Corona und die nächste Eurokrise

Quelle: Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft

https://www.prokla.de/index.php/PROKLA

Autoren: Etienne Schneider  Felix Syrovatka – Apr 2020

 Corona und die nächste Eurokrise

Die Corona-Pandemie entwickelt sich zu einer weltweiten Wirtschaftskrise. Dadurch droht auch eine neuerliche Eurokrise, denn die Eurozone ist heute fragiler als am Beginn der letzten Eurokrise. Zum einen wurde die Eurokrise in Südeuropa, trotz aller Stabilisierungsversuche, bis heute nicht überwunden, zum anderen wurden institutionelle Reformen an der Architektur der Währungsunion in den vergangenen Jahren blockiert. Darüber hinaus steht mit Italien nun jenes Land im Fokus, in dem sich bereits vor der Corona-Pandemie die Widersprüche der ungleichen Entwicklung in Europa kumuliert und verdichtet haben. Vor diesem Hintergrund diskutiert der Artikel abschließend Gefahren und Chancen, die auf progressive Akteure angesichts einer neuen Eurokrise zukommen könnten.

Die Corona-Krise wird gerne mit einem „externen Schock“ (von der Leyen) oder einer Naturkatastrophe verglichen, die von außen über unsere Gesellschaft hereinbricht (Neumann/Pichl 2020).

Doch auch Pandemien fallen nicht einfach vom Himmel. Sie entwickeln sich unter gesellschaftlichen Verhältnissen und damit verbundenen spezifischen Formen des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. Das gilt bereits für die Entstehung der Epidemie. Kapitalistische Expansion und Landnahme befördern das Aufkommen von Infektionskrankheiten, die wie das SARS-CoV-2 zwischen Tier und Mensch übertragen werden. Durch die Abholzung von Wäldern für industriell-monokulturelle Landwirtschaft werden natürliche Barrieren durchbrochen, weil Wildtiere mit bislang unbekannten Viren aus ihren Habitaten vertrieben werden und so in Kontakt mit Nutztieren und Menschen kommen (Liu u. a. 2014; Shah 2020).

Der Vergleich der Corona-Krise mit einer bloßen Naturkatastrophe hinkt noch stärker, wenn man die globale Ausbreitung des Virus betrachtet.

Nicht nur hat sich Covid-19 trotz Isolation ganzer Millionenstädte wegen der in den letzten Jahrzehnten immer enger gewordenen Verflechtung Chinas in den kapitalistischen Weltmarkt rasant zu einer Pandemie ausweiten können (vgl. Schmalz in diesem Heft). Entscheidend für die Ausbreitung war auch, dass in Europa die Austeritätspolitik seit der Krise die Gesundheitssysteme in vielen Ländern schwer beschädigt hat und viel zu spät konsequente Maßnahmen zur Eingrenzung des Virus ergriffen wurden.

In genau jenem Moment Anfang März, als die EU zur Abriegelung ihrer Außengrenzen nicht einmal mehr davor zurückschreckte, Griechenland bei der Außerkraftsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention zu unterstützen, setzte sich die Europäische Kommission vehement gegen Grenzschließungen innerhalb des Schengen-Raums zur Eindämmung von Covid-19 ein (Gutschker 2020). Offensichtlich wurde der Erhalt der vier Grundfreiheiten (freier Personen-, Waren, – Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) – der symbolträchtigen Eckpfeiler des neoliberalen Binnenmarktprojekts (Ryner/Cafruny 2017) – als bedeutender eingeschätzt als eine konsequente Eindämmung der drohenden Pandemie durch eine Verringerung des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs.

Richtiggehend falsch ist der Vergleich der Corona-Krise mit einer Naturkatastrophe, wenn die sich nun entfaltende Wirtschafts- und Finanzkrise allein auf das Virus selbst und die Maßnahmen zu seiner Eindämmung zurückgeführt wird (Deutsche Bundesbank 2020: 5).

Vielmehr legt die Pandemie – wie auch 2007 das Platzen der Subprime-Blase auf den US-amerikanischen Immobilien- und Finanzmärkten – bestehende neuralgische Punkte und Krisentendenzen offen.

Beim Börsencrash Anfang März platzten in erster Linie Spekulationsblasen. Diese hatten sich vor dem Hintergrund einer schon länger schwachen produktiven Kapitalakkumulation durch das weltweite Überangebot an Liquidität, vor allem im Zuge der historisch beispiellosen langfristigen Zinssenkungen und der Quantitative Easing-Programme von Fed und EZB, gebildet (Lapavitsas 2020). Vor allem der amerikanische Aktienmarkt galt seit Jahren als stark überbewertet (NZZ, 9.5.2017). Dem gegenüber stehen angehäufte Überkapazitäten in der industriellen Produktion, speziell im Automobilsektor, aber auch in der Chemie- und Stahlindustrie, welche seit Jahren nicht abgebaut wurden.

In Deutschland war die Industrie bereits seit 2018 mit einer rückläufigen Wertschöpfung und einer Verwertungskrise des Kapitals konfrontiert (BDI 2019) – der Konjunkturzyklus, der nach der Weltfinanzkrise 2008 seinen Anfang nahm, neigte sich also spätestens 2019 seinem Ende entgegen.

Grundlegender Unterschied zur Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007

Zugleich unterscheidet sich die Corona-Krise grundlegend von der letzten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007. Während diese durch das Platzen der Subprime-Blase in den USA ausgelöst wurde und von den Finanzmärkten auf den produktiven Kapitalkreislauf übergriff, kommen durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus eine Vielzahl ‚realwirtschaftlicher‘ Sektoren, insbesondere der Tourismussektor, die Gastronomie, die Luftfahrt und der Nichtlebensmittel-Handel fast vollständig zum Erliegen.

Hinzu kommt die Einstellung der Produktion in weiten Teilen der Industrie. Der Einbruch dieser Sektoren zieht durch die wegbrechende Nachfrage alle weiteren Sektoren in den Krisensog hinein (Bayer 2020, Lapavitsas 2020). Die damit verbundenen Kreditausfälle und der Preisverfall an den Anleihen- und Aktienmärkten wird das ohnehin schon fragile Banken- und Finanzsystem hart treffen. Der Ausfall sogenannter Leverage Loans und Collateralized Loan Obligations, d. h. verbriefter Kredite an hoch verschuldete Unternehmen, wird diese Erschütterung noch verschärfen (IWF 2019).

Wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 droht aber auch die Corona-Krise – so unsere These – durch die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) in Europa zusätzlich verschärft zu werden. Diese Eurokrise 2.0 könnte deutlich tiefer, härter und für die WWU existenzbedrohender verlaufen als die letzte Krise.

Dafür gibt es mindestens drei Indizien:

  • Erstens wurde die Eurokrise von 2008/2009 trotz anderweitiger offizieller Behauptungen nie vollständig überwunden.
  • Zweitens wurden die grundlegenden Widersprüche bzw. ‚Konstruktionsfehler‘ der WWU trotz einer mittlerweile über acht Jahre geführten Reformdiskussion nicht beseitigt (Schneider/Syrovatka 2018).
  • Drittens steht mit Italien – jenem Land, in dem sich die Widersprüche der WWU bereits seit einigen Jahren auf besondere Weise verdichten – dieses Mal kein vergleichsweise kleines, peripheres Land wie Griechenland, sondern die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, im Brennpunkt der Krise (Sablowski et al. 2018).

Ewig schwelt die Eurokrise

Entgegen allen offiziellen Verlautbarungen der europäischen Institutionen wurde die Eurokrise nie gänzlich überwunden.

  • Zwar gingen die Leistungsbilanzungleichgewichte durch die Austeritätspolitik zurück, vor allem in den südeuropäischen Krisenstaaten blieb die Konjunkturentwicklung nach den verheerenden Krisenjahren aber schwach. Das griechische BIP war im vergangenen Jahr auf dem Niveau von 2002. Aber auch Spanien, Portugal, Italien und selbst Frankreich konnten bis heute nicht ihr wirtschaftliches Vorkrisenniveau erreichen (IWF 2020).
  • Dementsprechend blieb auch die Arbeitslosigkeit auf einem hohen Niveau, insbesondere unter jungen Menschen.
  • Die durchschnittlichen Reallöhne stagnierten oder sanken, wie in Spanien oder Italien, die soziale Ungleichheit nahm zu, während die Staatsverschuldung explodierte.
  • Allein Griechenland sitzt auf einem Schuldenberg von 180 Prozent seines BIPs, trotz des Schuldenschnitts im Jahr 2012 ein Plus von 38 Prozent gegenüber 2010 (EZB 2020).

Die so weiter schwelende Eurokrise wurde durch die Politik der EZB überdeckt. Zwar gelang es der EZB seit Mario Draghis Devise „whatever it takes“ 2012 mit ihrem Anleihenkaufprogramm, die Risikoaufschläge für südeuropäische Staatsanleihen zu senken und die akute Phase der Eurokrise zu beenden. Die tieferliegenden Krisentendenzen wurden dadurch aber nicht bearbeitet, sondern nur zeitweilig unterdrückt. Immer wieder kam es zu sprunghaften Anstiegen der Risikoaufschläge auf die Staatsanleihen der südeuropäischen Länder. Auch nach dem Ausbruch des Corona-Virus in Italien stiegen die Risikoaufschläge wieder rasant an.

 Die blockierte Reform der Eurozone: das historische Versagen der EU

Dass die südeuropäischen Mitgliedsstaaten durch die Corona-Krise auf den Finanzmärkten Anfang März erneut massiv unter Druck gerieten, offenbart das historische Versagen der EU.

Die europäischen Eliten haben den Konjunkturzyklus der letzten zehn Jahre verstreichen lassen, ohne die grundlegenden Widersprüche und Konstruktionsfehler der WWU zu beheben. Diese ergeben sich – grob vereinfacht – aus zwei Besonderheiten der Architektur der WWU.

  • Erstens stehen der supranationalen Geldpolitik der EZB keine effektiven Ausgleichs- und Risikoteilungsmechanismen gegenüber, d. h. Instrumente, die der Entwicklung von Ungleichgewichten zwischen Ländern und Regionen entgegenwirken (Becker u. a. 2015; Holman 2004).
  • Zweitens darf die EZB wegen des verankerten Verbots der „monetären Staatsfinanzierung“ anders als andere Zentralbanken nicht unmittelbar als „Lender of Last Ressort“ gegenüber den Euroländern auftreten, d. h. im Krisenfall unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen. Dadurch könnten die Euroländer im Prinzip zahlungsunfähig werden, was spekulative Attacken auf den Finanzmärkten gegen einzelne Mitgliedsstaaten ermöglicht.

Diese Widersprüche wurden in der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 offensichtlich und sowohl von den europäischen Institutionen als auch von den europäischen Staats- und Regierungschefs intensiv diskutiert. Zentraler Gegenstand dieser Diskussion war seit 2012 die Einführung und der Ausbau von Mechanismen zur Risikoteilung und Konvergenz zwischen den Mitgliedsstaaten. Dazu gehörten insbesondere die Forderung nach gemeinsamen Staatsanleihen der Euro-Länder, sog. Eurobonds, die Schaffung des Postens eines europäischen Finanzministers samt einem umfangreichen Eurozonenbudget zur Förderung von Konvergenz und zum Ausgleich „asymmetrischer Schocks“ sowie die Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Einlagensicherung im Euroraum (Übersicht siehe: Schneider/Syrovatka 2019).

Diese Forderungen, vor allem von französischer und südeuropäischer Seite erhoben und in Deutschland auch von den Gewerkschaften unterstützt, heben freilich den grundsätzlich krisenhaften Charakter kapitalistischer Akkumulation nicht auf, könnten aber dazu beitragen, dass die Widersprüche der WWU nun nicht abermals zum Brandbeschleuniger einer tieferliegenden Krise werden.

Doch die Widerstände waren groß. Neben der „Hanseatischen Liga“ aus den Niederlanden, Finnland und den baltischen Ländern (Guntrum 2019a) wurden die Reformvorschläge vor allem durch die deutsche Bundesregierung blockiert. Zwar betrachtet der deutsche Machtblock den Euro als zentrales Element seiner weltmarktorientierten Exportstrategie, die Kosten seiner Stabilisierung und Verteidigung sollten jedoch auf ein Minimum begrenzt und soweit wie möglich ausgelagert werden. Daher wurde in Südeuropa eine Austeritätspolitik durchgesetzt, die nicht nur soziale Infrastrukturen wie das Gesundheitssystem massiv beschädigte, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Jahren erheblich schwächte (Sablowski u. a. 2018).

Verschärft wird diese Situation dadurch, dass die Finanzmärkte auch nach der Finanzkrise 2007ff. weitestgehend unreguliert blieben. Mehr noch: Die für die Finanzkrise 2007ff. ursächlich verantwortliche Kreditverbriefung wurde durch die Kommission im Rahmen der Kapitalmarktunion wiederbelebt und mit der Einführung sogenannter STS-Verbriefungen neue Finanzmarktrisiken geschaffen (Theobald u. a. 2017: 9-13).

Auch eine europäische Finanztransaktionssteuer fehlt bis heute. Zugleich blieb die Europäische Bankenunion aufgrund des deutschen Widerstands weiter unvollendet. So fehlt bis heute eine europäische Einlagensicherung, eine Regulierung des Schattenbankensystems ebenso wie eine gemeinsame Letztsicherung („Back-Stop“) zur Abwicklung von Banken.

Gerade diese wäre derzeit von zentraler Bedeutung, finden sich in den Bilanzen europäischer Banken doch nach wie vor notleidende Kredite in Höhe von 786 Milliarden Euro (EZB 2020). Die Corona-Krise trifft damit nicht nur auf eine fragile Währungsunion, sondern zugleich auf ein immer noch instabiles und unzureichend reguliertes europäisches Finanzsystem (Guntrum 2019b).

Italien als Epizentrum der Eurokrise 2.0.

Als wäre dies nicht bereits genug, nahm die Ausbreitung des Corona-Virus mit Italien auch noch in jenem Land zuerst einen dramatischen Verlauf, in dem sich die Widersprüche der WWU schon seit einigen Jahren akkumulieren und verdichten (Sablowski u. a. 2018).

Die italienische Industrie kam bereits vor der ersten Eurokrise massiv unter Druck, da die preisliche Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr durch Währungsabwertung erhalten werden konnte. Die damit verbundene De-Industrialisierung wurde durch die Krise nochmals verstärkt und erklärt die lang anhaltende wirtschaftliche Stagnation. Das BIP befindet sich heute auf dem Niveau von 2006. Im vierten Quartal 2019 schrumpfte die italienische Wirtschaft sogar um 0,3 Prozent, sodass Italien auch ohne die Corona-Pandemie in eine Rezession abgerutscht wäre (EZB 2020). Diese ökonomischen Krisentendenzen verschränkten sich mit der Erosion des traditionellen Parteiensystems und dem Aufstieg der Lega sowie der Fünf-Sterne-Bewegung zu einer politischen Krise.

Zugleich ist die Staatsverschuldung mit 136 Prozent des BIPs die zweithöchste in der Eurozone. Hinzu kommt ein enorm fragiles Banken- und Finanzsystem. Noch immer verstecken sich in den Bilanzen der italienischen Banken ausfallgefährdete Kredite in Höhe von knapp 350 Milliarden Euro, was in etwa sieben Prozent der Gesamtverbindlichkeiten entspricht (EZB 2020).

Unternehmenspleiten im Kontext der Quarantänemaßnahmen könnten daher eine Kaskade an Bankeninsolvenzen verursachen. Das Einspringen des italienischen Staates mit Rettungsprogrammen („Bail-Out“) scheint vor dem Hintergrund der geringen Größe des europäischen Abwicklungsfonds wahrscheinlich, zumal ein „Back-Stop“ immer noch fehlt. Dadurch droht abermals ein verheerender Teufelskreis von Banken- und Staatsschuldenkrise, welcher jedoch mit Italien die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone treffen und damit die Währungsunion insgesamt in den Abgrund reißen könnte.

 Gefahren und Chancen für die Linke

Die Kontingenz der aktuellen historischen Situation macht es für progressive Akteure in Europa schwierig, sich auf zukünftige Auseinandersetzungen vorzubereiten.

Sicher ist, dass die bisherige Kapazität des in der letzten Krise geschaffenen europäischen Rettungsschirm ESM nicht ausreicht, um eine drohende Staatspleite Italiens abzuwenden. Daher sah sich die EZB bereits Mitte März gezwungen, mit einem bis dato beispiellosen Anleihekaufprogramm, dem Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) im Umfang von 750 Milliarden Euro, dem rasanten Anstieg der Risikoaufschläge auf italienische Staatsanleihen entgegenzutreten und Draghis Devise „whatever it takes“ von 2012 zu erneuern.

Dies führte zu heftigen Konflikten innerhalb des EZB-Rates. Denn durch das PEPP könnte die EZB bald mehr als ein Drittel der gesamten Staatsanleihen einiger Länder halten, was ihr eine politisch heikle Sperrminorität bei der Frage etwaiger Schuldenrestrukturierungen verschaffen würde.

Unklar ist angesichts des durchaus dramatischen Verlaufs der Krise auch, wie lange es der EZB gelingt, die Risikoaufschläge auf italienische und andere südeuropäische Staatsanleihen mit ihrem Anleiheprogramm nach unten zu drücken. Vor diesem Hintergrund wird von den südeuropäischen Euroländern und Frankreich wieder die Forderung nach Euro-Anleihen erhoben, seien sie befristet (Corona-Bonds) oder nicht (Euro-Bonds).

Diese werden von Deutschland, den Niederlanden, Österreich und Finnland zwar nach wie vor blockiert. Doch die vorsichtige Unterstützung von Euro-Bonds durch Isabel Schnabel, dem deutschen EZB-Direktoriumsmitglied (FAS, 23.3.2020), der sich inzwischen auch das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft angeschlossen hat (Matthes/Demary 2020), und die darauf folgende prompte Ablehnung von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (Handelsblatt, 23.3.2020) zeugen von erheblichen Spannungen selbst innerhalb des deutschen Machtblocks.

Aus unserer Sicht sind ausgehend von dieser Situation derzeit mindestens drei Szenarien für den Verlauf der drohenden Eurokrise 2.0 denkbar:

Szenario 1 – Auseinanderbrechen der Eurozone und Gefahr einer weitreichenden Renationalisierung:

Italien kommt durch spekulative Attacken auf den Finanzmärkten immer weiter unter Druck, zugleich verschärft sich die Krise des ohnehin fragilen italienischen Bankensystems. Es kommt zusätzlich zu den vielen notleidenden Krediten zu einer Kaskade weiterer Kreditausfälle. Da sich der gemeinsame europäische Bankenabwicklungsmechanismus als zu klein und zu zahnlos erweist, versucht der italienische Staat, durch finanzielle Hilfsprogramme das Bankensystem vor dem Zusammenbruch zu bewahren, was in den oben beschriebenen Teufelskreis von Banken- und Staatsschuldenkrise führt und Italien immer stärker ins Kreuzfeuer spekulativer Attacken auf den Finanzmärkten bringt.

Darüber hinaus steigen die Risikoaufschläge für Spanien, Portugal und Griechenland, da auch in diesen Ländern die Banken mit erheblichen Ausfallrisiken konfrontiert sind und die für die südeuropäischen Ökonomien bedeutende Tourismusbranche brachliegt.

Die EZB stemmt sich dieser Dynamik mit Anleihekaufprogrammen entgegen, die Konflikte im EZB-Rat eskalieren jedoch. Die nordeuropäischen Mitgliedstaaten sehen die unbegrenzte Ausweitung der Anleihekäufe als Verstoß gegen das Mandat der EZB und blockieren alle weiteren Anleihekaufprogramme, wodurch die Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen in die Höhe schießen und eine Refinanzierung an den Kapitalmärkten unmöglich wird. Euro- bzw. Corona-Bonds werden von Deutschland, den Niederlanden, Österreich und Finnland dennoch weiter blockiert, wodurch sich die Konflikte auch im Europäischen Rat immer weiter zuspitzen.

Ein Einsatz des ESM zur Abwendung einer italienischen Staatspleite wird erwogen, doch die benötigten Summen zur Refinanzierung übersteigen das Ausleihvolumen des ESM. Eine Aufstockung der derzeit verfügbaren 410,1 Milliarden Euro ist in Deutschland aufgrund der auch dort immensen Kosten zur Stabilisierung der Wirtschaft nicht durchsetzbar. Italien wird zahlungsunfähig, die Eurozone bricht auseinander oder schrumpft zumindest auf eine Kern- bzw. Rumpf-Eurozone aus den nordeuropäischen Ländern, möglicherweise unter Einschluss Frankreichs, zusammen. Dieses Szenario ist denkbar, aufgrund der enormen Bedeutung des Euro für das weltmarktorientierte Kapital in Deutschland und für die geopolitische Rolle der EU insgesamt aber unwahrscheinlich.

Szenario 2 – Pragmatische Stabilisierung und neoliberaler Backlash:

Die EZB stockt ihre Anleihekäufe immer weiter auf, anders als 2010 unterdrückt sie die Spekulationsdynamik gegen die schwächsten Mitgliedsländer der Eurozone aber gleich zu Beginn der Krise.

Eine Eurokrise 2.0 steht zwar noch mehrere Monate im Raum, sie eskaliert jedoch nicht in gleicher Weise wie zwischen 2010 und 2012. Zugleich einigen sich die Staats- und Regierungschefs nach harten Konflikten zwischen den nord- und südeuropäischen Staaten auf eine neuartige, umfangreiche Kreditlinie („Covid Credit Line“) innerhalb des ESM und Notkredite der Europäischen Investitionsbank (EIB), womit die europäische Unterstützung für die Krisenländer, insbesondere Italien, an eine Konditionalität, d. h. die Umsetzung von Strukturreformen, gebunden wäre.

Möglicherweise einigen sich die Staats- und Regierungschefs sogar auf zeitlich und in ihrem Umfang begrenzte Corona-Bonds, die die Situation in Südeuropa zusätzlich stabilisieren. Dies wäre dann vorstellbar, wenn sich das ESM-Kreditvolumen im weiteren Krisenverlauf als zu niedrig erweist und eine schnelle Aufstockung notwendig erscheint. Dabei drängen die nordeuropäischen Mitgliedsstaaten jedoch darauf, die Anleihen über den ESM zu emittieren (Pröbstl 2020). Dies zielt auf eine Stärkung des ESM – das zentrale Durchsetzungsvehikel der Austeritätspolitik – und die Beibehaltung des Prinzips der Konditionalität bei den Rettungsmaßnahmen. Denkbar ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass die nordeuropäischen Mitgliedsstaaten eine Verlagerung der Überwachungskompetenzen von der Europäischen Kommission zum ESM zur Bedingung möglicher Corona-Anleihen machen – eine Maßnahme, die vom deutschen Finanzministerium schon seit Längerem angedacht ist (BMF 2017).

Sowohl gemeinsame europäische Anleihen jeglicher Form als auch die Aussetzung der Obergrenze für EZB-Anleihekäufen waren in der Vergangenheit rote Linien für die deutsche Politik.

Dementsprechend kommt es zu heftigen Konflikten im deutschen Machtblock und einem neuerlichen Erstarken der AfD. Um diese Risse im Machtblock zu kitten, pocht Deutschland gemeinsam mit anderen nordeuropäischen Ländern darauf, dass die europäischen Fiskalregeln nach ihrer derzeitigen Aussetzung nicht nur möglichst bald wieder in Kraft gesetzt, sondern auch noch rigoroser durchgesetzt werden.

Die stark gestiegene Staatsverschuldung überall in Europa bietet ebenso wie nach der letzten Krise die Rechtfertigung für drastische austeritätspolitische Einschnitte mit abermals verheerenden sozialen Folgen. Auch in Deutschland nutzen die neoliberalen Eliten die Krise, um weitere Einschnitte in den Sozialsystemen sowie eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durchzusetzen. Die bescheidenen klimapolitischen Errungenschaften (Kohleausstieg, Flottenemissionsziele) der vergangenen Jahre werden unter dem Vorwand verschleppt, dass ‚die Wirtschaft‘ um jeden Preis und so schnell wie möglich wieder hochgefahren werden muss.

Szenario 3 – Die Krise als Möglichkeitsfenster für eine postneoliberale Politik der sozialen Infrastrukturen und der sozial-ökologischen Transformation:

Die Krise entwickelt sich zunächst wie in Szenario 2. Die Erfahrung der Bedeutung eines gut funktionierenden öffentlichen Gesundheits- und Pflegesystems und anderer kritischer sozialer Infrastrukturen der Fundamentalökonomie hat sich durch die Corona-Krise aber derartig tief in das kollektive Bewusstsein eingeschrieben, dass sich an vielen Orten breite gesellschaftliche Bündnisse gegen austeritätspolitische Einschnitte und für eine fundamentalökonomische Erneuerung organisieren (Foundational Economy Collective 2020).

Einzelne Länder, unterstützt durch progressive Bündnisse in den anderen Mitgliedstaaten, setzen sich auch nach ihrer Wiederinkraftsetzung gezielt über die Fiskalregeln im Sinne eines „strategischen Ungehorsams“ (Schneider/Mittendrein 2017) hinweg, wodurch diese nach und nach unterhöhlt und letztlich fallengelassen werden.

Anstelle von austeritätspolitischen Einschnitten werden die öffentlichen Haushalte einnahmeseitig, etwa durch die Einführung bzw. Erhöhung von Vermögens-, Erbschafts- und Bodenpreissteigerungssteuern, konsolidiert und auf diese Weise auch die Finanzierung sozialer Infrastrukturen gesichert und sukzessive ausgebaut. Dadurch kann die Krise auch sozialpolitisch abgefedert werden. Dennoch brechen infolge der Krise relevante Produktionsstrukturen weg und wichtige Unternehmen werden mit öffentlichen Mitteln gestützt oder sogar verstaatlicht.

Dies bietet neue Chancen (Bayer 2020; Brand/Högelsberger 2020; Demirović 2020.

Unternehmenshilfen können an die Umsetzung von Klimamaßnahmen gekoppelt und so Produktionsstrukturen sozial-ökologisch wiederaufgebaut und transformiert, Schlüsselbereiche der Wirtschaft können durch öffentliche Beteiligung demokratisiert werden – und letztlich kann auch die Abhängigkeit vom Weltmarkt, vor allem in so kritischen Bereichen wie der Versorgung mit medizinischen Gütern, durch eine ausgleichende, bedürfnisorientierte Re-Regionalisierung der Produktion in Europa verringert werden.

Literatur

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