Exzellente Kissinger-Biografie: Heiß auf den Kalten Krieg

Quelle: Süddeutsche Zeitung – Auszüge aus der Rezension von Franziska Augstein – September 2020

Der Historiker und Amerikanist Bernd Greiner zeichnet in einer exzellenten Abhandlung nach, wie Henry Kissinger die US-Außenpolitik von Richard Nixon mitprägte – und wie die beiden im Weißen Haus wüteten.

Als Richard Nixon 1968 Wahlkampf führte, gaben seine Mitarbeiter ihm ein Memorandum mit: Die Vereinigten Staaten seien bisher zu defensiv gewesen. Es gelte, der Welt zu zeigen, wer Herr auf dem Globus ist: mittels kleiner Kriege, militärischer Machtdemonstrationen an den Grenzen der UdSSR und Chinas sowie in der Dritten Welt, psychologische Kriegsführung nicht zu vergessen. Nixon wurde 1969 als 37. Präsident der USA bestallt und kam auf den Autor des Memorandums zurück: Henry Kissinger.

Kissinger, 97 Jahre alt, gilt als Orakel der Realpolitik, als brillanter Historiker und Länderkenner. Sein Leben lang hat er verstanden, sich mit Mächtigen gut zu stellen. Nun hat der Historiker und USA-Experte Bernd Greiner dem Sicherheitsberater von Richard Nixon, dem Außenminister und späteren Berater zahlungskräftiger Kunden, dem Autor vieler Bücher ein bleibendes Denkmal gesetzt: Kissinger ist hochintelligent, ein exzellenter PR-Mann in eigener Sache, eher nicht bewundernswert. Greiners Buch kommt an diesem Donnerstag in die Buchhandlungen. …

Einige Jahre lang hat Bernd Greiner an seinem Buch gearbeitet. Es ist viel mehr als eine exzellente Biografie, es bietet eine Darstellung der Grundzüge und Idiotien amerikanischer Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, sinnfällig gemacht anhand des Gespanns Nixon und Kissinger.

Der Watergate-Skandal hat Nixons Ruf dermaßen erledigt, dass die meisten bei Erwähnung seines Namens an Intrigantentum und Alkohol denken. Kissinger hat sein Teil dazu getan. Wenn es nach ihm geht, war er der Schöpfer der erfolgreichen Verhandlungen mit Russland und China Anfang der 1970er-Jahre. Greiner zeigt, wie es wirklich gewesen ist. Nixon bestimmte die Außenpolitik und konnte dabei Kissinger gut brauchen.

Die beiden waren eines Sinnes: begrenzte Atomkriege sind machbar; Aufrüstung ist nötig; und der Feind – die UdSSR – muss im Unklaren darüber gelassen werden, wie weit man zu gehen beabsichtigt. In Kissinger fand Nixon einen Gehilfen bei der Umsetzung seiner „Madman-Theorie“. Die beschrieb der Präsident so: Im Kreml müsse man denken, „dass dieser Nixon vom Kommunismus besessen ist, dass man ihn nicht bändigen kann, wenn er wütend wird, und dass er obendrein den Finger auf dem Atomknopf hat“.

Nixon war kein netter Arbeitgeber. Seinen Sicherheitsberater mit unflätigen, auch antisemitischen Beschimpfungen zu traktieren, war normal. Kissinger konnte devot sein und sich auf diesen Ton einschwingen.

Nixon bezeichnete seriöse Menschen als Clown, Strolch, Bastard, Hurensohn, Wahnsinniger, Arschloch, Luder, Dummkopf, Schwuchtel, Trampel, Pupser, Zwerg, Schweinepriester, Tussi, Wichser, Gauner, Mistkerl, Hure, Bandit, Kotzbrocken, Trottel, Schwanzlutscher, Ratte. Greiner hat 38 Schimpfwörter zusammengetragen und schreibt lakonisch, seine Liste dürfte „halbwegs vollständig“ sein.

Es war üblich gewesen im Weißen Haus, heimlich Aufzeichnungen der dort geführten Gespräche zu machen. Zu Beginn seiner Amtszeit wollte Nixon das nicht fortführen. Als er aber mitbekam, dass Kissinger hinter seinem Rücken übel über ihn sprach, ließ er eine Abhöranlage installieren. 1973, als der Watergate-Skandal losgebrochen war, machte ein Vertrauter des Präsidenten das öffentlich.

Danach, so Greiner, „wurden die Aufzeichnungen eingestellt, zum Bedauern von Historikern und allen, die sich einen Sinn für unfreiwillige Komik bewahrt hatten“. Diese Aufzeichnungen hätte Nixon besser nicht machen lassen: Sie führten zu seinem Abtritt, denn sie belegten unter anderem, dass er 1972 Einbrecher ins Wahlkampfbüro der Demokratischen Partei im Wohn- und Bürokomplex „Watergate“ geschickt hatte. Per Beschluss des Obersten Gerichtshofs der USA mussten die Aufzeichnungen 1974 herausgegeben werden. Greiner hat sie studiert wie andere die Bibel.

Im Hinblick auf unverträgliches Verhalten stand Kissinger seinem Präsidenten nicht nach. Von 1969 bis 1973 drohte er mindestens 16-mal mit seinem Rücktritt. An haltloses Brüllen mussten seine Mitarbeiter sich gewöhnen; sie lernten, beiseitezutreten, wenn sie mit Gegenständen beworfen wurden. Greiner zeigt, dass Kissinger sich aufgeführt hat wie der Gockel auf dem Mist. Den damaligen Außenminister William Rogers suchte er kaltzustellen. Die Militärs im Pentagon fühlten sich von ihm erniedrigt. Das Gleiche galt für das führende Personal von CIA und FBI.

Vor Watergate hatte Richard Nixon das Heft in der Hand. Er war es, der darauf drang, mit der UdSSR und mit China ein Einvernehmen zu finden. „Tricky Dick“ wollte beide Staaten gegeneinander ausspielen. Das hat recht gut funktioniert. Im Übrigen war die damalige Außenpolitik der USA ziemlich verheerend, ja dümmlich.

Nixon und Kissinger haben den von den vorherigen US-Regierungen geerbten Krieg gegen Nordvietnam sinnlos in die Länge gezogen. Die beiden, so Greiner, „klammerten sich an eine zum Dogma erstarrte Maxime: Solange man nicht wie ein offenkundiger Verlierer dasteht, ist der Krieg gewonnen“.

Greiner weiter: „Wie widerständig ein in Jahrzehnten des Unabhängigkeitskampfes genährter Nationalismus war, wie misstrauisch Hanoi trotz der neuen Waffenbrüderschaft die alte Kolonialmacht China beäugte, wie sehr die Berufsrevolutionäre um Ho Chi Minh auf Rückhalt in der Bevölkerung setzen konnten, wie der Machtapparat in Nordvietnam funktionierte und wer dort überhaupt das Sagen hatte – für derlei Fragen interessierte man sich in Washington schlichtweg nicht.“

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Rezension im Deutschlandfunk:  Ein Leben für die Macht“  von Jörg Himmelreich (20.9.2020)

„Greiners Kissinger-Biografie ist hoch aktuell, weil sie zeigt, welch lange zuvor schon etablierten Wesenszüge US-amerikanischer Politik bis heute unter Präsident Trump fortwirken. Man mag sie mit vielen guten Gründen verurteilen. Noch sind die Bundesrepublik und Europa jedoch vom US-amerikanischen Sicherheitsschirm abhängig. Wer daher jenseits berechtigter moralischer Empörung die Unwägbarkeiten und Techniken der Washingtoner Politik von heute erkennen und einschätzen will, der kommt um diese Biografie nicht herum.“


Ausgabe Oktober 2020

Gewalt. Macht. Hegemonie –Zur Aktualität von Henry Kissinger

»Wie soll man denn Diplomatie ohne die Androhung von Eskalation betreiben?
Ohne diese Drohung gibt es keine Grundlage für Verhandlungen.«
– Henry Kissinger
[1]

Was macht eine Ordnungsmacht, wenn ihr die Ordnung entgleitet? Was bedeutet der Verlust von Macht und Einfluss? Wo ist Amerikas Platz in einer multipolaren Welt? Ist es ratsam, sich dem Wandel entgegenzustellen, ihn gar aufhalten zu wollen? Diese Fragen stellen sich den Vereinigten Staaten seit Jahren. Sie sind also keineswegs neu, sondern drängten bereits Ende der 1960er Jahre mit aller Macht auf die politische Tagesordnung.

Wegen der immensen Belastungen des Vietnamkrieges taumelte der Dollar damals als internationale Leitwährung von einer Krise zur nächsten; die Sowjetunion hatte wegen der Invasion in der CˇSSR zwar politisch einen Rückschlag zu verdauen, befand sich militärisch aber auf dem besten Weg, mit dem Atomwaffenarsenal der USA gleichzuziehen; für die Unabhängigkeitsbewegungen in der Dritten Welt war der „American Way“ mittlerweile ein Entwicklungsangebot unter vielen und beileibe nicht das attraktivste; und obendrein demonstrierte die Bundesregierung in Bonn unter Willy Brandt mit ihrer Ostpolitik, dass Westbindung und eigenständiges Denken kein Widerspruch sein mussten.

Zu Hause ging es ebenfalls drunter und drüber. Wohlfeil war es, sich über die Protestierer aufzuregen, die anlässlich der Nominierung eines Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei unter tätiger Mithilfe der Polizei Chicago in den Ausnahmezustand randalierten. Tatsächlich ging es um viel mehr – um politische Erosionsprozesse auf allen Ebenen, die Elite des Landes eingeschlossen. Vom legendären Nachkriegskonsens blieb angesichts der Wortmeldungen von Parteigranden, Senatoren und „elder statesmen“ nicht mehr viel übrig. Zeitdiagnose im Panikmodus, wohin man auch blickte. Eine Arroganz der Macht attestierten die einen, Torheit und Selbstüberdehnung die anderen. Und allen war Ratlosigkeit gemein. Oder blankes Entsetzen, nachdem Hoffnungsträger wie Robert Kennedy und Martin Luther King von Attentätern niedergestreckt worden waren.

Die Aufgeregtheiten von damals sind heute Geschichte, nicht aber das Thema. Seither wird vor unterschiedlichen Kulissen und mit wechselnder Besetzung über die Rolle der USA als Welt- und Ordnungsmacht gestritten. Was will und kann man erreichen? Mit welchen Mitteln, an wessen Seite und zu welchem Ende? Dass daraus ein immerwährendes Selbstgespräch wurde, liegt an der politischen Beschleunigung des Weltgeschehens, die mit hoher Schlagzahl gewohnte Koordinaten durcheinanderwirbelt und neue Akteure hervorbringt. Multipolarität verträgt sich auf Dauer nicht mit Hegemonie, stabile Bündnisse werden in volatiler Umgebung schnell zum Anachronismus, Dominanz zieht in der Konkurrenz mit kluger Führung den Kürzeren. Was freilich nicht ausschließt, dass Wege in die Zukunft trotz alledem auf den Landkarten der Vergangenheit gesucht werden.

Die Liaison von Macht und Geist

Beim Nachdenken über tragfähige Antworten greifen US-Politiker und Militärs gerne auf ein Modell zurück, das nach der Weltwirtschaftskrise und am Vorabend des Zweiten Weltkrieges seine Bewährungsprobe bestanden hatte – die Liaison von Macht und Geist. Generationen von Intellektuellen verbringen ihr Leben noch immer als Pendler zwischen Universitäten, Denkfabriken und den Vorzimmern der Macht, einige schaffen es als Sekundanten auch in den innersten Kreis. Und manche leiten ihre Wichtigkeit aus der bloßen Behauptung ab, bedeutend zu sein, ehe sie von der Realität eingeholt werden und sich wieder in die lange Beraterschlange einfädeln müssen.

1969 betrat mit Henry Kissinger jener Mann die große Bühne, der zur Inkarnation der Verbindung von Geist und Macht werden sollte. US-Präsident Richard Nixon, der vor seiner Wahl dem Land einen großen Plan versprochen hatte, ohne Genaueres geplant zu haben, machte ihn zu seinem Gehilfen. Kissinger galt als Diener aller Herren, aber auch als Egomane, dessen Zuarbeit Fluch und Segen zugleich sein konnte. Nixon ging das Risiko ein, zumal sein Assistent wichtige Qualitäten für eine Orientierung im Ungewissen mitbrachte. Kissinger hatte sich in Harvard, Washington und New York fast zwanzig Jahre lang in der Grauzone zwischen Wissenschaft und Politik bewegt und das Ideenreservoir zur Pflege amerikanischer Ansprüche aus der Nähe kennengelernt. Mit originellen Einfällen war er nicht hervorgetreten. Wohl aber als Zeitgenosse mit einem ausgeprägten Gespür für wechselnde Stimmungen und der Begabung, Gedanken anderer bündeln und die Synthese als Eigenprodukt ausgeben zu können.

Im Verkauf war er schier unerreicht. Kissinger konnte aus beiden Mundwinkeln zugleich reden und beherrschte die Kunst des raunenden Schreibens sowie der vernebelten Rede. Bei Bedarf schielte er in die eine Richtung und rannte in die andere davon. Diese Flexibilität war in Nixons Augen sogar von Vorteil, jedenfalls im Umgang mit der vermeintlich übelwollenden Presse. Wie auch immer: Kissinger half dem Präsidenten beim Sortieren seiner Vorstellungen. Darunter finden sich drei, die bis heute wie Untote immer wieder durch das Weiße Haus geistern.

Der Urgedanke bis heute: Amerikas Vorherrschaft ist unverzichtbar

Erstens: Amerikas Vorherrschaft ist unverzichtbar. Im moralisch überhöhten Bild der auserwählten Nation ist dieser Anspruch konserviert, eine selbstverordnete Wahrheit im Rang eines Naturrechts. Kissinger verkündete die Begründung. Europäer, so betonte er ausgerechnet 1973 in seiner Rede zum „Jahr Europas“, haben nur regionale Interessen im Blick und können folglich keine globale Verantwortung übernehmen.[2] Eliten der Dritten Welt bestritt er die Fähigkeit zum Denken in weltpolitischen Zusammenhängen ohnehin, in Kissingers Orbit kamen sie bestenfalls als Statthalter des Westens mit klar begrenzten Aufgaben und beschränkter Haftung in Frage – und auch das nur nach Abschluss eines politischen Erziehungsprogramms. Über die Rivalen aus dem sozialistischen Block verlor Kissinger in diesem Zusammenhang nicht viele Worte, stellten sie doch aus seiner Sicht die Legitimität der existierenden Ordnung wie eh und je in Frage. Will sagen: Stabilität ist gleichbedeutend mit amerikanischem Übergewicht, Gleichgewicht der Macht heißt, dass die Vereinigten Staaten ebenso viel oder mehr auf die Waage bringen wie alle anderen Mächte zusammen – jedem einzelnen überlegen, gegen jedes Bündnis gewappnet. Wer aber die Welt für jene ordnet, die im Gebrauch der Macht nicht geübt sind, und vor jenen schützt, die mit Macht Missbrauch betreiben, hat selbstverständlich das Recht zu Alleingängen. Auch so kann und sollte „America First“ gelesen werden.

Zweitens: Eine Führungsmacht braucht den Willen zur Gewalt. Hinter diesen Merksatz setzte Kissinger gleich mehrere Ausrufezeichen, er hatte ihn in seinen Lehr- und Wanderjahren wie kaum etwas anderes verinnerlicht und bei ungezählten Anlässen selbst vorgetragen. Im Kern handelte es sich um eine Polemik gegen die traditionelle Lesart der Abschreckung oder gegen die Annahme vom stummen Wirken der Weltuntergangswaffen. Dergleichen nur zu besitzen, so sein Einwand, ist allenfalls ein Ausweis materieller Stärke. Politische Macht schlägt daraus erst, wer eine Entschlossenheit zum Einsatz dieses Arsenals demonstriert.

Demnach waren gerade im Frieden entwaffnende Auftritte gefragt, um den Krieg zu verhindern – wie zur Zeit der Kuba-Krise, die Kissinger zum Vorbild von Willensstärke und Durchsetzungskraft überhöhte. Dass im Oktober 1962 zum Tanz auf dem Vulkan geladen worden war, ließ er als Einwand nicht gelten. Im Gegenteil: Er münzte die damalige Erfahrung in ein Dogma um. Politische Sicherheit und militärisches Risiko sind zwei Seiten einer Medaille, eine Ordnungsmacht, deren Gewaltbereitschaft in Frage steht, verspielt ihre Glaubwürdigkeit. Auch so wollte Kissinger Realpolitik verstanden wissen. Nämlich als Rückbesinnung auf eine Lektion, die seines Erachtens ohne Not in Vergessenheit geraten war: Diplomaten sichern Frieden nur dann, wenn sie das Handwerk der Nötigung beherrschen. Außenpolitik muss vom Militärischen ausgehend gedacht werden, ansonsten verfehlt sie ihren Zweck.

Drittens: Macht beruht auf Angst. Henry Kissingers publizistischer Durchbruch stand im Zeichen dieser Formel. Sie war der Dreh- und Angelpunkt seines 1957 erschienenen Bestsellers über die Rolle von Nuklearwaffen in der Außenpolitik und markierte den psychologischen Mehrwert erfolgreicher Abschreckung. Niemand soll dem Irrglauben aufsitzen, auf der militärischen Eskalationsleiter mit den USA mithalten zu können, Risiken werden reduziert, sobald die andere Seite mehr Angst vor dem Krieg hat als man selbst. Sicherheit ist demnach kein Gut, das allen gemein ist und von allen gleichermaßen in Anspruch genommen werden kann. Es geht vielmehr um asymmetrische Verteilung. Sicherheit auf der einen Seite steht und fällt mit Unsicherheit auf der anderen Seite.

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 Nixon – Arroganz der Macht (2)  Der Vietnam-Krieg10.752 Aufrufe –12.03.2017 – 20.250 Aufrufe 12.03.2017 –

„Richard Nixon – ein Mann der Extreme. Höhepunkt seiner Karriere: seine Zeit als US-Präsident. Bis ins Frühjahr 1973 galt Richard Nixon als einer der erfolgreichsten US-Politiker des 20. Jahrhunderts. Er hatte den Vietnam-Krieg beendet, war als erster Präsident zu Staatsbesuchen in Peking und Moskau, hatte etwas gegen die Inflation getan. Aber er steht auch für Amerikas berühmtesten Polit-Skandal, die Watergate-Affäre. 1972 war er mit großer Mehrheit wiedergewählt worden.

Dann, im März 1973, begannen die US-Medien über Hinweise zu berichten, nach denen der Präsident verantwortlich für einen Einbruch in den Watergate-Gebäudekomplex gewesen sei, wo die Demokratische Partei ihr Wahlkampfhauptquartier hatte. Schnell verdichteten sich die Gerüchte zur skandalösen Gewissheit. Nach einer ganzen Reihe weiterer Enthüllungen über Fälle eklatanten Amtsmissbrauchs trat Richard Nixon am 9. August 1974 zurück – als erster und bislang einziger US-Präsident.

Ein Mann der Widersprüche Die Dokumentation zeichnet das Psychogramm eines hochbegabten Politikers mit zwiespältigem Charakter – eine politische Karriere mit viel Licht und noch mehr Schatten. Im Weißen Haus herrschte damals eine Atmosphäre des Misstrauens, die bei Nixon kriminelle Energien freisetzte. Nixon, Sohn einer christlichen Mutter mit moralischen Ansprüchen, war ein Mann der Extreme und Widersprüche. Er sprach von Recht und Ordnung und hatte kriminelle Kontakte. Er predigte Offenheit und Ehrlichkeit und log im nächsten Moment. Er versprach Frieden und förderte den Krieg. Der Film enthüllt seine emotionalen und mentalen Probleme. Seine Stimmungsschwankungen – und das bei dem Mann, der den Finger am atomaren Zündknopf hatte.“

Chinas politisches System und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Prof. Dr. Thomas Heberer

Chinas politisches System und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts (Prof. Dr. Thomas Heberer)  6.796 Aufrufe  05.02.2016

Prof. Dr. Thomas Heberer, Seniorprofessor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen spricht in seinem Vortrag über „Chinas politisches System und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“.

Dabei erläutert er die Funktion des chinesischen Staates, zeigt auf, warum es sich bei dem Entwicklungsstaat um ein fragmentiertes System handelt und beleuchtet die Frage der Steuerungsfähigkeit insbesondere auf lokaler Ebene.

Kann ein autoritärer Staat stabil sein und besitzt er Legitimität? Und was kann man tun und erwarten, um die Steuerungsfähigkeit des Landes zu verbessern? Prof. Dr. Thomas Heberer diskutiert in seinem Vortrag über genau diese Aspekte.

Die Veranstaltung fand am Donnerstag, 28. Januar 2016 im Rahmen des Colloquium Fundamentale am ZAK | Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale statt.

Thomas Heberer ist Seniorprofessor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen. Er beschäftigt sich seit 50 Jahren mit China, hat viele Jahre in China gelebt und gearbeitet. Seit den 1970er Jahren führt er auf jährlicher Basis Feldforschung zu verschiedenen Themen und in verschiedenen Regionen durch.

Er hat mehr als 50 Bücher und Hunderte von Aufsätzen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und Buchpublikationen veröffentlicht. Er war Berater der Europäischen Kommission in Sachen China und hat Bundes- und Ministerpräsidenten beratend nach China begleitet. Zudem ist er Mitglied des Redaktionsausschusses zahlreicher internationaler Fachzeitschriften und Buchreihen. Er ist zugleich Ko-Direktor des Konfuzius-Instituts Metropole Ruhr an der Universität Duisburg-Essen.

Aufs Ganze gehen! 10 Jahre Institut für solidarische Moderne – die Perspektive der Mosaik-Linken

26.06.2020 – Andrea Ypsilanti und Thomas Seibert
Andrea Ypsilanti und Thomas Seibert, ISM-Vorstandsprecher

Andrea Ypsilanti und Thomas Seibert, ISM-Vorstand

Dieser Text wurde vor der Corona-Pandemie verfasst, also vor den in ihrem Ausmaß heute noch gar nicht absehbaren Verwerfungen, die mit ihr durchbrechen. Trotzdem sind die diesem Text zugrunde liegenden Annahmen nach wie vor gültig und aktuell. Mehr noch: Die Nötigung zu einer Verständigung der linken Kräfte nicht nur zu gemeinsamem Widerstand, sondern zu einer Durchsetzungsperspektive ist sehr viel stärker geworden. Nach unserer Überzeugung müssen die Akteur*innen des linken Mosaiks nahezu bis zur Schmerzgrenze aufeinander zugehen und sich aufeinander beziehen. Das kann nicht heißen, bestehende und fortwirkende Unterschiede einfach aufzugeben, sondern das Wagnis auf sich zu nehmen, sie in einem gemeinsamen Projekt und für dessen politische Durchsetzung produktiv zu machen. Das neoliberale, konservative und rechtsextreme Lager sammelt sich auf seine Weise. Progressive Parteien, soziale und ökologische Bewegungen, Kulturschaffende, Wissenschaftler*innen und die vielen an ihrer eigenen wie an der Emanzipation aller arbeitenden Einzelnen müssen das auf ihre Weise tun: müssen riskieren, aus ihren Unterschieden das sie Verbindende, das ihnen Gemeinsame zu suchen.

Wir haben das Institut Solidarische Moderne zu einer Zeit gegründet, als eine rot-grün-rote Koalition noch über eine gesellschaftliche Mehrheit verfügte. Ihr Zustandekommen wurde dann aber von den Parteien verfehlt, die sie hätten bilden sollen. Wir haben in einer solchen Koalition, das war und ist unser wichtigster Punkt, ein Ganzes gesehen, das mehr wäre als die Summe seiner Teile, mehr wäre also als die sozialdemokratische, die grüne und die Partei der Linken je nur für sich. Unser Ziel war und ist es, diesem Ganzen einerseits zum Ausdruck und andererseits zu einer Perspektive seiner Durchsetzung zu verhelfen.

Unser Begriff für diese doppelte Aufgabe ist der einer radikaldemokratischen und sozialökologischen Transformation der bestehenden Verhältnisse. Sie muss und soll über den nationalen Rahmen hinausführen, auf ein mit sich und mit der Welt solidarisches Europa, auf eine globale solidarische Moderne. Mit diesem Projekt haben wir uns und unsere doch eher bescheidenen Kräfte nicht etwa überschätzt, sondern uns als offene „Programmwerkstatt“ einer breiten Mosaiklinken verstanden, die weit über uns selbst hinausreicht. Das Mosaik wiederum sollte nicht einfach eines der drei linken Parteien, es sollte vielmehr das Mosaik ganz verschiedener Formen linker Politik sein. Es sollte dabei Partei-, Zivilgesellschafts- und Bewegungspolitiken mit einer Politisierung kritischer Theorie verbinden – und andersherum. Auf den Punkt gebracht: Eine solidarische Moderne kann nur eine Sache der bewussten Selbsttätigkeit der Gesellschaft wie vieler Einzelner sein.

Dabei blieb uns stets bewusst, dass die in Umfragen immer wieder bestätigte rot-grün-rote gesellschaftliche Mehrheit ungesichert war. Wir haben dazu den Begriff des „dissidenten Drittels“ gebildet, mit dem gesagt werden soll, dass die linken, solidarischen oder allgemeiner die progressiven Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft sicher nur ein Drittel ihrer Mitglieder umfassen, gegenüber zwei Dritteln, die zwischen beiden Richtungen schwanken oder gegebenenfalls eher nach rechts orientiert sind. Optimistisch blieben wir, weil wir der Auffassungen waren und sind, dass das „dissidente Drittel“, wenn es denn zusammenfindet, trotzdem mehrheitsfähig sein kann.

Zum rechten Lauf der Dinge

Zwischenzeitlich ist die jahrelang stabile rot-grün-rote Umfragemehrheit verdampft. Das geschah wesentlich infolge des rasanten Zerfalls der SPD, infolge der offenbaren Stagnation der LINKEN – und infolge einer Drift nach rechts, die in der AfD ihre dynamische Kraft gefunden, mittlerweile aber weite Teile der Gesellschaft erfasst und sich in einer manifesten Verschiebung nicht nur des Migrations-, sondern einiger anderer politischer Diskurse auf konservative oder offen reaktionäre Positionen niedergeschlagen hat. Dabei ist diese Drift nach rechts nicht bloß ein bundesrepublikanisches, sondern ein gesamteuropäisches und nicht zuletzt ein globales Phänomen. Zugleich sind die Schranken, die der Rechtsdrift unserer Gesellschaft einerseits durch die Widerständigkeit sozialer Bewegungen und andererseits durch die Wahlerfolge der Grünen gesetzt wurden, in sich brüchig. Zum einen bindet der erzwungene permanente Abwehrkampf Energien, die zivilgesellschaftliche Initiativen wie soziale Bewegungen anderswo dringend brauchen und fördert dabei deren aus Jahrzehnten des Widerstands gegen neoliberale Angriffe stammende Neigung zur Selbstbeschränkung auf die Defensive.

Zum anderen gibt es starke Tendenzen in der grünen Partei und unter ihren Wähler*innen, die eher auf eine schwarz-grüne Wende zugunsten einer ökologischen Modernisierung des Kapitals als auf eine sozialökologische Transformation setzen. Das grundsätzliche Ungenügen einer schwarz-grünen Wende liegt nun aber darin, dass ihr möglicher Erfolg an den Fortbestand und darüber hinaus an die Stärkung der Vormachtsposition der Bundesrepublik und der Europäischen Union in den globalen Machtverhältnissen und auf dem kapitalistischen Weltmarkt gebunden bleibt. Was das heißt, kann an der letztlich doch wankelmütigen Haltung der Grünen in der Frage der Migrationsabwehr und Migrationskontrolle abgelesen werden. Der entschlossenen Solidarität vieler Amtsträger*innen, Mitglieder und Unterstützer*innen der Grünen mit den Geflüchteten widerspricht die willentliche Teilhabe schwarz-grüner Länderregierungen an der herrschenden Anti-Migrations-Politik. Es kann auch, um aus gegebenem Anlass einen Blick über die Landesgrenze zu werfen, an der ÖVP und den österreichischen Grünen abgelesen werden, die gerade eine schwarz-grüne Koalition eingegangen sind.

Bedauerlicherweise sieht es bei den Sozialdemokrat*innen in dieser Frage nicht besser, sondern wenigstens ebenso düster aus: Immerhin ist die SPD Teil der Großen Koalition, deren Außenpolitik im Verbund mit EU und NATO dem türkischen Präsidenten Erdoğan freie Hand bei all seinen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen gewährt. Und: Auch wenn die LINKE bei diesem wortwörtlich mörderischen Spiel mehrheitlich nicht mitspielt, sondern sich eindeutig an die Seite der Geflüchteten stellt, gibt es doch Kräfte in der Partei und wohl mehr noch in ihrer Wähler*innenbasis, die in dieser wie auch einigen anderen Fragen ebenfalls nach rechts tendieren.

Solidarische oder regressive Moderne

Die politische Lektion der Migrations- und der mit ihnen verbundenen Willkommensbewegungen liegt im Nachweis der Notwendigkeit, die unumgänglich globale Dimension heutiger Gerechtigkeitspolitiken in den Blick zu nehmen. Wir können in dieser Hinsicht ebenso gut von der Klimakrise sprechen, wir können und müssen aber auch vom dramatischen Armutsgefälle nicht bloß in der eigenen Gesellschaft, sondern im Weltmaßstab sprechen. Wir könnten schließlich auch von der globalen Krise überhaupt der Politik sprechen, einer Krise, die sich dramatisch im gewaltsamen Zerfall der überkommenen Weltordnung zeigt, in der Ausweitung der durch Krieg und Gewalt verheerten Weltregionen sowie in der Militarisierung der internationalen Politik und der fortlaufenden Aufrüstung Europas. Wohin man auch sieht, immer geht es darum, dass Gerechtigkeitspolitiken als der Kern linker Projekte stets in globalisierter Dimension gedacht werden müssen – oder aber gar keine Gerechtigkeitspolitiken und damit auch gar nicht mehr „links“ sein können.

Es ist dieser Grund, der die Frage der Migrant*innen zu einer vordringlichen macht – nicht, wie immer wieder unterstellt, irgendeine auf Kosten der „sozialen Frage“ verfolgte „bloß“ linksliberale Multikulti-Versessenheit. Sichtbar wird das, um noch einmal darauf zurückzukommen, in der auch migrationspolitisch begründeten schamlosen Kooperation der EU und der NATO mit dem Kriegsverbrecher Erdoğan.Das alles stellt, davon sind wir überzeugt, nur den Anfang eines möglichen totalen Ausverkaufs aller Errungenschaften der europäischen wie der selbst wieder globalen Demokratisierungsgeschichte dar: den Beginn des Wegs nicht in eine solidarische, sondern in eine regressive und deshalb konsequent autoritäre Moderne. Demonstriert wurde das zuletzt im nicht mehr nur traurigen, sondern erbärmlichen Scheitern der Klimakonferenz von Madrid. Um es auf den Punkt zu bringen: Wer die soziale Frage in der Bundesrepublik vordringlich im nationalen Rahmen stellt, entwirft seine Politik, ob gewollt oder nicht, als Politik für die im Weltmaßstab privilegierten Bewohner*innen des globalen Nordens und in Verteidigung ihrer Privilegien – und verfällt deshalb nicht zufällig, sondern zwingend auf eine Politik der Grenzsicherung um jeden Preis. Die geht dann wiederum nicht zufällig, sondern zwingend über Leichen.

Rot-rot-grün, Grün-rot-rot

Für uns aber bleibt es auch und gerade deshalb bei dem Farbenspiel, dem wir uns von Anfang an verpflichtet haben. Das mag nach der oben stehenden Bilanz überraschen und irritieren. Doch haben wir sowohl hier als auch an vielen anderen Stellen zuvor klargestellt, dass Rot-rot-grün für uns nicht nur eine partei- und koalitionspolitische Angelegenheit, sondern die Sache des Ganzen eines progressiven Politikentwurfs ist, der auf Bewegungen der Straße oder auf zivilgesellschaftliche Initiativen oder Alternativen ebenso angewiesen ist wie auf Parteien. Die sozialökologische und radikaldemokratische Transformation, die wir mit diesem Farbenspiel ansprechen, verweist auf einen langen und mehrdimensionalen Prozess der Gesellschaftsveränderung, der über alles hinausgehen wird, was eine Regierung leisten kann. Doch wollen wir mit dem Bezug auf Rot-rot-grün und damit auf Partei- und Regierungspolitiken auch festhalten, dass wir unter global ausgespannten Gerechtigkeitspolitiken auf der Höhe unserer zunehmend dramatischen Zeit nach wie vor eine ganz realpolitische Sache verstehen.

Tatsächlich verlangen wir von einer rot-rot-grünen oder jetzt wohl eher grün-rot-roten Koalition auf Bundesebene „nur“ den Einstieg in eine radikal-demokratische und sozialökologische Transformation der Bundesrepublik und der EU, mit der zivilgesellschaftliche Initiativen und soziale Bewegungen auf ihrem Terrain schon begonnen haben. Wie mindestens einem Drittel, vermutlich aber noch deutlich mehr Menschen der Bundesrepublik, geht es uns dabei um Dinge, die in den Programmen der Grünen, der SPD und der LINKEN, auch in denen vieler Gewerkschaften längst ihren Platz gefunden haben – vom Mindestlohn über die Bürger*innenversicherung, das sanktionsfreie Grundeinkommen, die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit bis zu einer Bildungsoffensive und einer entschlossenen Beschleunigung, Vertiefung und Ausweitung der Energie- und Mobilitätswende. Dazu bedarf es auch einer neuen Finanzarchitektur für Deutschland und Europa. Es bedarf der Revision der Schuldenbremse, um ein sozial-ökologisch-kulturelles Investitionsprogramm in Europa zu ermöglichen. Es bedarf schließlich einer Finanztransaktionssteuer, die ihren Namen verdient, weil sie nicht den Aktienkauf, sondern die „Vernichtungswaffen“ des Derivate- und Hochfrequenzhandels besteuert.

Über den Horizont hinaus

Und: Wir wünschen uns darüber hinaus zwei, drei, vier Projekte, die es wagen, zumindest ein paar Schritte über den damit gezeichneten Horizont hinauszugehen. Solche Projekte könnten sich vielleicht in einer neuen Politik der Stadt und zugleich der Bürger*innenschaft verdichten, die deren im Wohnen, im Verkehr, in der allgemeinen sozialen Sicherung wie in der Ermöglichung der kulturellen und politischen Teilhabe aller ihrer Bewohner*innen geankerte Infrastruktur ebenso radikal demokratisiert wie ihre politische Verfassung und ihre Rolle im Gefüge des Politischen. So könnte Städten, wie von Gesine Schwan in der Initiative „Europa von unten neu beleben“ vorgeschlagen, eine sehr viel stärkere und zugleich progressive Rolle in der Migrationspolitik und im ganzen Prozess der europäischen Einigung zufallen. Zugleich könnte eine in die Verfassungen Europas einzuschreibende „Städtebürger* innenschaft“ die offenbaren Grenzen nationaler Staatsbürger*innenschaft substanziell überschreiten. Damit wäre bei weitem nicht „alles“ anders, wohl aber einiges besser – und davon wiederum „etwas“ mehr. Dieses „etwas mehr“, das ist unsere Hoffnung und unser Einsatz, würde einer Mehrheit in diesem Land das grün-rot-rote Ganze sichtbar machen, das über die Summe seiner Teile hinausgeht. Es würde auf jede einzelne der drei Parteien zurückwirken und in ihnen die Tendenzen befördern, die über den jeweiligen Status quo hinausweisen. Vor allem die SPD, aber auch die LINKE würden davon enorm profitieren: die eine im Blick auf ihren ansonsten wohl unumkehrbaren Zerfall, die andere im Blick auf ihre auf Dauer nur lähmende Stagnation. Die Grünen wiederum würden ihre deutlich gestiegene Bedeutung verstetigen und verstärken können.

Doch mehr noch: Das in Frage stehende „etwas mehr“ würde nicht nur den beteiligten Parteien, es würde über sie hinaus dem progressiven Drittel, wenn nicht gleich der zumindest möglichen progressiven Mehrheit dieser Gesellschaft einen enormen politischen Auftrieb geben. Es würde die Herausbildung einer gesellschaftlichen Linken ermöglichen, die in sich das Ganze wäre, das über die Summe der Parteien hinausreicht, die diese Linke repräsentieren wollen. Es würde damit auch die oben schon notierte Neigung sozialer Bewegungen zur Beschränkung auf Abwehrkämpfe aufbrechen. Damit könnte die oft unverbundene Vielzahl progressiver gesellschaftlicher Anliegen einen Rahmen des Gemeinsamen und den Ansporn zur Entwicklung nicht mehr nur von Alternativen in Teilbereichen finden, sondern von Alternativen „ums Ganze“.

Natürlich würde das auch zu Spannungen zwischen einer möglichen progressiven Koalition, ihren Minister*innen wie ihren Parteien und ihrer gesellschaftlichen „Basis“ führen. Diese Spannungen aber wären, da sind wir sicher, der nicht-fossile Brennstoff weiterer Fortschritte in einer zuerst allmählich, schließlich aber immer schneller Fahrt aufnehmenden radikaldemokratischen und sozialökologischen Transformation. Die aber wäre ebenso sehr eine Sache des Regierungs- wie des Alltagshandelns, eine Sache von Partei- und von Bewegungspolitiken. Sie wäre übrigens immer auch eine Sache der Straße: Wo steht denn geschrieben, dass der Sinn von großen und kleinen Demonstrationen immer nur im Protest gegen eine Regierung liegt? Es sind schließlich auch große wie kleine Demonstrationen denkbar, die eine zögerliche oder aber eine von institutionellen, auch von ökonomischen Blockaden bedrängte Regierung dazu treiben, in weitere Horizonte auf- und auszubrechen! Begonnen im mächtigsten Land der Europäischen Union hätte eine solche Wende, ein solcher Aufbruch nicht zu unterschätzende Dynamiken auch in anderen Ländern der Europäischen Union zur absehbaren Folge: Dynamiken, die der Drift nach rechts einen Riegel vorschieben könnten, mit der die Entwicklungen in Großbritannien, in Italien, in Österreich, Polen und Ungarn Europa in den Abgrund treiben.

2021 – wann denn sonst?

Tatsächlich könnten die nächsten Bundestagswahlen dem aktuellen Anschein entgegen von entscheidender Bedeutung sein. Es werden die ersten Bundestagswahlen überhaupt sein, in denen es keine „Volksparteien“ mehr gibt, deren Mit- und Gegeneinander nur drei Möglichkeiten zulassen: ein von der CDU oder ein von der SPD dominiertes Bündnis oder ein Bündnis von CDU und SPD. Die kommenden Bundestagswahlen sind deshalb in einem ganz neuen Sinn Wahlen offenen Ausgangs: Wahlen, mit denen zunächst „etwas“, und dann sehr viel mehr anders werden könnte. Sie könnten allerdings auch zu Wahlen werden, mit denen alles noch einmal, vielleicht sogar sehr viel schlimmer wird: eine Erfahrung, die in den letzten Jahren gleich in mehreren Ländern gemacht wurde. Ihr Ausgang wird in jedem Fall knapp sein, wird gegebenenfalls an wenigen Stimmen hängen. Stimmen, die im Moment, das liegt auf der Hand, am dringendsten von der SPD und von den LINKEN benötigt werde. Stimmen, die aber auch von den Grünen benötigt werden, wenn sie wirklich das Gewicht erhalten und bewahren wollen, das ihnen zuletzt zugefallen ist. Grund genug, sich am Riemen zu reißen. Spielraum aber auch für das über die drei Parteien hinausreichende Mosaik: Auch die zivilgesellschaftliche und die Bewegungslinke können nur gewinnen, wenn „ihre“ drei Parteien gewinnen. Dasselbe gilt für die Vielzahl lokaler oder sektoraler Transformationsprojekte, in denen heute schon praktisch an zuletzt sogar „ganz anderen“ Verhältnissen gearbeitet wird.

Damit sind wir bei unserem letzten, dem für das ISM immer schon leitenden Gedanken. Sichtbar wird dieser Punkt im Blick auf das Desaster von Labour in Großbritannien. Die Zeit, die diese alte, sehr alte linke Partei hatte, um zu lernen, eine neue linke Partei zu werden, war sehr knapp, sie war tatsächlich zu knapp bemessen. Das galt nicht nur für ihre Partei, es galt auch für das im Grunde zu bunt und zu vielgestaltig angelegte gesellschaftliche Mosaik, das eine solche Erneuerung hätte tragen sollen. Das ist in der Bundesrepublik anders, das ist hier im Prinzip schon seit Jahrzehnten anders. Rot-Rot-Grün oder Grün-Rot-Rot hat hier, anders als in nahezu allen europäischen Ländern, eine weit zurückreichende Tradition. Von noch älteren Einstellungen her gesehen ist dies eine ungeliebte Tradition: Sozialdemokrat*innen wollten sich ihr einst mit Dachlatten in den Weg stellen. Es ist zugleich eine Tradition, die in der Zeit, in der sie auf der Bundesebene schon einmal zum Zug kam, kein Versprechen, sondern nur Enttäuschungen zurückgelassen hat.

Es kommt auf das Ganze eines rot-rot-grünen Aufbruchs an

Trotzdem gibt es diese Tradition, und genau besehen war sie nie so angesagt wie in diesen gleich mehrfach erschreckenden, aktuell sogar furchterregenden Zeiten. Es käme schlicht und einfach drauf an – ja, es käme, es kommt verdammt auf das Ganze eines grünen und roten Aufbruchs an, auf das Ganze, das nicht nur mehr als seine Parteien, sondern auch mehr als seine Gewerkschaften, seine zivilgesellschaftlichen Verbände, seine sozialen Bewegungen ist. Ohne die sozialen Bewegungen, die den Parteien und Regierung „von unten“ und von der Straße her immer wieder neu die Richtung vorgeben und sie an ihre Verantwortung für die Transformation erinnern und binden, wird ein rot-grüner Aufbruch nicht real. Allerdings gilt dieser Verweis auf das unumgängliche Über-sich-hinausgehen-Müssen auch für die sozialen Bewegungen: Auch sie müssen sich ihrer Grenzen bewusst werden und selbst noch ihre Bereitschaft verstärken, ums Ganze zu kämpfen.

Dabei leben Parteien, zivilgesellschaftliche Verbände, Bewegungen und das unübersehbare Geflecht widerständigen und zugleich alternativen Alltagshandelns von all den Einzelnen, die im Grunde lange schon gelernt haben, sich selbst ganz von sich aus, zur Not auch ganz allein auf sich gestellt auf dieses Ganze zu beziehen. Und diese Einzelnen sind viele: sie sind die Vielen, und sie sind ihr Mosaik. Zu ihren Gemeinsamkeiten gehört, dass sie von der begrenzten Kraft und der begrenzten Reichweite wissen, die Parteien und sogar Regierungen zukommt, wenn‘s ums Ganze geht. Gerade deshalb teilen sie aber auch die Einsicht in die Unumgänglichkeit der Parteien und Regierungen immer noch in die Hand gegebenen Möglichkeiten. Heute hängt an ihnen der Einstieg in den Ausstieg aus fast 
50 Jahren neoliberaler Verödung der Politik und der Gesellschaft. „Heute“ ist 2021. Der Ausgang ist offen, und er hängt, sagen wir das noch einmal, an wenigen Stimmen. Unsere gehören dazu: im weitesten Sinn des hier gemeinten „Wir“.

Dieser Artikel ist in der ISM-Broschüre „Die Politik der Vielen“ erschienen.

E.ON und RWE wollen den Energiemarkt unter sich aufteilen – Initiative „Wir spielen nicht mit“ stemmt sich dagegen

Der Megadeal, mit dem die Großkonzerne E.ON und RWE den Energiemarkt unter sich aufteilen wollen, gerät immer mehr in die Kritik. Zahlreiche Energieversorger und andere Akteure der Energiewirtschaft bündeln ihren Protest in der Initiative #wirspielennichtmit.

„Der Deal macht aus Konkurrenten Komplizen, deren Marktmacht die Anbietervielfalt und Bürgernähe im Energiemarkt bedroht“, heißt es von den beteiligten Akteuren. Zu den ersten Mitgliedern der Initiative gehören die Energieversorger Bürgerwerke, Eins Energie in Sachsen, EWS Schönau, Greenpeace Energy eG, NATURSTROM und Polarstern sowie der Bund der Energieverbraucher, das Bündnis Bürgerenergie, der Grüner Strom Label e.V., der Landesverband Erneuerbare Energien NRW und der Verband UnternehmensGrün. Auch mehrere Bürgerenergie-Gesellschaften und bekannte Gesichter der Energieszene wie der Wissenschaftler Volker Quaschning sind Teil des Bündnisses.

In einer der größten Transaktionen der deutschen Wirtschaftsgeschichte hatten E.ON und RWE die damalige RWE-Tochter Innogy zerschlagen und Geschäftsaktivitäten so untereinander getauscht, dass die Großkonzerne nicht mehr im Wettbewerb zueinander stehen. E.ON hat das Endkundengeschäft und den Netzbetrieb von Innogy übernommen, RWE behielt das Erzeugungsgeschäft von Innogy und erhielt zusätzlich die Erzeugungs-Assets von E.ON sowie eine Beteiligung am früheren Konkurrenten. Diese liegt aktuell bei 15 Prozent. Damit sind RWE in der Stromerzeugung und im Stromgroßhandel und E.ON im Netzbetrieb und der Kundenbelieferung die marktbeherrschenden Akteure geworden.

Die Mitglieder der Initiative #wirspielennichtmit kritisieren nicht nur den Deal mit seinen potenziellen Auswirkungen auf den Wettbewerb, sondern auch die Art seines Zustandekommens: aufgeteilt in drei Einzelverfahren, die unabhängig voneinander bei der EU-Kommission und beim Bundeskartellamt verhandelt wurden. „Das Verfahren ist intransparent und wird selbst jetzt noch durch die EU-Kommission verschleppt“, bemängelt das Bündnis.

Der Hintergrund: Die beiden bei der EU anhängigen Teile des Deals wurden im Februar und September 2019 durch die Kommission genehmigt. Rechtliche Schritte gegen eine solche Genehmigung sind jedoch erst möglich, wenn die Kommission ihre Entscheidung offiziell begründet. Für den ersten Teil des Deals, die Übernahme der Erzeugungs-Assets durch RWE, geschah dies erst mit mehr als einjähriger Verzögerung. Für den zweiten Teil, die Übernahme des Versorgungs- und Netzgeschäfts der Innogy durch E.ON, fehlt eine Begründung bis heute. Man bemühe sich, sie bis zum Jahresende vorzulegen, heißt es aus Kreisen der EU-Kommission. Das wären dann fast eineinhalb Jahre nach der Freigabe! Wettbewerbern wird damit die Chance genommen, sich zur Wehr zu setzen – während die beiden Großkonzerne längst Fakten schaffen.

Und Gegenwehr ist zu erwarten. Zehn kommunale Versorger sowie die NATURSTROM AG klagen bereits vor dem EU-Gericht. Sie fechten die Freigabe des ersten Teils des Deals durch die EU-Kommission an. Auf deren Seite – und somit auf die der Großkonzerne – hatte sich unlängst die Bundesregierung geschlagen. Sie hat beim EU-Gericht einen sogenannten Streithilfeantrag gestellt. „Die Bundesregierung wird die klageabweisenden Anträge vollumfänglich unterstützen“, heißt es in dem Antrag.

Das beeindruckt die Akteure hinter #wirspielennichtmit nicht: „Der Deal zwischen E.ON und RWE hätte so nie genehmigt werden dürfen“, kritisieren die Mitglieder der Initiative. „Im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher setzen wir uns dafür ein, dass die Vielfalt im Energiemarkt erhalten bleibt! Denn nur ein lebendiger Wettbewerb mittelständischer Kommunalversorger, unabhängiger Anbieter und innovativer Start-ups sichert die nötige Innovationskraft für die Energiewende und orientiert sich konsequent an den Kundenbedürfnissen. Die Bundesregierung muss ihre Bevorzugung großer Player beenden und sich endlich für die Bürgerenergie sowie die mittelständischen kommunalen und unabhängigen Versorger stark machen.“ Wer dies genauso sieht, kann es jetzt äußern. Die Initiative hat eine Petition eingerichtet, die sich an die Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager und an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier richtet: weact.campact.de/p/wirspielennichtmit.