possible Futures. London: 81–97.

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Brand, Ulrich/Högelsberger, Heinz (2020): Klimapolitik nach Corona. URL: apps.derstandard.at. Zugriff: 27.3.2020.

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Handelsblatt (23.3.2020). Koch, Moritz u. a., “Wir halten längere Zeit durch“. Interview mit Peter Altmaier“. Düsseldorf: 8–9. URL: handelsblatt.com.

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Ryner, Magnus/Cafruny, Alan W. (2017): The European Union and Global Capitalism. Origins, Development, Crisis. London.

Sablowski, Thomas u. a. (2018): Zehn Jahre Krise. Regulation des Lohnverhältnisses und ungleiche Entwicklung in der Europäischen Union. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 48(3): 357 – 380. DOI: https://doi.org/10.32387/prokla.v48i192.893.

Schneider, Etienne/Mittendrein, Lisa (2017): Strategischer Ungehorsam statt Reform-Austritt-Dilemma. In: Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist. Wien: 208–218.

Schneider, Etienne/Syrovatka, Felix (2019): Die Europäische Wirtschaftsunion zwischen Vertiefung und Desintegration. Blockade und wachsende Asymmetrie zwischen Deutschland und Frankreich. In: Bieling, Hans-Jürgen/Guntrum, Simon (Hg.): Neue Segel, alter Kurs? Die Eurokrise und ihre Folgen für das europäische Wirtschaftsregieren. Wiesbaden: 21–59. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-25037-9_2.

Shah, Sonia (2020): The microbes, the animals and us. URL: mondediplo.com. Zugriff: 28.3.2020.

Theobald, Thomas; Tober, Silke; Lojak, Benjamin (2017): IMK Finanzmarktstabilitätsreport 2016. Regulatorischen Fortschritt weiterentwickeln. Düssdeldorf (IMK Report, 121).

Corona NEWS aktuell

Der Anspruch, die jeweils neuesten Infos in Sachen Corona abzubilden, wäre eine totale Überforderung.

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Chinas große Umwälzung

Rezension aus WiSo

Chinas große Umwälzung

  1. April 2020 | Philipp Hanke

In seinem neuen Buch will Felix Wemheuer Konturen und Linien im Kontext der Entwicklungen von Globalisierung, Entkolonialisierung, Kaltem Krieg und neoliberalem Kapitalismus sichtbar machen – ausdrücklich als einen »Anfang«, um »die Diskussion an[zu]regen.«

Es geht um die Fragen: Was kennzeichnet die moderne chinesische Gesellschaft? Wird China das Weltsystem grundlegend ändern oder selbst zu einem neuen kapitalistischen Zentrum aufsteigen?

Rückständigkeit zu überwinden, den Westen ökonomisch einzuholen, schließlich den historischen Anspruch vom »Reich der Mitte« in der Gegenwart erneut zu realisieren, kennzeichnen den einen Plan der chinesischen Führung, seit die Kommunistische Partei (KPCh) am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik gründete. In immer wieder neuen Anläufen mit einer von radikalen Reformen bestimmten Innenpolitik machte sich die Partei daran, China quasi im Schnelldurchlauf von einer Agrargesellschaft zu einer führenden Hochtechnologienation zu entwickeln. Mit Erfolg: Das Mitte des vorigen Jahrhunderts überwiegend agrarisch geprägte Land ist inzwischen die größte Volkswirtschaft der Welt. Der Großteil der Bevölkerung lebt heute in stetig wachsenden urbanen Ballungszentren. Das bedeutet nicht nur für die chinesische Gesellschaft eine grundlegende Herausforderung, sondern auch für das internationale Machtgefüge.

Chinas Kalkül und die globale Welt

Der Anspruch Wemheuers – die innenpolitischen Entwicklungen einzuschätzen und zugleich ihre globalen Auswirkungen im Blick zu haben – spiegelt sich im Aufbau des Buches wider. Der erste Teil handelt von Chinas »Aufstieg im Weltsystem«, der zweite vom »sozialen Wandel der Gesellschaft und [ihrer] Konflikte«.

Analytisches Rüstzeug des Autors sind Marx’ Analyse des »Kapitalismus« und die »Weltsystemtheorie« des Kapitalismus- und Globalisierungskritikers Immanuel Wallerstein. Den globalen Zusammenhang entdeckt Wemheuer etwa in der Gleichzeitigkeit von Privatisierungen in einigen Teilen Chinas sowie der Bundesrepublik, in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen, kolonialen Befreiungsbewegungen und in dem von Umbrüchen und Verwerfungen geprägten Verhältnis zu den Supermächten USA und der Sowjetunion.

Wemheuer zeigt auf, wie die sozialistischen Staaten in ökonomischer Hinsicht gegenüber dem kapitalistischen Westen ins Hintertreffen gerieten und die Solidarität zwischen sozialistischen Bruderstaaten allmählich erodierte. Während die UdSSR zunehmend an revolutionärer Integrationskraft einbüßte und es der KPdSU nicht gelang, durch entsprechende Umgestaltungen ihre Macht nachhaltig zu sichern, vollzog die KPCh gegen Ende der 1970er Jahre grundlegende Reformen, in deren Folge sich die Volksrepublik vom Status der »Werkbank« der Welt rasant zur neuen technologischen Supermacht entwickelte.

Der Autor beschreibt dabei das Handeln der KPCh als planvoll und kalkuliert und unterstreicht ihre Lernfähigkeit angesichts des Scheiterns der Sowjetunion: Man beobachtete die Entwicklungen dort genau und entschied sich deshalb dazu, den eigenen Markt für westliches Kapital zu öffnen. Als Partner und Konkurrent der USA sollte zum einen die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft vorangetrieben werden, zum anderen wertvolles technologisches Wissen gewonnen werden, um selbst bedeutender Standort für die Produktion und Entwicklung von Hochtechnologie zu werden. Wemheuer gelingt es dabei, immer wieder die großen Linien des nach Plan ablaufenden Aufstiegs der Volksrepublik und der Wendepunkte in der Politik der KPCh auch als Wechselwirkung mit den globalen Entwicklungen aufzuzeigen.

So konstatiert er für die Jahre vor 1989 eine gewisse Liberalisierung der chinesischen Gesellschaft und verweist auf »die transnationale und ideologische Bandbreite und Offenheit, mit der im China der 1980er-Jahre über den weiteren Weg der Reformen diskutiert wurde.« (S. 103) Die Ereignisse des Jahres 1989 bedeuteten demgegenüber einen klaren Bruch. Die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz unter Verhängung des Kriegsrechts beschreibt er als Triumph der Hardliner, die unter keinen Umständen ihre Macht einbüßen wollten, damit die Volksrepublik nicht das gleiche Schicksal wie die Sowjetunion ereile.

Staatskapitalismus und Macht

Im zweiten Teil seines Buches widmet sich Wemheuer dem Wandel der chinesischen Gesellschaft seit der Machtübernahme durch die KPCh. Dabei betrachtet er unter anderem den Staatskapitalismus und die Entwicklung einer »neuen Klasse« von Privatkapitalist*innen. Das vierte Kapitel ist eine Zusammenfassung der ebenfalls 2019 erschienenen Monographie »A Social History of Maoist China«. Dem Ansatz des Intersektionalismus folgend, charakterisiert der Autor die Mao-Ära als »semi-sozialistische Gesellschaft«, welche die Eliten und Strukturen der prärevolutionären Gesellschaft zerschlug und mit der »Kulturrevolution« trotz aller »Gewalt und Radikalität« nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass der »Umwälzung der Gesellschaft im Sinne einer Modernisierung sowie Aufbau des Sozialismus« (S. 174) Grenzen gesetzt waren. Erst die Reformperiode und die damit verbundene Öffnung für den Weltmarkt führten zu einer Modernisierung der Gesellschaft, ohne aber eine (westliche) Liberalisierung nach sich zu ziehen.

Dennoch haben Strukturmerkmale der Mao-Ära bis heute einen nachhaltigen Effekt auf die Gesellschaft. Im Gegensatz zur Sowjetunion war in China die Planung weniger stark zentralisiert und es wurde lokalen Behörden mehr Eigeninitiative bei der Verwendung von Steuergeldern zugesprochen, die somit selbst zu wirtschaftlichen Akteur*innen wurden. So kam es zu einer Verschränkung von wirtschaftlicher und politischer Macht, die mit der ökonomischen Liberalisierung seit der Reformära zu einem einzigartigen Wachstum führte, aber auch die Korruption in erheblichem Maße ansteigen ließ.

Bis heute entscheiden Parteiränge über gesellschaftlichen Status und damit einhergehende Privilegien. Inzwischen geht man von Seiten des Zentralkomitees gegen diese Form der Schattenwirtschaft vor. Die »Staatsklasse« als einflussreichste gesellschaftliche Macht ist das korrupte System, welches sich mittels Anti-Korruptionskampagnen gegenüber der Öffentlichkeit in ein gutes Licht zu stellen sucht (in den Jahren zwischen 2012 und 2016 waren über 1,1 Millionen Personen von dieser Kampagne betroffen). Nach Wemheuer werden es vor allem jene Kampagnen sein, die über die Zukunft der Volksrepublik entscheiden. Die Frage wird sein, ob es der Partei gelingt, ihre oligarchischen Strukturen zu bereinigen, ohne dabei an eigener Macht und gesellschaftlicher Legitimation einzubüßen.

Und die Neue Seidenstraße?

Felix Wemheuer stellt mit seiner Monographie eine lesbare Einführung zum Verständnis der Geschichte der Volksrepublik bereit. Das begriffliche Werkzeug, inspiriert von Marx und Wallerstein, ermöglicht es, die globalen Auswirkungen des Aufstiegs Chinas einzuordnen und das gegenwärtige Handeln der KPCh nachzuvollziehen. Was dabei etwas außen vor bleibt, sind zum Beispiel die »One Belt, One Road«-Initiativen Chinas zum Aufbau interkontinentaler Handels- und Infrastrukturnetze. Während die Rhetorik der KPCh bei diesem Projekt auf eine gemeinsame Entwicklung des weltweiten Handels und einer Hilfe zur Selbsthilfe hinweist (insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent), tritt die Volksrepublik als eine eigentlich neokoloniale Akteurin auf, die sich mit Krediten in dreistelliger Milliardenhöhe den Zugriff auf die Rohstoffmärkte zu sichern sucht. Trotz der umfangreichen Analyse des gegenwärtigen »Weltsystems« lässt der Autor damit die Frage offen, wie sich diese Initiative auf das globale Machtgefüge auswirken wird.

Außerdem geht er auch der Frage nach einer emanzipatorischen Perspektive aus dem Weg, die über eine Kritik der Situation der Menschenrechte in der Volksrepublik hinausreichen würde. Die KPCh hat sich zwar nie der »christlich-abendländischen« Menschenrechtsidee verpflichtet gefühlt, sondern sieht sie immer auch von den jeweiligen »Denkweisen« eines Landes abhängig. So wäre es aber interessant zu untersuchen, welcher Zweck jenseits der Machterhaltung hinter dem einzigartigen gesellschaftspolitischen Experiment der geplanten flächendeckenden Überwachung und des Sozialkreditsystems auszumachen ist. Denn mit seiner zunehmenden Hegemonie wird der »Sozialismus chinesischer Prägung« auch Auswirkungen auf das Leben in den einstigen Metropolen haben. Damit bleibt zu hoffen, dass durch Wemheuers Monographie eine Debatte angestoßen wird, die China als einen globalen Akteur ernst nimmt und über die Situation der Menschenrechte hinausweist.

Bibliografische Angaben

Felix Wemheuer 2019: Chinas große Umwälzung. Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem. PapyRossa, Köln. ISBN: 978-3-89438-676-4. 271 Seiten. 16,90 Euro.

Unsere Normalität kehrt nicht zurück

Blätter Ausgabe 5/2020 – Zusammenfassung

Unsere Normalität kehrt nicht zurück

von Adam Tooze

Adam Tooze ist ein britischer Wirtschaftshistoriker.

In seinem 2018 erschienen Buch Crashed – Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben erzählt er die Geschichte der Finanzkrise sehr anschaulich. manchmal auch sehr lakonisch. Das macht das Buch trotz seiner 800 Seiten sehr gut lesbar.  Im Oktober 2018 hielt Tooze in Berlin in deutscher Sprache einen Vortrag zu seinem Buch.

Vor einem Jahr hatte Tooze in den „Blättern“ (Ausgabe Mai 2019) die Frage „Donald Trump oder: Das Ende des amerikanischen Zeitalters?“ erörtert.

Hier die Zusammenfassung seines aktuellen Beitrags „Die Normalität kehrt nicht zurück“:

Die Wirtschaft befindet sich derzeit nahezu in freiem Fall. Sollte sie weiter in ihrer derzeitigen Geschwindigkeit schrumpfen, läge das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in zwölf Monaten um ein Drittel niedriger als Anfang 2020. Diese Schrumpfungsrate ist vier Mal schneller als während der Großen Depression der 1930er Jahre. Noch nie zuvor ist es zu einer solchen Bruchlandung gekommen.

Noch vor wenigen Wochen, Anfang März, lag die Arbeitslosigkeit in den USA auf einem Rekordtief. Doch schon Ende März war sie auf ungefähr 13 Prozent emporgeschossen. Das ist der höchste Wert, der seit dem Zweiten Weltkrieg verzeichnet wurde. Die genaue Zahl ist unbekannt, da das amerikanische System zur Registrierung von Arbeitslosigkeit nicht dafür geschaffen wurde, eine solch schnelle Zunahme zu erfassen. Bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit, so der Ökonom Justin Wolfers, steigt die Arbeitslosigkeit in den USA pro Tag um 0,5 Prozent.[1] Es ist nicht länger unvorstellbar, dass sie bis zum Sommer auf 30 Prozent angewachsen sein könnte.

Die westlichen Ökonomien stehen damit einem weitaus tieferen und brutaleren ökonomischen Schock gegenüber als sie ihn je zuvor erfahren haben. Normale Konjunkturzyklen beginnen für gewöhnlich bei den verletzlicheren Sektoren der Wirtschaft – Immobilien und Bauwirtschaft beispielsweise oder Schwerindustrie. Zusammen beschäftigen diese Sektoren in den USA weniger als ein Viertel der Arbeitskräfte. Daher überträgt sich der geballte Abwärtstrend in diesen Sektoren auf den Rest der Ökonomie nur als gedämpfter Schock.

Der coronabedingte Lockdown trifft jedoch direkt die Dienstleistungen – Einzelhandel, Immobilien, Bildung, Unterhaltung, Restaurants –, in dem heute 80 Prozent der Amerikaner arbeiten. Also fällt das Ergebnis unmittelbar und katastrophal aus.

In vielen Fällen werden die Läden, die Anfang März schlossen, nicht wieder öffnen. Die Jobs werden dauerhaft verlorengehen. Millionen von Amerikanern und ihre Familien stehen vor einer Katastrophe.

Erschütternde Aussichten

Dieser Schock ist nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Viele europäische Länder federn die Auswirkungen des Abschwungs mit Kurzarbeitergeld ab. Dies wird den Anstieg der Arbeitslosigkeit dämpfen. Doch der Kollaps der wirtschaftlichen Aktivität lässt sich nicht verbergen. Der Norden Italiens ist nicht bloß ein luxuriöses Touristenziel, sondern erwirtschaftet 50 Prozent des nationalen BIP. Deutschlands BIP wird Prognosen zufolge stärker schrumpfen als das der Vereinigten Staaten, weil die Bundesrepublik von ihrer Exportabhängigkeit heruntergezogen wird.

In reichen Ländern wie diesen können wir wenigstens versuchen, den Schaden zu schätzen. China erließ am 23. Januar als erstes Land einen Shutdown. Laut den jüngsten offiziellen Zahlen liegt Chinas Arbeitslosigkeit bei 6,2 Prozent.

Aber diese Zahl ist eindeutig eine grobe Untertreibung der Krise in China. Inoffiziell wurden möglicherweise nicht weniger als 205 Millionen Wanderarbeiter in den Zwangsurlaub geschickt, mehr als ein Viertel der chinesischen Erwerbsbevölkerung.[2]

Von Indiens 471 Millionen Menschen umfassender Erwerbsbevölkerung haben nur 19 Prozent einen Anspruch auf Sozialleistungen, verfügen zwei Drittel nicht über einen formalen Arbeitsvertrag und sind mindestens 100 Millionen als Wanderarbeiter tätig.[3]

Die Finanzkrise abwenden

Die Bemühungen, die zur Abfederung der Auswirkungen unternommen werden, sind historisch beispiellos.

In den Vereinigten Staaten hat der Kongress schon in den ersten Tagen des Shutdowns ein Konjunkturpaket verabschiedet, das bei weitem das größte ist, das Amerika in Friedenszeiten je gesehen hat. Weltweit wurde der Geldhahn aufgedreht. Das fiskalisch konservative Deutschland hat einen Notstand erklärt und seine Begrenzung der öffentlichen Verschuldung aufgehoben. Insgesamt sehen wir die größte vereinte finanzielle Anstrengung seit dem Zweiten Weltkrieg.

Eine noch dringlichere Aufgabe besteht darin, die Flaute nicht in eine immense Finanzkrise münden zu lassen. Allgemein heißt es, die US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) folge dem Drehbuch von 2008. Neu ist jedoch das Ausmaß, in dem die Fed eingreift. Ende März kaufte die Fed jeden Tag Anlagen im Wert von 90 Mrd. US-Dollar. Das ist mehr pro Tag als sie in unter Ben Bernanke, der sie während der Finanzkrise leitete, in den meisten Monaten erwarb. Am Morgen des 9. April, als erneut eine erschreckende Arbeitslosenzahl veröffentlicht wurde, kündigte die Fed an, sie werde für zusätzliche 2,3 Billionen Dollar Anlagenkäufe tätigen.

Diese enormen und unmittelbaren Ausgleichsmaßnahmen haben bislang einen sofortigen globalen finanziellen Zusammenbruch verhindert.

Aber nun stehen wir einer langwierigen Periode gegenüber, in der sinkender Konsum und nachlassende Investitionen zu einer weiteren Schrumpfung führen.

73 Prozent der amerikanischen Haushalte geben an, im März einen Einkommensverlust erlitten zu haben. Für viele ist dieser Verlust katastrophal und stürzt sie in akute Not, Zahlungsverzug und Bankrott. Verspätete Zahlungen bei Privatkrediten werden zweifellos stark ansteigen und zu anhaltenden Schaden im Finanzsystem führen. Alle nicht notwendigen Ausgaben werden verschoben. Der Automarkt ist mausetot. Automobilhersteller in Europa und Asien sitzen auf gigantischen Mengen unverkaufter Fahrzeuge.

Je länger der Lockdown anhält, desto tiefere Narben wird er in der Wirtschaft hinterlassen und desto langsamer wird die Erholung ausfallen. In China kehrt die reguläre ökonomische Aktivität zwar langsam zurück.

Der kommende Schuldenstreit

Selbst wenn Produktion und Beschäftigung wieder begonnen haben, werden wir uns über Jahre mit den finanziellen Altlasten beschäftigen.

Momentan parken wir diese Schulden in den Bilanzen der Zentralbanken. Diese können auch die Zinsraten niedrig halten, wodurch der Schuldendienst nicht exorbitant sein wird. Aber das verschiebt nur die Frage, was man mit den Verbindlichkeiten anstellen soll.

Nach der konventionellen Auffassung müssen Schulden irgendwann zurückgezahlt werden, indem man Überschüsse erwirtschaftet, entweder durch Steuererhöhungen oder durch Ausgabenkürzungen.

Die Geschichte zeigt uns allerdings, dass es radikalere Alternativen gibt.

  • Eine bestünde in einem Ausbruch der Inflation.
  • Eine andere wäre ein Ablassjahr, was ein höflicher Name für das Nichtzahlen von Staatsschulden ist (was weniger drastisch ist, als es klingt, solange es die Schulden bei der Zentralbank betrifft).
  • Manche haben sogar vorgeschlagen, die Zentralbanken sollten aufhören, staatliche Schuldscheine zu kaufen und den Regierungen stattdessen einfach ein gigantisches Kassenguthaben gutschreiben.[4]

Und am 9. April kündigte die Bank von England genau das an. Das bedeutet in jeder Hinsicht, dass die Zentralbank einfach Geld druckt. Symptomatisch ist auch, dass die Entscheidung der Bank von England bisher nicht zu einem Sturm der Entrüstung oder Panikverkäufen geführt hat, sondern auf den Finanzmärkten mit kaum mehr als Schulterzucken quittiert wurde.

Diese resignierte Haltung ist bei der Krisenbekämpfung hilfreich. Aber man sollte nicht erwarten, dass die Ruhe anhält. Wenn sich der Deckel hebt, wird die Politik wiederkehren und mit ihr der Streit über „Schuldenlasten“ und „Tragfähigkeit“. Und angesichts der Verbindlichkeiten, die jetzt schon angehäuft wurden, dürfte er hässlich werden.

Radikale Unsicherheit

Bei einem Großteil der Weltbevölkerung sind die grundlegenden Abläufe ihres Lebens radikal unterbrochen. Niemand von uns kann mit Sicherheit sagen, wann wir zu unseren Leben von vor Corona-Zeiten zurückkehren können. Wir mögen hoffen, dass alles „zur Normalität zurückkehrt“. Aber woher werden wir das wissen? Schließlich schien im Januar alles normal, nur Wochen bevor die Welt stehen blieb. Wenn radikale Unsicherheit zuvor eine Sorge war, wird sie nun eine immer präsente Realität sein. Jede Grippesaison wird ängstlich beobachtet werden. Um medizinische Metaphern zu vermischen: Wie lange wird es dauern, bevor wir uns symptomfrei erklären können?

Es ist möglich, dass es im Anschluss an den Lockdown zu einem Wiederanstieg der Ausgaben kommt. Aber wird das anhalten? Die naheliegendste Reaktion auf einen Schock, wie wir ihn gerade erleben, ist der Rückzug. Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen seit 2008 war der Schuldenabbau von Privathaushalten in den Vereinigten Staaten. Der amerikanische Konsument, die größte Nachfragequelle der Weltwirtschaft, ist deutlich besonnener geworden. Unternehmensinvestitionen waren schwach, ebenso das Produktivitätswachstum. Die Konjunkturabschwächung beschränkte sich nicht auf den Westen, sondern erfasste auch die Schwellenländer. Wir nannten es eine „säkulare Stagnation“.[5]

Wenn die Antwort von Unternehmen und Privathaushalten auf den beispiellosen Corona-Schock in einer Flucht in die Sicherheit besteht, dann wird dies die Kräfte der Stagnation vergrößern. Und wenn die staatliche Antwort auf die in der Krise akkumulierten Schulden in Austerität besteht, wird das die Lage noch verschlimmern. Es ist daher richtig, eine aktivere und visionärere staatliche Politik zu fordern, die einen Weg aus der Krise weist. Das aber wirft natürlich die entscheidende Frage auf: Welche Form wird diese Politik annehmen – und welche Kräfte werden sie kontrollieren?

Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes, der unter dem Titel „The Normal Economy Is Never Coming Back“ in der „Foreign Policy“ erschienen ist. Die Übersetzung stammt von Steffen Vogel.

[1] Justin Wolfers, Unemployment Is Rising Faster Than Ever, Outpacing Official Statistics, in: „The New York Times“, 4.4.2020.

[2]  Frank Tang, Coronavirus: China’s unemployment crisis mounts, but nobody knows true number of jobless, in: „South China Morning Post“, 3.4.2020.

[3] Somesh Jha, Migrant workers head home in coronavirus lockdown, exposed and vulnerable, in: „Business Standard“, 25.3.2020. Vgl. auch den Beitrag von Ellen Ehmke in dieser Ausgabe.

[4] Sony Kapoor und Willem Buiter, To fight the COVID pandemic, policymakers must move fast and break taboos, www.voxeu.org, 6.4.2020.

[5] Larry Summers, Secular Stagnation, www.larrysummers.com.