Streit um Debattenkultur: Haltet doch mal eine andere Meinung aus!

Quelle: Berliner Zeitung

13.7.2020 – 22:20, Tomasz Kurianowicz

Streit um Debattenkultur: Haltet doch mal eine andere Meinung aus!

Songs, Filme, Meinungen werden immer häufiger aus dem Diskurs verbannt. Das ist oft richtig. Doch die „Cancel Culture“ hat eine gefährliche Kehrseite.

Berlin Um 1800 wäre es im Hause des Dichters Heinrich von Kleist fast zu einem Akt der „Cancel Culture“ gekommen. So nennt sich der jüngste Trend, unliebsame Meinungen oder künstlerische sowie publizistische Inhalte, die nicht den Regeln der politischen Korrektheit entsprechen, zu zensieren, abzubestellen, zu löschen, aus dem Diskurs zu verbannen, sie zu „canceln“. Kleist wäre diesem Impuls fast erlegen, nachdem er Immanuel Kants bahnbrechende Studie „Die Kritik der Urteilskraft“ gelesen hatte.
Die Reaktion des Dichters ist historisch nicht verbrieft. Man muss sie als Anekdote verstehen, und doch hätte sie so passiert sein können. Heinrich von Kleist soll nämlich der Legende nach von Kants Standardwerk so schockiert gewesen sein, dass er regelrecht in eine Kant-Krise verfiel. Die Studie erschien in einer Zeit, in der immer noch die christliche Theologie die Deutungshoheit hatte. Damit wollte Immanuel Kant aufräumen. Er hat den Verstandesraum neu vermessen und gezeigt, was der Mensch wissen (wenig) und was er nur glauben kann (viel). Der Text gilt als Verabschiedung des christlichen Allwissenheitsanspruchs. So wie für Kleist war die Studie für die westliche Zivilisation um 1800 ein Epochenbruch. Der Legende nach soll Kleist die „Kritik der Urteilskraft“ nach der Lektüre wütend zugeklappt und gegen die Wand geschmissen haben.

Die Flexibilität der Ideen steht auf dem Spiel

Kleist hätte die Studie am liebsten ignoriert, sie aus seinem Bewusstsein verbannt, sie „gecancelt“. Aber das ging nicht. Der Text bohrte sich in Kleists Bewusstsein. Und dann passierte etwas Magisches: Nach längerer Reifezeit gab der Dichter seiner Schockerfahrung ein künstlerisches Ventil. Sein ganzes Werk sollte von nun an um die Frage kreisen, was der Mensch wissen und wie er noch glauben kann, ohne an seinen Verstandesgrenzen zu verzweifeln. Ein Beweis dieser Auseinandersetzung ist ein Brief, den Kleist 1801 an seine Freundin Wilhelmine von Zenge verfasste: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“

Wäre Kleist heute am Leben, hätte er den Schock nicht in Prosa- und Dramentexten verarbeitet, sondern in blanken Wutkaskaden. Im schlimmsten Fall hätte er einen verkürzenden, zugespitzten Tweet über den Inhalt von Kants Studie gelesen („Gott ist tot“) und eine erboste Nachricht in die Tastatur getippt („Hab noch nie so einen Mist gelesen!“). Und genau diese Reaktionsspiralen sind heute in Diskussionen oft zu beobachten. Verkürzte Aufmerksamkeitsspannen fördern die Ignoranz gegenüber fremden, sperrigen, unliebsamen Gedanken, weil man sie impulsiv für falsch, böse, politisch inkorrekt, dem eigenen ideologischen Projekt für unzuträglich hält. Statt sich an fremden Ideen zu reiben, sie zu verstehen und zu durchdringen, sich an ihnen zu messen, sie mit guten Argumenten zum Stillstand zu bringen, reagieren wir reflexhaft mit Aggressivität und Intoleranz. Sowohl auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Beide Seiten wollen sich nicht mehr austauschen, sondern krallen sich an der eigenen Meinung wie an orthodoxen Glaubenssätzen fest. Die Flexibilität der Ideen, die jede freie Gesellschaft im Wesenskern ausmacht, steht auf dem Spiel.

Es kommt zu Shit-Stürmen

Diese Tendenz macht auch zeitgenössischen Denkern zu schaffen. Vergangene Woche haben 153 Intellektuelle aus aller Welt einen offenen Brief verfasst, in dem sie kritisieren, dass die moralischen Standards der politischen Korrektheit das Recht auf freie Meinungsäußerung bedrohen. In dem Schreiben, das unter anderem im Haper’s Magazine in den USA erschienen ist, heißt es: „Heftige Proteste gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit haben zu Forderungen nach einer Polizeireform und nach mehr gesellschaftlicher Gleichberechtigung geführt – an Hochschulen, im Journalismus, in den Künsten. Diese notwendige und überfällige Abrechnung stärkt aber auch moralische Einstellungen und politische Bekenntnisse, die jede offene Debatte und das Aushalten von Differenzen zugunsten einer ideologischen Konformität schwächen.“

Die Sorge ist, dass nuancierte Beobachter, trotz ihrer Solidarität für Schwache und Diskriminierte, sich der Sabotage und Verteidigung weißer Privilegien verdächtig machen, wenn sie ein komplexes Bild der Realität zeichnen, das in die neuen moralischen Standards der Identitäts- und Gerechtigkeitspolitik nicht passt. Da komplexe Gedanken den Aufmerksamkeitsspannen in den sozialen Medien zuwiderlaufen, entstehen Empörungswellen ohne Quellenbezug, die zu ungerechtfertigten Shit-Stürmen führen. Auch über den offenen Brief der 153 Intellektuellen wird jetzt hitzig debattiert.

Sind Goethe und Schiller toxisch-männlich?

Nuancierte Betrachter überlegen sich also im Vorfeld, ob sie sich zu besonders aufgeladenen Themen wie Polizeigewalt, Sexismus, Minderheitenrechte publizistisch äußern wollen, wenn eine aggressive Netzgemeinde förmlich darauf wartet, moralische Grauzonen aufzuspüren und unliebsame Denker abzustrafen – vielleicht weil sie sich wegen ihrer Identität („alter weißer Mann“) gar nicht hätten äußern dürfen. Auf der anderen Seite warten rechte Trolle darauf, Gerechtigkeitskämpfer mit Hassbotschaften einzuschüchtern und mundtot zu machen. Beide Strategien mögen ein Weg sein, sich eine hörbare Stimme zu verschaffen. Nur muss sich jeder bewusst sein, dass Zensur-Mechanismen eine Lagerbildung befördern, die jede Kompromiss- und Konsenssuche unmöglich machen.

Der Begriff der „Cancel Culture“ führt moderne westliche Gesellschaften in einen Widerspruch. Das muss auch die politische Linke erkennen. Niemand würde behaupten, dass es moralisch zweifelhaft wäre, Hitler-Statuen zu stürzen, Hakenkreuze zu verbieten oder Hassrede und Verleumdung unter Strafe zu stellen. Doch wo ist die Grenze? Gehören Goethe und Schiller noch gelesen? Oder sind die beiden Schriftsteller Teil einer toxischen Männlichkeit, die in den historischen Giftschrank gehört? Die Meinungsfreiheit braucht zweifellos Grenzen. Manchmal lassen sich diese Grenzen leicht ziehen. In anderen Fällen müssen sie Gegenstand einer intensiven Diskussion sein, die sich jede freie Gesellschaft im ständigen Ringen und Abwägen selbst auferlegen muss.

Den Kanon ausgewogen lesen und kritisieren

Im Kern hat die „Cancel Culture“ ihre volle Berechtigung, vor allem wenn sie Inhalte zensiert, die eindeutig die Menschenwürde verletzen oder rassistische und sexistische Rede propagieren. Darüber muss man als Demokrat nicht lange streiten. Ähnlich notwendig ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kanon. Viel zu lange hat die westliche Elite die moralischen Verfehlungen ihrer Vorfahren toleriert und kulturell vererbte Klischees blind verteidigt. Viel zu lange sind die Auswirkungen verbaler Gewalt im öffentlichen Raum ignoriert worden. Viel zu lange sind Intellektuelle und westliche Philosophen, Künstler, Entertainer, Politiker von den Institutionen verklärt und glorifiziert worden.

In den USA hat jüngst ein Nachfahre von Thomas Jefferson gefordert, die Statue seines Ahnen zu Fall zu bringen, weil dieser zwar „die Gleichheit aller Menschen“ in seinen Schriften verteidigte, aber privat ein Sklavenhalter war. Es tut gut, dass mit kanonischen Werken, historischen Figuren und den überhöhten Idealismen der Geschichte so selbstkritisch abgerechnet wird. Auch die jüngst in Deutschland geführte Diskussion um rassistische Tendenzen bei Immanuel Kant, die zweifellos existieren, ist notwendig und richtig. Man kann das große, philosophische Werk Kants würdigen, ohne gleichsam seine anthropologischen Ansichten zu verteidigen. Auch kann man Kleists Sprache feiern, ohne sein Frauenbild anzunehmen. All diese Balanceakte sind möglich, wenn wir uns Zeit nehmen, den Kanon ausgewogen zu lesen und ihn dort zu kritisieren, wo er moralische Standards verletzt.

Das biblische Rechtsverständnis

Kritische Auseinandersetzung darf aber nicht dazu führen, dass sich Andersdenkende im öffentlichen Diskursraum bedroht fühlen, nur weil sie zu anderen Urteilen kommen als die moralische Masse. Das eine ist, jemanden darauf hinzuweisen, dass er sich – vielleicht unwissentlich – einer rassistischen Tradition bedient. Das andere ist, eine unliebsame Stimme mit Schikanen und Zensur-Forderungen zum Schweigen zu bringen. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

Wahr nämlich ist auch, dass jede „Cancel Culture“ eine gefährliche Kehrseite hat. Der Rassismus-Vorwurf darf nicht die Ausrede sein, die Mühen hermeneutischer Arbeit zu vermeiden. Die „Cancel Culture“ kann schlimme Schäden anrichten, wenn sie ihre utopischen Energien – wie zu Zeiten der französischen Revolution – in dystopische Nebenkämpfe verwandelt und im Eifer des Gefechts hohe Kollateralschäden erzeugt. Getreu dem Motto: Wenn Minderheiten jahrhundertelang diskriminiert wurden, haben sie jetzt das moralische Recht, mit gleicher Härte zurückzuschlagen. (Rein formal ist das übrigens eine legitime Forderung, über die sich diskutieren ließe. Doch dann würde das biblische Rechtsverständnis zurückkehren.)

Ein Kulturkampf zwischen Jung und Alt

Die taz-Satire von Hengameh Yaghoobifarah über die Polizei und ihre Beziehung zum Müll ist ein treffendes Beispiel für die verhärteten Fronten. Keine Seite des politischen Spektrums hat sich hier vorbildlich verhalten. Innenminister Horst Seehofer wollte Strafanzeige stellen und die Autorin schlichtweg „canceln“. Die freien Mitarbeiter der taz wiederum, die sich hinter Yaghoobifarah stellten, wollten ihre Chefredakteurin „canceln“, weil sie sich nicht solidarisch zeigte und in einem Leitartikel den Satire-Text angriff. Auch hier schaukelten sich die Empörungswellen gegenseitig hoch. Gezeigt hat der Konflikt vor allem, dass eine wachsende Zahl an jungen taz-Autor*Innen eine andere Debattenkultur will als ihre Vorgänger. Die jungen Journalisten sehen sich als Verfechter eines Kulturkampfs, der die „Cancel Culture“ und radikale Formen der Identitätspolitik im Gerechtigkeitsstreben unterstützt, während die älteren Journalisten einen Dialog nach liberalen Standards wollen (des „white privilege“?), in dem auch die Rechte von Polizisten ihren Platz haben.

Interessanterweise deutet sich der Konflikt zwischen Jung und Alt auch in anderen Redaktionen an. Eine Mitarbeiterin der Meinungsseite der New York Times, Bari Weiss, ist ebenfalls eine Unterzeichnerin des offenen Briefes der 153 Intellektuellen, die ihre Meinungsfreiheit bedroht sehen. Bei Twitter hat sie eine Erklärung abgegeben, warum sie unterzeichnet hat. Sie schreibt, dass in der New York Times ein Bürgerkrieg herrsche, der zwischen den Jungen und den Alten ausgetragen wird. Die Alten hätten die Jungen angestellt in der Annahme, sie würden für liberale Werte stehen. Doch das sei nicht der Fall. Die Jungen hätten eine andere Weltsicht, die man „Safetyism“ nennen könnte. Sie fordern das Recht, sich emotional sicher zu fühlen – und dieses Gefühl sei wichtiger als „freie Rede“. Mit anderen Worten: Konservativen wie Donald Trump und Steve Bannon, so die Jungen, dürfte man publizistisch kein Gehör verschaffen, da die Gefahr droht, dass ihre Rede die Gefühle von Minderheiten verletzt. Ist so eine Art von Sprechverbot legitim? Bari Weiss schreibt: „Vielleicht ist die Antwort ‚ja‘. Falls die Antwort ‚ja‘ lautet, heißt das aber auch, dass die Meinung einer Hälfte der Amerikaner als inakzeptabel gilt.“

Eine ähnliche Debatte könnte man auch in Deutschland führen. Wer darf sprechen? Wer darf schreiben? Wer darf sich äußern? Muss man rechte Positionen ignorieren? Sie verschwinden dadurch ja nicht. Auch in Deutschland wachsen die Gräben, verhärten sich die Fronten. Was in der Diplomatie mit anderen Staaten gilt, muss also auch innerhalb einer Gesellschaft gelten: Der Dialog darf nicht abbrechen. Setzen wir eine andere Brille auf. Probieren wir – wie Kleist – die grünen Gläser, um die Welt mit anderen Augen zu sehen – sei es sogar mit den Augen des Feindes. Danach können wir sie wieder absetzen, debattieren, sprechen, streiten und unseren Standpunkt verteidigen. Nur so hat unsere Meinung eine Chance, auch vom Gegner gehört zu werden. Und genau darauf kommt es ja an.


Debatte: Ach, ihr Linken! Gebt doch endlich Gedankenfreiheit

Mit kühnen Thesen riskiert man als Denker seinen Job. Cancel Culture gibt es wirklich. Die Ersten verstecken sich im Intellectual Dark Web. Ein Debattenbeitrag.  23.8.2020 – Milosz Matuschek, Berliner Zeitung.

Cancel-Culture:Kollektive Zensur

Wer die Cancel-Culture nicht ernst nimmt, schaue in die USA: Dort werden nicht nur falsche Meinungen, sondern auch Falschmeinende bekämpft. Eine Warnung. Von  12. August 2020. ZEIT online.

phoenix plus: Instrumente der Macht – Der politische Streit

USA -Wahlen 2020 und andere Themen

Quelle: phoenix106 Aufrufe –19.08.2020

Reden zur US-Präsidentschaftswahl 2020 von Bill Clinton (ehemaliger US-Präsident), Alexandria Ocasio-Cortez (Demokratische Kandidatin New York) und Jill Biden (Ehefrau des demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden) auf dem virtuellen Nominierungsparteitag der Demokraten. Dazu Studiogespräche mit Prof. James D. Bindenagel (ehemaliger US-Diplomat und Politikwissenschaftler) zu den Reden.

US-Wahl 2020: Reden und Statements zum Parteitag der Demokraten am 19.08.20 –365 Aufrufe –20.08.2020


Bernie Sanders und seine legendäre Wahlkampagne 2016

Bernie Sanders verlor die Vorwahlen an Hillary Clinton, die zur US-Präsidentschaftskandidatin für die Demokratische Partei gewählt wurde. Doch Bernie Sanders Verlust war legendär und was Bernie Sanders Ende schien, war hingegen der Anfang einer politischen Bewegung.

Belarus – Das Volk hat die Bühne betreten


Das Volk hat die Bühne betreten!

Artur Klinaŭ über den Aufbruch der Gesellschaft in Belarus

In Belarus sind nach den Präsidentschaftswahlen die Menschen im ganzen Land auf die Straßen gegangen, um gegen die dreiste Fälschung zu protestieren. Das Regime reagierte mit äußerster Gewalt. Doch je mehr Menschen verhaftet und verprügelt wurden, desto schneller schwoll die Protestwelle an. Es zeigen sich immer mehr Risse im Staatsapparat. Der Schriftsteller Artur Klinaŭ über Ursachen, Verlauf und Folgen der Revolution.

Osteuropa: Herr Klinaŭ, ihre Tochter gehört zu den mehreren Tausenden Menschen, die das Lukašenka-Regime in den vergangenen Tagen verhaften ließ.

Artur Klinau: Ja, sie wurde bereits vier Tage vor dem eigentlichen Wahltag verhaftet. Sie war Wahlbeobachterin in einem Wahllokal in Minsk. Die Stimmabgabe war ja bereits mehrere Tage vor dem Wahlsonntag möglich. Die Wahlkommissionen hatten Vorgaben, wie hoch die Wahlbeteiligung auszufallen hat. Die Zahl der tatsächlich vorzeitig abgegebenen Stimmen betrug nur einen Bruchteil davon. Da waren unabhängige Beobachter natürlich extrem unerwünscht. Meine Tochter wurde unter einem frei erfundenen Vorwand verhaftetet. Sie habe mit Schimpfwörtern um sich geschmissen, die Arbeit der Wahlkommission behindert, Anordnungen nicht ausgeführt und sich der Miliz widersetzt. Kurzum: das übliche Paket. Drei Tage wussten wir nicht, wo sie ist, erst am Samstag vor der Wahl wurde uns mitgeteilt, dass sie verhaftet wurde. Am gleichen Tag fand der Prozess statt: 14 Tage Haft. Danach dauerte es wieder zwei Tage, bis uns mitgeteilt wurde, wohin sie gebracht worden ist. Sie befindet sich in einem Gefängnis in Žodzina östlich von Minsk.‘
Dass es keine Informationen gibt, hat auch damit zu tun, dass in den letzten Tagen so viele Menschen willkürlich verhaftet wurden, dass die Organe selbst nicht mehr damit zu Rande kommen und oft nicht wissen, wen sie wohin gebracht haben.

Osteuropa: Wer geht auf die Straßen?

Klinau: In früheren Jahren protestierte eine aktive Minderheit, heute ist es das ganze Volk. Die Menschen kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. „Drei Prozent für Sascha“ [Aljaksandr Lukašenka] das war natürlich ein Wahlkampfspruch. Unabhängige Umfragen, die trotz der Schließung des letzten unabhängigen soziologischen Instituts im Jahr 2016 durchgeführt wurden, gaben ihm ungefähr 30 Prozent. Aber jetzt, nachdem er die friedlichen Demonstrationen mit Gewalt hat auflösen lassen, steht wirklich kaum noch jemand hinter ihm, vielleicht tatsächlich jene drei Prozent… Das sind nur noch jene, die viel zu verlieren haben. Beamte und Geschäftsleute, die in seinem System aufgestiegen und zu viel Geld gekommen sind, dazu die Mitglieder der Gewaltapparate, Richter und andere Leute, die sich an den Unterdrückung der Gesellschaft und der Manipulation beteiligt haben.

Osteuropa: Wer sind die Männer in Schwarz, mit Helmen, Schildern und Knüppeln, die in den vergangenen Tagen auf die friedlichen Demonstranten eingeschlagen haben?

Klinau: Die meisten kommen aus der Provinz. Wenn sie zu den Sondereinheiten der Miliz oder den Spezialtruppen des Innenministeriums gehen, dann ermöglicht dies ihnen einen sozialen Aufstieg. Überzeugungen spielen keine Rolle. Das System Lukašenka hatte keine Ideologie, von der man überzeugt sein konnte. Es ging ausschließlich um materielle Interessen: Hohe Löhne, Vergünstigungen, staatliche Wohnungen in Minsk, früh in die Rente. Die Repressionsapparate sind eine private Söldnertruppe Lukašenkas.

Osteuropa: Hat die Protestbewegung noch Repräsentanten?

Klinau: Bislang gibt es niemanden. Svjatlana Tichanoŭskaja hätte das Gesicht der Proteste werden können, aber sie hatte Angst, die Verantwortung für die Menschen zu übernehmen, die auf die Straßen gehen. Rein menschlich gesehen kann man das verstehen. Wer sich an die Spitze einer Revolution stellt, wird für ihre Folgen verantwortlich gemacht. Für eine Politikerin war ihre Flucht nach Litauen jedoch ein schwacher Zug. Er hat bestätigt, dass sie nur eine Übergangskandidatin war, die nicht zum Regieren angetreten ist, sondern nur um Neuwahlen zu ermöglichen, bei denen dann jene antreten können, deren Kandidatur das Regime verhindert hat.

Osteuropa: Aber sie wurde offensichtlich gezwungen…

Klinau: Natürlich wurde massiver Druck auf sie ausgeübt. Sie haben sie einfach gebrochen. Gleichwohl hat sich bestätigt, dass sie nur eine Übergangskandidatin war. Nachdem die Behörden sie beseitigt hatten und auch die Teams ihrer beiden Unterstützerinnen sich praktisch aufgelöst hatten, gingen die Proteste trotzdem weiter und schwollen immer mehr an. Die Leute hatten nicht so sehr für Tichanoŭskaja als viel mehr gegen Lukašenka gestimmt. Das Bild der Jeanne d’Arc von Minsk und der Mutter Heimat hat jedoch starke Kratzer bekommen. Ganz unabhängig davon: Siegt die Revolution des Volks auf den Straßen, muss es ohnehin Neuwahlen geben, die nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Es wird nicht mehr möglich sein, den Beweis zu erbringen, dass Tichanoŭskaja gewonnen hat.

Osteuropa: Was unterscheidet die Situation heute von jener im Jahr 2010 und was ist unverändert?

Klinau: Eine Sache ist genau gleich, und eine komplett anders. Die Gemeinsamkeit: Bei den Wahlen damals war der wichtigste Akteur er Kreml, und das ist heute genauso. 2010 haben die Minsker Holzsoldaten die Inszenierung, die sich der schlaue Urfin im Kreml für sie zurechtgelegt hat, so perfekt umgesetzt, dass Lukašenka einige Jahre mit dem Rücken zur Wand stand. Die EU hat Sanktionen verhängt, die vorsichtigen Schritte in Richtung Demokratie wurden zurückgenommen und so weiter. Der nächste Schritt wäre die Aufgabe der Eigenstaatlichkeit gewesen. Doch mit dem Krieg in der Ukraine veränderte sich die Lage und Lukašenka konnte sich dem Würgegriff des Kreml etwas entziehen.
Bei diesen Wahlen wollte der Kreml Lukašenka endgültig unter seine volle Kontrolle bringen. Sehr vieles spricht dafür, dass der Kreml genauer: mit dem Kreml verbundene Strukturen den Wahlkampf der Gegner Lukašenkas verdeckt finanziert haben. Der Westen hat sich von der Opposition eher fern gehalten und ihren Wahlkampf nicht unterstützt.
Und doch war es der professionellste Wahlkampf, der jemals in Belarus geführt wurde. Es war zu spüren, dass viel Geld dahinter steht und dass professionelle Polittechnologen ihn organisiert haben. Dies deutet neben vielen anderen Hinweisen darauf hin, dass derjenige, der von diesem Wahlkampf profitieren sollte, der Kreml war. Es ging nicht darum, Lukašenka zu stürzen, sondern darum, das Szenario von 2010 zu wiederholen: den Staat zu Gewalt zu provozieren, damit die EU den Dialog mit Belarus abbricht und Sanktionen verhängt, kurzum: Lukašenka erneut in die Ecke zu treiben. Das ist es, was Putin braucht: einen schwachen, nachgiebigen Lukašenka, der bereit ist, Belarus mehr oder weniger offenkundig dem Kreml in die Hand zu legen.
Was jedoch dann passiert ist, macht den zentralen Unterschied zu 2010 aus. Eigentlich lief alles nach Plan. Die Marionetten aus Belarus haben den Plan sogar übererfüllt. Doch plötzlich nehmen die Ereignisse einen Verlauf, der nicht im Drehbuch vorgesehen war. Eine dritte Person betritt die Bühne: das belarussische Volk. Ein Volk, das wegen der Ereignisse der vergangenen sechs Monate wütend ist: Erst Lukašenkas Umgang mit der Pandemie und der wirtschaftliche Niedergang. Dann die fatalen Fehler des Regimes bei den Wahlen. Die Behauptung, 41 Prozent der Wahlberechtigten hätten ihre Stimme vorzeitig abgegeben und Lukašenka habe 80 Prozent erhalten das war einfach zu dreist. Und dann die nie dagewesene Gewalt gegen die Demonstranten in den Tagen danach. All dies löste eine Explosion aus. Die Dinge entwickelten sich anders, als der Kreml es geplant hatte. Jetzt hängt alles davon ab, ob die belarussische Gesellschaft genug Mut und Kraft hat, ihre Interessen durchzusetzen.

Osteuropa: Wie hatte sich die Lage für Schriftsteller, Künstler und Musiker in der vergangenen fünf Jahren entwickelt?

Klinau: Politisch gesehen gab es mehr Freiheit. Wirtschaftlich hat die unabhängige belarussische Kulturszene in den letzten fünf Jahren Tag für Tag ums Überleben gekämpft. Die internationale Öffentlichkeit hatte Belarus vergessen und viele Stiftungen haben das Land verlassen. Unabhängige Kultur ist ohne finanzielle Unterstützung nicht möglich. Und in einem autoritären Land kommt diese nicht vom Staat. Daher sind sehr viele Projekte aufgegeben worden, Künstler haben aufgegeben und sich eine Brotarbeit gesucht.
Eine positive Entwicklung gab es allerdings: Erstmals haben sich private Mäzene vorgewagt. Dort, wo privates Kapital hingeflossen ist, hat sich viel entwickelt in den vergangenen Jahren. Der wichtigste Mäzen war übrigens Viktor Babaryko, der dann zu den Präsidentschaftswahlen antreten wollte und verhaftet wurde. Die Belgazprombank, der er vorstand, hat so wichtige Projekte wie das Theaterfestival Te-art, die Kulturfabrik OK-16, die Galerie Herbstsalon und die Sammlung Pariser Schule unterstützt.
Für Schriftsteller aber blieb die Lage absolut prekär. Die Auflagen von Büchern in belarussischer Sprache sind zwar etwas gestiegen, aber finanzielle Auswirkungen hatte das keine.

Osteuropa: Gibt es Hoffnung, dass Lukašenka die Unterstützung der Gewaltapparate verlieren könnte?

Klinau: Genau das passiert gerade. Das Regime zeigt überall Risse. Selbst wenn die Revolution nicht sofort siegt, wird die Gesellschaft nicht mehr in die frühere Apathie zurückkehren. Der Umbruch wird sehr bald kommen!

Artur Klinaǔ, Schriftsteller, Künstler, Herausgeber des Magazins für zeitgenössische Kunst pARTisan. Er lebt in Minsk und im Künstlerdorf Kaptaruny. Auf deutsch sind von ihm erschienen: „Minsk. Sonnenstadt der Träume“ und „Schalom“.

Gespräch und Übersetzung: Volker Weichsel

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