US-Politik: keine Zeit für Retrosozialismus

Quelle: IPG

Der nostalgische Hang zu revolutionären Phrasen schadet linken Parteien und ihren meist populären Politikansätzen.

Von Sheri Berman | 02.11.2020

„Der Ausdruck „Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ klingt wie ein guter Wunsch, ist aber in Wahrheit ein Fluch. Das wissen alle, die heute in den Vereinigten Staaten leben. Die USA durchleben eine besonders schwere Pandemiezeit mit überproportional vielen Erkrankungen und Todesfällen, was weitgehend mit dem ineffektiven, unkoordinierten und, man kann schon sagen, uninteressierten Krisenmanagement der Trump-Regierung zusammenhängt.

Dadurch verschärfen sich die wirtschaftlichen Probleme und die Spaltung der Gesellschaft. Betroffen sind unverhältnismäßig viele Menschen aus der Arbeiterklasse, der Mittelschicht sowie Minderheiten. Die Demokratie, die wir lange für selbstverständlich hielten, ist in Gefahr, und die anstehenden Wahlen könnten strittig und von Gewalt begleitet sein, wie wir es sonst nur aus einigen Ländern der „Dritten Welt“ kennen.

Wenn je eine starke Linke gebraucht wurde, die sich für die Verteidigung von liberaler Demokratie und gesellschaftlicher Solidarität und für die Förderung einer dynamischen und gerechten Wirtschaft einsetzt, dann jetzt. Doch es dürfte kaum nötig sein, daran zu erinnern, wie schwer sich die Linke in der letzten Generation damit getan hat, klare und umsetzbare Pläne für die generelle Bewältigung der Probleme in den westlichen Staaten zu entwickeln. Genauso schwer fiel es ihr, die Unterstützung der Wählerschaft zu sichern, damit Lösungen auch umgesetzt werden können.

Dieses Versagen trat besonders eklatant in der Finanzkrise 2008 zutage. Damals kam eine enorme Unzufriedenheit mit Neoliberalismus und Sparpolitik auf und es setzte sich die allgemeine Erkenntnis durch, dass der Kapitalismus „aus den Fugen“ geraten sei. Doch daraus erwuchs kein Zulauf für die Linke, und so blieb auch der wirtschaftliche Status quo weitgehend unverändert.

Die anstehenden Wahlen könnten strittig und von Gewalt begleitet sein, wie wir es sonst nur aus einigen Ländern der „Dritten Welt“ kennen.

Stattdessen profitierten von der Unzufriedenheit und der Not, die die Finanzkrise und ihre Nachwirkungen mit sich brachten, Rechtspopulisten in Europa und Donald Trump in den USA, was die gesellschaftlichen Probleme selbstredend nur noch vertiefte und Lösungen erschwerte. Wenn die „interessante“ Phase der Störungen und Turbulenzen, die wir derzeit erleben, anders ausgehen soll als die Finanzkrise, muss die Linke aus vergangenen Fehlern lernen.

In den USA verlief die entsprechende Debatte besonders lebhaft, zumal es für die Demokratische Partei eine Überlebensfrage ist, dass sie Donald Trump und den Teil der Republikanischen Partei, der ihn stützt, besiegt. Dazu gehört natürlich, die anstehende Präsidentschaftswahl zu gewinnen, es gilt aber auch, die Macht der Demokratischen Partei in Bundesstaaten und Kommunen auszubauen, damit ein Wiederaufbau der amerikanischen Gesellschaft und Wirtschaft von unten nach oben gelingen kann.

Die Übernahme der politischen Macht ist umso notwendiger, als wir es nun viele Jahre lang mit einem konservativ beherrschten Supreme Court zu tun haben werden. Die Demokraten müssen daher wie andere Mitte-Links-Parteien auch attraktive und umsetzbare Pläne für die Lösung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme entwickeln sowie breite und vielfältige Wahlbündnisse schmieden.

Einen überaus hilfreichen Beitrag in der jüngsten Debatte über die Strategie der Linken in den USA liefert John Judis mit seinem Buch The Socialist Awakening: What’s Different Now About the Left. Er analysiert das Erstarken der Parteilinken in Bernie Sanders überraschend erfolgreichen Wahlkampagnen um die Nominierung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten 2016 und 2020. In Entwicklungen der letzten Jahre sieht Judis Anlass zur Hoffnung, aber auch Grund zur Sorge.

In wirtschaftlicher Hinsicht fordert Judis, die Linke müsse zwei Versuchungen widerstehen, denen sie in der Vergangenheit erlegen ist. Die erste, die in linksintellektuellen Kreisen der USA, aber auch in vielen linken Parteien Europas zu finden ist – besonders stark wohl in der britischen Labour Party unter Jeremy Corbyns Führung –, ist die unmittelbare Kapitalismuskritik, verbunden mit „Endzeitfantasien“ über eine revolutionäre Transformation.

Es darf auch keine Rückkehr zur technokratischen Verwaltung des Kapitalismus geben.

Ruy Teixeira, der sich ebenfalls in den US-Debatten zu Wort meldet, spricht in diesem Zusammenhang von „Retrosozialismus“. Er erklärt: „Durch den nostalgischen Hang zu revolutionären Phrasen legt die Linke für die Bevölkerung die Latte hoch, diese Maßnahmen mitzutragen, obwohl sie eigentlich recht populär wären, sei es ein einheitliches Gesundheitssystem, der kostenlose Collegebesuch oder eine Jobgarantie.“

Teixeira, Judis und viele andere weisen nach, dass eine revolutionäre Transformation nur innerhalb eines relativ engen Kreises von Intellektuellen und Aktivisten Unterstützung findet. In The Socialist Awakening zitiert Judis beispielsweise Gespräche mit Menschen, die sich nach eigener Aussage für „Sozialismus“ aussprechen, im Grunde aber der europäischen Sozialdemokratie näher stehen: öffentliche Grundversorgung etwa im Gesundheitswesen und in der Bildung, dazu eine stärkere staatliche Regulierung der Wirtschaft, der Banken, der Umwelt und so weiter.

Doch auch wenn man die Wählerschaft nicht mit Forderungen verschrecken will, die sie nicht befürwortet und die sich nicht umsetzen lassen, muss man Reformen anstreben, die mehr als „nur“ die eine oder andere Verbesserung mit sich bringen. Es darf auch keine Rückkehr zur technokratischen Verwaltung des Kapitalismus geben, die den „Dritten Weg“ um die Jahrtausendwende prägte, verkörpert etwa durch den US-Präsidenten Bill Clinton und den britischen Premierminister Tony Blair.

Im Kampf gegen die umfassenden Probleme des Kapitalismus und seine Risiken und Nachteile für Arbeiterschaft und Mittelschicht sind auch maßgebliche Strukturreformen notwendig. Solche Reformen, betont Judis, müssten allerdings praktikabel und „innerhalb einer Generation umsetzbar“ sein.“

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Atomwaffenverbotsvertrag tritt am 22. Januar 2021 in Kraft! Was bedeutet das für uns?

Was bedeutet das Atomwaffenverbot für Deutschland?

Durch das Inkrafttreten wird in Deutschland der Druck auf die Bundesregierung wachsen, sich tiefergehend mit dem Vertrag auseinanderzusetzen. Gegebenenfalls muss die Frage schon in den künftigen Koalitionsverhandlungen behandelt werden. Bereits jetzt werden in verschiedenen Parteien Anträge gestellt, damit der deutsche Beitritt in den Wahlprogrammen explizite Erwähnung findet.

Auch politisch hat das Inkrafttreten auf Deutschland Auswirkung.

Bisher ist Deutschland Mitglied aller multilateraler Abrüstungsverträge. Deutschland  sieht sich als Verfechter der Menschenrechte, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Insbesondere die humanitären Werte, die zur Verhandlung des AVV geführt haben, gestalten es äußerst schwierig, ein Fernbleiben vom Vertrag zu rechtfertigen.

Dauerhaft außerhalb eines UN-Vertrags mit dieser Reichweite zu bleiben, ist politisch nur schwer vermittelbar. Schon heute hat sich im Bundestag ein Parlamentskreis „Atomwaffenverbot“ konstituiert, in dem Abgeordnete aller demokratischen Parteien das Thema in halbjährlichen Treffen auf die Agenda setzen.

16 von 16 Landeshauptstädten fordern die Bundesregierung auf, den Verbotsvertrag beizutreten, insgesamt sogar über 100 deutsche Städte, darunter Berlin, München, Hamburg, Köln sowie vier Bundesländer, darunter Rheinland-Pfalz, wo die US-Atombomben gelagert werden. Knapp 170 Bundestagsabgeordnete haben sich dafür ausgesprochen; mit EU- und Landesparlamenten kommen wir auf 542 deutsche Abgeordnete.

In Anbetracht der öffentlichen Meinung – 92 Prozent der Deutschen unterstützen den deutschen Beitritt zum Atomwaffenverbot laut einer repräsentativen Umfrage von Kantar für Greenpeace im Juli 2020 – ist es letztlich eine Frage der Zeit, bis die politische Konstellation auf Bundesebene den AVV-Beitritt ermöglicht.

Sollte Deutschland beitreten, dürften deutsche Firmen und Banken nicht mehr an der Herstellung und Wartung von Atomwaffen und Trägersystemen arbeiten. Airbus dürfte Frankreich nicht mehr mit Raketen beliefern, ThyssenKrupp müsste Transparenz über die U-Boote für Israel schaffen, die möglicherweise für den Einsatz seegestützter Raketen ausgelegt sind. Finanzinstitute wie die Allianz, die größere Kredite u.a. an Aerojet Rocketdyne, BAE Systems und Boeing vergibt, müssten aus diesem Geschäft aussteigen.

Deutschland ist NATO-Mitglied und Lagerort für ca. 20 US-Atomwaffen. Im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ der NATO stellt Deutschland Trägerflugzeuge und Piloten für den Ernstfall des Atomwaffeneinsatzes zur Verfügung. Der Einsatz wird jedes Jahr bei der Militärübung „Steadfast Noon“ geübt.

Deutschland nimmt auch an der Einsatzplanung in der Nuklearen Planungsgruppe teil. Diese Aktivitäten wären mit einem Beitritt zum AVV untersagt. Deutschland müsste gemäß Artikel 4(4) erklären, wie das Land aus der nuklearen Teilhabe aussteigen wird, hierzu einen Zeitplan ausarbeiten und diesen umsetzen, gefolgt von internationaler Verifikation.

Dass Deutschland kraft der Stationierung von Atomwaffen besonderen Einfluss innerhalb der NATO ausübe, ist zweifelhaft, da die übrigen NATO-Mitglieder ohne stationierte Atomwaffen kaum Mitglieder zweiter Klasse sind. Sofern dieser besondere Einfluss Deutschlands besteht, wie zuweilen vorgetragen wird, hat er in den vergangenen Jahren kaum zum Erhalt der in Trümmern liegenden Rüstungskontrollverträge beigetragen.

Die USA behalten sich den Ersteinsatz von Atomwaffen explizit vor. Dies ist mit der Logik der nuklearen Abschreckung unvereinbar. Außerdem wird die Liste der Szenarien für Atomwaffen stetig erweitert und es werden besser einsetzbare „Mini-Nukes“ entwickelt. Dies alles deutet darauf hin, dass eine Debatte zur Nuklearstrategie innerhalb der NATO dringlich ist. Denn alle NATO-Staaten, auch Deutschland, tragen die Nuklearstrategie der USA implizit mit, wenn sie sich dazu nicht öffentlich äußern.

Was können wir tun?

Wir können an Außenminister Heiko Maas schreiben!

ICAN-Partner IPPNW Deutschland hat eine Online-Aktion eingerichtet. Ein offener Brief an Bundesaußenminister Maas mit dem Titel „Das Atomwaffenverbot steht für Multilateralismus und Völkerrecht“. Damit fordern wir ihn auf, für den UN-Vertrag zum Atomwaffenverbot einzutreten und den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland zu veranlassen. Bitte unterschreibe diesen Brief und schicke die Mail schon heute ab. Dann senden wir den Brief mit den gesammelten Unterschriften pünktlich an den Außenminister.

Alle 700 Mayors-for-Peace-Städte in Deutschland werden vor Weihnachten gebeten, sich am  22. Januar z.B. mit dem Hissen der Flagge und Pressestatements zu beteiligen. Wir könnten unseren OB Dr. Pascal Baden zu er gemeinsame Aktivität kontaktieren.

»Liste der Mayors for Peace in Deutschland

Wir könnten mit einer Plakataktion für den deutschen Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag werben.


Zivilgesellschaft nützt der Gemeinschaft: Politische Beteiligung ist #gemeinnützig!

Quelle: open petition

Als Erstes traf es Attac. Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs führt wahrscheinlich endgültig zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit. Kurz davor forderte ein Parteitag die Aberkennung der Gemeinnützigkeit für die Deutsche Umwelthilfe (DUH). Campact hat keinen gemeinnützigen Status mehr und auch Change.org ist bedroht. Nacheinander verlieren kleine & große Organisationen und Vereine die Gemeinnützigkeit, weil sie sich „politisch einmischen“ – Schluss damit!

Wir brauchen Rechtssicherheit für politische Willensbildung! Daher fordern wir Finanzminister Olaf Scholz und die Abgeordneten des Bundestages auf:

  • Erkennen Sie den Wert zivilgesellschaftlichen Engagements für eine lebendige Demokratie und eine ausgewogene öffentliche Debatte an!
  • Stellen Sie sicher, dass die selbstlose Beteiligung an der öffentlichen Meinungsbildung sowie der politischen Willensbildung durch gemeinnützige Organisationen unschädlich für deren Gemeinnützigkeit ist.
  • Erweitern Sie dafür als Sofortmaßnahme die Liste der explizit gemeinnützigen Tätigkeiten um die Förderung der Wahrnehmung und Verwirklichung von Grundrechten, Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Klimaschutz, informationeller Selbstbestimmung, Menschenrechten und der Gleichstellung der Geschlechter.

Begründung

Diese Entwicklung zeigt: Der Gegenwind für politisch sich einmischende Organisationen droht gerade zum Orkan zu werden. Die Politik hat es bislang versäumt, Rechtssicherheit für gemeinnützige Arbeit zu politischen Fragen zu schaffen.

Selbst Sport- oder Kulturvereine riskieren künftig ihre Gemeinnützigkeit, wenn sie sich politisch äußern. Nach der Attac-Entscheidung wird das entsprechende Gesetz (Abgabenordnung) voraussichtlich deutlich enger ausgelegt als zuvor. Das muss verhindert werden. Sonst arbeiten zivilgesellschaftliche Organisationen künftig mit der „Schere im Kopf“ aus Angst, ihre Gemeinnützigkeit zu verlieren.

Vielseitige Debatten sind das Lebenselixier der Demokratie. Dafür müssen alle gesellschaftlichen Gruppen gehört werden. Bisher war das nicht nur Konzernen und ihren Verbänden, sondern auch gemeinnützigen Vereinen möglich.

Erstunterzeichnende: Attac Deutschland | campact e.V. | Mehr Demokratie e.V. | Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V. (VVN-BdA) | AKuBiZ e.V. | .ausgestrahlt e.V. | Demokratisches Zentrum Verein für politische u. kulturelle Bildung Ludwigsburg e.V. (DemoZ) | ethecon Stiftung Ethik und Ökonomie | LEAP (Law Enforcement Againist Prohibition) Deutschland | Adopt a Revolution | Robin Wood e.V. | Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. | Christliche Initiative Romero (CIR) | PowerShift e.V. | Gen-ethisches Netzwerk e.V. | Forum Menschenrechte – Netzwerk deutscher Menschenrechtsorganisationen

Vielen Dank für Ihre Unterstützung, Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung aus Berlin

Ist Demokratie lernbar: die Verfassungsschüler

ARD-Mediathek

Ein Jahr lang bringt Sozialwissenschaftler Yilmaz Woche für Woche seinen sogenannten „Verfassungsschülern“ politisches Denken und Diskutieren nahe.

Inhalt und Wert des Grundgesetzes. Und das in einem Viertel in Dortmund, in dem Perspektivlosigkeit und Armut den Ton angeben. In dem junge Erwachsene in Parallelwelten leben, sich kaum für Politik interessieren und nicht wählen gehen. Das Pilotprojekt will Diskriminierung, Extremismus und Antisemitismus an der Wurzel packen. „Wenn Abgehängte unserer Gesellschaft in die Hände von Radikalen geraten, ist unsere Demokratie in Gefahr“, sagt Suat Yilmaz.

Der Film zeigt ihn und die Dortmunder Verfassungsschüler bei ihrem Versuch, sich zu selbstbewussten, politisch interessierten und diskussionsfreudigen jungen Erwachsenen zu entwickeln.

Der Film dokumentiert die tiefe Kluft zwischen Grundgesetz und Lebensrealität. Zwischen den Rechten und Pflichten, die sich durch unsere Verfassung ergeben, und den Erfahrungen, die die Jugendlichen bislang am Rande der Gesellschaft gemacht haben.