Biografien von Verschwörungsideologen. erst „Friedensaktivist“, jetzt Corona-Verharmloser

Quelle: Tagesspiegel, 3.4.2021 – Autor: Sebastian Leber

Viele Kritiker der Corona-Maßnahmen kennen sich von früher. 2014 agierten sie in der sogenannten „Mahnwachenbewegung“. Welche Denkmuster sind geblieben?

An einem sonnigen Tag im Juli sitzt Ken Jebsen auf der Bühne vor dem Brandenburger Tor, vor ihm mehrere hundert Demonstranten. Der ehemalige RBB-Moderator erklärt, die derzeitige Staatsform werde hoffentlich bald verschwinden, die Regierung sowieso. Dann spricht er von „Gehirnwäsche“ durch die Herrschenden, die Presse sei „okkupiert“ und die Bevölkerung solle „verheizt“ werden.

Das Wort Corona fällt in dieser Rede noch nicht. Denn es ist nicht 2020, sondern Sommer 2014. Europa, warnt Ken Jebsen, solle aktuell in einen Krieg gegen Russland getrieben werden. Der Radiomoderator behauptet: „Wir bewegen uns mit Riesenschritten auf die Vorbereitung eines Dritten Weltkriegs zu!“

Wie viele andere, die derzeit Verschwörungsmythen über das Coronavirus verbreiten oder gleich dessen Existenz leugnen, hat sich Ken Jebsen sechs Jahre zuvor in der „Mahnwachenbewegung“ engagiert.

Immer montags fanden damals in zahlreichen deutschen Städten Verschwörungsgläubige, Reichsbürger, Israelhasser und Esoteriker zusammen, um gemeinsam gegen die angeblichen teuflischen Pläne der Mächtigen und der Massenmedien zu protestieren.

[Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Fehlender Mindestabstand“ (Herder Verlag), herausgegeben von Heike Kleffner und Matthias Meisner, das am 7. April erscheint.]

Es war der Versuch, unter dem Etikett einer „neuen Friedensbewegung“ diverse Verschwörungsmythen in die Öffentlichkeit zu tragen. Und es war das erste Mal, dass sich der braune Verschwörungssumpf aus den Tiefen des Internets auf Deutschlands Straßen materialisierte.

Im Rückblick ist offensichtlich, mit welchen Angstszenarien die damaligen Wortführer hantierten und wie arg sich deren Anhänger fehlleiten ließen. Es sagt aber auch einiges über die Szene der Verschwörungsgläubigen heute aus. Über Realitätsverweigerung, die Sehnsucht nach Sündenböcken und antisemitische Denkmuster.

Gegen Barack Obama und die Rothschilds

Als im März 2014 die ersten „Montagsmahnwachen“ ins Leben gerufen werden, gibt es noch keine Diskussionen um „Fake News“. Die AfD wird in jenem Jahr ihre ersten Wahlerfolge feiern, Donald Trump ist noch nicht US-Präsident.

Verschwörungsideologen werden von Kritikern noch mehrheitlich als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet. Die Erkenntnis, dass dieser Begriff ungünstig ist, weil er die Benannten fälschlicherweise in die Nähe evidenzbasierter Wissenschaft rückt, setzt sich erst Jahre später durch.

Offiziell nur um Weltfrieden bemüht, wird auf den Montagsmahnwachen gegen die US-Regierung unter Präsident Barack Obama, die US-amerikanische Zentralbank und jüdische Bankiersfamilien wie die Rothschilds gehetzt. Die Aggressoren dieser Welt, heißt es, sitzen im Westen. Russlands Präsident Wladimir Putin reagiere bloß. Einige sehen die Annexion der Krim als Notwehr.

Zu den bekanntesten Köpfen der Berliner Mahnwachenbewegung zählt 2014 Ken Jebsen, der drei Jahre zuvor vom Rundfunksender Berlin-Brandenburg (RBB) entlassene Moderator, nun Betreiber der Internetseite „KenFM“.

Seine eigenen kruden Ansichten verheimlicht er nicht: Er behauptet öffentlich, die Mächtigen der USA würden von Menschen mit jüdischen Wurzeln gesteuert, deren Ziel die „Schaffung eines israelischen Großreichs“ sei. Er behauptet auch, Zionisten kontrollierten die Vereinten Nationen, den Internationalen Währungsfonds und die UN-Atomenergiebehörde. US-Präsidenten müssten ihre wichtigsten Reden vorab von Juden genehmigen lassen. Laut Jebsen begehe Israel seit 40 Jahren Völkermord. Das Ziel sei nichts weniger als die „Endlösung“, nämlich das Ausrotten aller Palästinenser in Palästina.

Innerhalb der Mahnwachenbewegung gibt es keinerlei Versuche, sich von Ken Jebsen zu distanzieren. Im Gegenteil: Für seine Auftritte erhält er stets lauten Applaus, teilweise Standing Ovations. Zuspruch bekommen auch Redner wie der Gründer des rechtsextremen Compact-Magazins, Jürgen Elsässer.

Bei den Mahnwachen handelt es sich – genau wie sechs Jahre später bei den Coronaleugnern – von Beginn an um eine rechtsoffene Bewegung. Rechtspopulisten und auch -extreme werden willkommen geheißen. NPD-Kader sind bei den Berliner Mahnwachen vor Ort, ohne dass sich jemand daran stört.

Zwar verliert die Mahnwachenbewegung rasch an Schwung. Kommen auf ihrem Höhepunkt im Herbst 2014 noch Demonstrationen mit mehreren tausend Zuschauern zustande, fallen die Versammlungen im Folgejahr schon deutlich kleiner aus.

Bald werden Mahnwachen mit wenigen Dutzend Teilnehmern als Erfolg verkauft. Womöglich trägt auch die zunehmend kritische Berichterstattung in den etablierten Medien dazu bei, dass der erhoffte Zulauf ausbleibt und immer weniger Menschen auf den Etikettenschwindel der angeblichen Friedensbewegung hereinfallen.

Viele derjenigen, die sich auf den Mahnwachen politisiert haben, suchen eine neue Rolle. Die einen wechseln zu Pegida und schließlich in die AfD, andere landen im Umfeld der rechtsextremen „Merkel muss weg“-Demos oder bei „Endgame“, den neurechten „ENgagierten Demokraten Gegen die AMErikanisierung Europas“. Viele sind in mehreren Gruppen gleichzeitig aktiv, so entstehen enge Vernetzungen.

Das eine Angstszenario wird durchs nächste ersetzt: Nun ist Widerstand gegen „das System“ nicht mehr notwendig, um einen „Dritten Weltkrieg“ zu verhindern, sondern eine angebliche „Überfremdung“ im Zuge der Flüchtlingsbewegungen ab 2015. Plötzlich drohen ein „großer Austausch“ beziehungsweise der „Volkstod“ der Deutschen.

Schuld daran sollen erneut die Herrschenden haben, die im Hintergrund angeblich ihren finsteren Plänen auf Kosten der Bevölkerung nachgehen. Manche Aktivisten behaupten offen, dass es sich bei diesen Herrschenden um Juden handele. Andere benutzen Codewörter wie „Ostküstenkapital“. Was von 2014 geblieben ist, sind simple, zutiefst antisemitische und rassistische Erklärungsmuster. Und klar benennbare Sündenböcke für alles, was schiefläuft in einer vermeintlich überkomplexen Welt.

Im Sommer 2017 versucht Malte Klingauf, der langjährige Moderator der Berliner Montagsmahnwachen, den einstigen Schwung der „neuen Friedensbewegung“ zur Etablierung eines mehrtägigen Festivals zu nutzen: Das „Pax Terra Musica“ soll auf einem stillgelegten Flughafen im brandenburgischen Niedergörsdorf stattfinden und nicht weniger sein als das größte Vernetzungstreffen der deutschen Friedensbewegung. Ken Jebsens KenFM soll als Aussteller präsent sein.

Wer sich durch die Internetseiten der übrigen eingeplanten Aussteller klickt, erfährt scheinbar Unglaubliches: etwa dass Regierungen das Wetter manipulieren können, um damit feindliche Länder zu überschwemmen. Oder dass der deutsche Staat den Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz inszeniert habe, um die Bevölkerung für höhere Militärausgaben und Auslandseinsätze der Bundeswehr zu begeistern. Oder dass die meisten Kriege in der Welt auf einen perfiden, streng geheimen Plan der jüdischen Familie Rothschild zurückgehen.

Das „Pax Terra Musica“ wird ein Verlustgeschäft

Die Veranstalter hoffen auf 5000 Teilnehmende. Die tatsächlichen Besucherzahlen bleiben weit dahinter zurück, etliche der eingeplanten Musiker sagen ihre Teilnahme im Vorfeld ab, weil sie erfahren haben, um was genau es sich bei dem „Friedensfest“ handelt. Das „Pax Terra Musica“ wird ein Verlustgeschäft.

2018 sieht man erneut bekannte Gesichter der Mahnwachenbewegung auf den Straßen: bei den rechtsoffenen Protesten gegen den UN-Migrationspakt. Sollte der verabschiedet werden, heißt es, sei der Untergang Deutschlands nicht mehr abzuwenden. Der Pakt wird verabschiedet, die Katastrophe bleibt aus.

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Nun also Corona. Viele Akteure von damals sind auf Telegram in Gruppen von Coronaleugnern aktiv, beteiligen sich an Aufmärschen, wünschen, unter anderen Vorzeichen, weiterhin den Sturz „des Systems“ herbei.

Der Berliner Aktivist Andreas M. zum Beispiel. Im Sommer 2014 beginnt sein Engagement bei den Montagsmahnwachen. Ein Jahr später verbreitet er bereits Inhalte des Compact-Magazins und der rechtsextremen Identitären Bewegung, warnt vor der „Diktatur-Zentrum-BRD-GmbH“ und postet dazu eine Zeichnung des Bundestags, auf dem die israelische Flagge weht. Im Sommer 2020 ist er im „Querdenken“-Camp angekommen, dem Zeltlager der Coronaleugner im Berliner Tiergarten.

Oder Compact-Gründer Jürgen Elsässer. Im Sommer 2014 warnt er auf der Berliner Montagsmahnwache vor einem Dritten Weltkrieg, prophezeit: „Die Welt steht am Abgrund.“ Von 2015 an hetzt sein Magazin dann gegen „Merkels Invasoren“, „orientalische[n] Gangband-Rudel[n]“, die „Landnahme ausländischer Mächte“ und ein „Umvolkungsprogramm“. 2020 mischt sich Elsässer auf Demonstrationen unter Coronaleugner und lobt, bei der „Querdenken“-Bewegung gebe es keinerlei „Abgrenzung nach rechts“.

Der rechtsextreme Publizist behauptet, es werde „eine weltweite Hygienediktatur vorbereitet“, geplant sei „die Deindustrialisierung der gesamten Menschheit“. Jürgen Elsässers düsteren Prophezeiungen ist gemein, dass sie niemals eintreten. Aber sie halten die Leser zahlungs- und aktionsbereit.

 

Oder der Truth-Rapper „Kilez More“, bürgerlich Kevin Mohr. 2014 tritt er bei den Mahnwachen in Leipzig und Berlin auf, 2017 beim „Pax Terra Musica“. Im August 2020 steht er bei der zweiten großen „Querdenken“-Versammlung im Berliner Tiergarten auf der Bühne und jubelt dem Publikum zu: „Ihr seid die geilste friedliche Masse, die ich in meinem Leben gesehen habe.“

Es ist der Tag, an dem wiederholt Polizeiketten überrannt und Reichskriegsflaggen geschwenkt werden und Aktivisten schließlich versuchen, den Reichstag zu stürmen. Einen Tag später verkündet der „Querdenken“-Sprecher, das Grundgesetz sollte abgeschafft werden, es sei schließlich nur „Besatzungsrecht“.

Malte Klingauf, der Ex-Moderator der Montagsmahnwachen, beteiligt sich Anfang August an Protesten der Corona-Verharmloser in Berlin. Im November kommt es dann zur Gerichtsverhandlung: Sein Festival „Pax Terra Musica“ hat den Tagesspiegel wegen dessen Berichterstattung verklagt – unter anderem soll der Tagesspiegel nicht mehr berichten dürfen, dass sich unter den Teilnehmern des „Pax Terra Musica“ auch Israel-Hasser und esoterische Hetzer finden.

In der Verhandlung wird deutlich, dass das Gericht sämtliche Klagepunkte abweisen wird. Bevor es zum Urteilsspruch kommt, beantragt Klingaufs Anwalt eine Pause, um sich mit seinem Mandanten besprechen zu können. Anschließend erklärt er, man wähle die „kostengünstige Variante“ und ziehe die Klage komplett zurück.

Ken Jebsen, der Ex-Moderator, lässt sich auf einer Stuttgarter „Querdenken“-Demo feiern. Zuerst gibt es eine herzliche Begrüßung durch „Querdenken“-Gründer Michael Ballweg, beide posieren Arm in Arm, dann spricht Jebsen.

Die Bandbreite der von ihm beschworenen Feindbilder ist um Bill Gates und die WHO angewachsen, aber ansonsten bleibt es die altbekannte Leier: Schuld an allem sind die Bundesregierung, der Staat an sich, die Nato, die Massenmedien. Jebsen behauptet zum x-ten Mal, die Herrschenden verfolgten eine geheime Agenda. Es klingt alles sehr vertraut.

Was 2014 und 2020 unterscheidet

Eine Recherchegruppe, die die Akteure der Mahnwachen und deren Weiterentwicklungen seit Beginn verfolgt, ist die Plattform Friedensdemo-Watch. Ein Mitglied der Gruppe sagt, die Kontinuitätslinien seien nicht zu übersehen. Ehemalige Mahnwachler seien von Beginn an bei den Berliner Coronaprotesten dabei gewesen – was auch daran liege, dass mit Ken Jebsen ein zentrales Gesicht der Mahnwachen von Anfang an hierzu mobilisierte: „Der hat hier seinen Stempel gesetzt und auch die weitere Entwicklung der ›Querdenker‹ mit seinem Vokabular beeinflusst.“

Jebsen sei einer der Ersten gewesen, die Ärzte im heutigen Gesundheitssystem mit Josef Mengele, dem nationalsozialistischen Kriegsverbrecher und Lagerarzt im Konzentrationslager Auschwitz, verglichen und aus Krankenhäusern „Lager“ machten. „Auch dass eine neue Machtergreifung stattfände, die in eine Coronadiktatur münden würde, stammt von ihm.“

Das Mitglied von Friedensdemo-Watch spricht auch von Unterschieden zwischen 2014 und 2020: „Wenn damals über die Mahnwachen aufgeklärt wurde, kam es bei ihnen immer wieder zu Lippenbekenntnissen, man würde sich von rechts abgrenzen.“ Um der Öffentlichkeit dies weiszumachen, habe es schließlich auch personelle Ausschlüsse gegeben.

In deren Folge hatten sich die Mahnwachen auch gespalten. Derartige Abgrenzungsversuche gebe es inzwischen nicht mehr. Bei den Coronaleugnern würden Neonazis und andere Rechte schlicht hingenommen. Zugenommen habe auch die eigene Gleichsetzung mit Opfern des Nationalsozialismus.

Wie 2014 bei den Mahnwachen gibt es auch 2020 Aktivisten, die sich selbst bislang im linken Spektrum verortet haben – oder darauf pochen, Unterscheidungen in links und rechts seien ohnehin überkommen. Zwar lehnt das Gros der Linken sowohl Mahnwachen als auch Coronaleugner entschieden ab, die Proteste gegen beide Bewegungen werden im Wesentlichen durch linke Initiativen organisiert.

Dennoch nutzen Anhänger der von der Wissenschaft längst verworfenen „Hufeisentheorie“ oder „Extremismusdoktrin“ die Gunst der Stunde, beide politischen Lager gleichzusetzen. Das Futter liefern ihnen Protagonisten wie der Linken-Bundestagsabgeordnete Diether Dehm.

2014 tritt er bei der Berliner Mahnwache auf und verbreitet eine Stellungnahme mit dem Titel „Gegen die Dämonisierung der Montagsmahnwachen“. Sechs Jahre später veröffentlicht er einen Coronasong, in dem er singt: „Ein junger Virus plus uralte Mächte, ja, dieser Mix macht geil auf unsre Rechte“.

Beobachter wie Friedensdemo-Watch gehen davon aus, dass die Bewegung der Coronaleugner stark an Bedeutung verlieren wird. Spätestens dann, wenn die Mehrheit der Deutschen geimpft ist und die pandemiebedingten Einschränkungen mit dem Rückgang der Fallzahlen aufgehoben werden können.

Der harte Kern könnte dann noch weitaus stärker zur Sekte verkommen, und von denen sei Einsicht nicht zu erwarten. Im Gegenteil. Schon die Mahnwachler waren sicher: Nur weil sie so zahlreich auf die Straße gegangen sind, wurde ein Krieg des Westens gegen Russland verhindert. Und die befürchtete Merkel-Diktatur samt Zwangsverchippung aller Bürger wird am Ende bloß ausgeblieben sein, weil die „Querdenker“ so massiv protestiert haben.

Wahrscheinlich ist auch, dass bald ein neues Verschwörungsnarrativ auftauchen wird. Nach der Angst vor einem Dritten Weltkrieg, dann vor „Überfremdung“ und nun vor „Freiheitsberaubung“ wird sich eine neue Angst finden – und eine neue Begründung, weshalb die Bundesrepublik, das Grundgesetz und die Institutionen der Demokratie endlich beseitigt gehören. Die Angst vor der Klimakrise und deren Konsequenzen sowie vor den sich abzeichnenden politischen Maßnahmen würde sich prima anbieten.

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Protest gegen Coronaleugner im Echsenkostüm „Nicht länger als fünf Minuten mit Verschwörungsgläubigen reden“

Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Fehlender Mindestabstand“ (Herder Verlag), herausgegeben von Heike Kleffner und Matthias Meisner, das auch Texte der Tagesspiegel-Autoren Julius Betschka, Andrea Dernbach, Julius Geiler und Jost Müller-Neuhof enthält.

Das Buch erscheint am 7. April. Eine digitale Premierenfeier findet am 27. April um 19 Uhr in der Volksbühne statt. Mehr Infos gibt es hier.

CO2-Fußabdrücke im Alltagsverkehr

CO2-Fußabdrücke im Alltagsverkehr – Datenauswertung auf Basis der Studie Mobilität in Deutschland

Von Marc Schelewsky, Robert Follmer, Christian Dickmann – Im Auftrag des Umweltbundesamtes

infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH, Berlin, Bonn

Die dieser Studie zugrundeliegende Sekundärauswertung erfolgt auf Basis der Ergebnisse aus „Mobilität in Deutschland“ (MiD 2017). Die Studie zielt darauf ab, im alltäglichen Personenverkehr Zusammenhänge aufzuzeigen, die besonders stark zu den CO2-Emissionen beitragen. So sollen Ansatzpunkte identifiziert werden, um politische Maßnahmen zielgerichteter und dabei den Mitteleinsatz effizienter zu gestalten.

Nach der MiD 2017 hat sich die Verkehrsleistung des MIV gegenüber 2002 um mehr als 250 Millionen Personenkilometer auf insgesamt 1,754 Milliarden Personenkilometern pro Tag erhöht. Das ist ein Anstieg um 17 Prozent.

Dabei haben sich aber die spezifischen Emissionswerte durch den Einsatz effizienterer Technologien verringert.

  • Für das Fahrrad liegen die CO2-Emissionen annähernd bei null. Maßnahmen zur Förderung einer Verkehrsverlagerung auf das Fahrrad (und den Fußverkehr) verfügen damit über große Einsparpotenziale, da keine direkten emissionssteigernden Rebound-Effekte zu erwarten sind.
  • Für den öffentlichen Nah– und Fernverkehr lassen sich nur geringe Schwankungen zwischen den Vergleichsjahren feststellen. Dabei ist die Verkehrsleistung des gesamten ÖPNV gegenüber 2002 um 35 Prozent gestiegen. Neben effizienteren Antriebstechnologien und der Schließung sogenannter „Diesellücken“, haben auch höhere Auslastungen im Regional- und Fernverkehr dazu beigetragen, die Emissionsmengen trotz des Anstiegs der Verkehrsleistung konstant zu halten.
  • Deutliche Emissionssteigerungen ergeben sich nach den Berechnungen auf Grundlage der MiD für den Flugverkehr, der gegenüber 2002 mit fünf Millionen Tonnen inzwischen die fünffache Menge an CO2 emittiert. Dabei ist zu beachten, dass nur Inlandsflüge in den vorliegenden Berechnungen berücksichtigt wurden.
  • Auch die Emissionsmengen im Lkw-Verkehr haben über die Vergleichsjahre hinweg zugenommen und liegen mit 12 Millionen Tonnen CO2 über denen des ÖPNV und ÖPFV.

Anders als im MIV wurden erst im Juni 2019 verbindliche CO2-Flottengrenzwerte für schwere Nutzfahrzeuge wie Lkw und Busse vom Europäischen Parlament beschlossen. Für den hier zu betrachtenden Zeitraum gab es keine Flottengrenzwerte und damit auch von politischer Seite keine Anreize zur Einführung effizienzerhöhender Technologien. Der Kraftstoffverbrauch von schweren Nutzfahrzeugen hat sich deshalb in den letzten 20 Jahren kaum verringert und auch kraftstoffsparende Technologien werden nur in geringem Umfang eingesetzt.

Corona-Impfstoff: Genug gedroht!

Quelle: ZEIT online

Ein Kommentar von Ingo Malcher – März 2021

Corona-Impfstoff: Genug gedroht!

Einige Nationen führen einen Handelskrieg um Impfstoffe – und gefährden dadurch die Produktion. Es ist höchste Zeit für Zusammenarbeit. Sonst verlieren alle.

Die Lage ist derart skandalös, dass es ausreicht, die Fakten aneinanderzuhängen. Die USA sind der zweitgrößte Hersteller von Covid-19-Impfstoff weltweit. Doch Amerika gibt nichts ab. Praktisch alles, was im Land hergestellt wird, bleibt im Land. Und Großbritannien, ebenfalls einer der großen Produzenten, ist kaum besser. Wie ein zweites Virus verbreitet sich diese Haltung des „Ich zuerst“. Nun hat auch Indien die Exporte eingestellt. Zunächst soll – die Begründung hat man von den Angelsachsen übernommen – die eigene Bevölkerung immunisiert werden. Kein Wunder, dass es der Europäischen Union reicht. Jetzt will man bei der Brüsseler Kommission die Ausfuhr von Impfstoff genauer prüfen, Länder, die nichts liefern, sollten auch nichts bekommen, heißt es.

Impfungen: Impfverteilung in Deutschland

Die Maßnahme ist angesichts des weltweiten Impf-Nationalismus nachvollziehbar. Man ist im ersten Moment geneigt zu applaudieren. Wenn die USA, Großbritannien und Indien nichts ausliefern, dann hängt es letztlich an Deutschland, China und Russland, den Rest der Welt zu versorgen. Mehr als 35 Millionen Impfdosen wurden seit Februar aus der EU in alle Welt exportiert, während der Stoff hier knapp ist. Sogar nach Großbritannien wurden etwa 10 Millionen Dosen verschickt, auch die USA erhielten eine Lieferung.

Einzusehen ist das nicht. Trotzdem sollte Europa nicht mit einem eigenen Embargo reagieren. Denn das würde zwar kurzfristig für Genugtuung sorgen, doch die weltweite Lage würde es nur noch verschlimmern. Ein weiter eskalierender Handelskrieg um lebensrettende Impfstoffe muss unbedingt verhindert werden. Schon deshalb, weil er am Ende keine Gewinner kennen würde.

Zuerst verlieren die Hersteller. Sie haben in Rekordzeit die Produktion hochgefahren und füllen so viel Stoff ab, wie es ihnen nur irgendwie möglich ist. Allerdings sind ihre Lieferketten äußerst fragil. Würde Europa Exporte in andere Länder blockieren, drohen Gegenmaßnahmen bei den Vorprodukten.

Ein Beispiel: Unternehmen in der EU beziehen aus Großbritannien Lipide, ohne die beim Hersteller BioNTech kein mRNA-Impfstoff produziert werden kann. Würde Brüssel nun die Ausfuhr von Impfstoff nach Großbritannien verbieten, könnte London umgekehrt die Ausfuhr der Fettkügelchen stoppen. Gerade die Lipide sind so knapp, dass alles, was geliefert wird, sofort im Bio-Reaktor landet. Keine Fabrik kann es sich leisten, dass die Beschaffung von Vorprodukten noch schwieriger wird. Wenn dringend benötigte Ware im Zoll hängen bleibt, dann droht der Stopp der Produktion. Geholfen wäre damit keinem.

Zu den Verlierern von Exportbeschränkungen gehören dann auch die ärmeren Länder. 36 Staaten der Erde haben noch keine einzige Impfstoffdosis erhalten. Um sie zu beliefern, wurde die von den Vereinten Nationen geleitete Covax-Initiative gegründet. Doch der fehlt das Geld, um genügend Stoff einzukaufen. So wirkt das eher bescheidene Ziel, in den ärmeren Ländern wenigstens die Mitarbeiter des Gesundheitssystems zu impfen, in diesem Jahr unerreichbar.

Der Exportstopp Indiens verschärft das Problem. Das Serum Institute of India sollte bis April eigentlich 90 Millionen Dosen an Covax liefern. Daraus wird nun zunächst nichts werden, wodurch sich die weltweite Impfkampagne weiter verzögert. Die USA könnten eigentlich helfen. Sie haben Stoff von AstraZeneca eingelagert. Er ist dort noch nicht zugelassen. Aber sie horten die Dosen lieber.

In diese Versorgungslücke stoßen China und Russland vor, die eine besondere Form der politischen Virologie betreiben. Sie liefern ihre Impfstoffe nach Lateinamerika, Asien, Afrika, Osteuropa – und sichern sich in den Regionen Einfluss. Gönnerhaft treten sie als Retter in der Not auf, weil die westlichen Länder den Rest der Welt angeblich im Stich lassen. Letzteres trifft ja durchaus zu. Es ist ein zynisches Rette-sich-wer-kann, das die Welt gerade aufführt. Gut versorgte Staaten versichern, man sei gerne bereit zu teilen – vorausgesetzt, die eigene Bevölkerung ist schon immunisiert.

Es braucht daher dringend einen weltweiten Impfgipfel, an dem zumindest die Regierungen der Großproduzenten teilnehmen. Das wären die G-6 USA, Großbritannien, Deutschland, Indien, Russland und China, zusammen mit der EU wären es die neuen G-7 der Impfstoffhersteller. Bei einem solchen Treffen müssten klare Regeln vereinbart werden. Als Erstes sollte die Rohstoffversorgung gesichert werden. Kein teilnehmender Staat darf die Ausfuhr von Abfüllgebinden, Fläschchen oder Lipiden stoppen. Damit die Produktionen laufen, hilft ein Technologie-Register: Wer braucht was? Und wer hat etwas auf Lager, das er gerade nicht braucht?

Und dann müsste es auch um die Verteilung der Impfstoffe gehen. Es wird in diesem Jahr – sofern alle Hersteller produzieren, die eine Zulassung haben oder mit einer rechnen können – genug Impfstoff für 60 Prozent der Weltbevölkerung geben. Aber es hakt bei der Verteilung. Kanada könnte von den Bestellungen her die eigene Bevölkerung dreimal durchimpfen, die USA fast zweimal, die EU ebenfalls. Zehn Länder haben sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation 76 Prozent der Impfdosen bestellt.

Die Corona-G-7 müssen also nicht nur Frieden untereinander schließen, sondern auch den Rest der Welt bedenken. Schon aus Egoismus, schließlich ist ein Land erst dann wirklich sicher vor der Seuche, wenn überall geimpft worden ist.

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US-Klimapolitik: Greta Thunberg kritisiert an Joe Biden

Quelle: Jetzt  9.3.2021

„Ich fänd’s gut, wenn er die Klimakrise wie eine Krise behandeln würde“

Greta Thunberg kritisiert den amtierenden US-Präsidenten Joe Biden – in Anbetracht der Wissenschaft tue er längst nicht genug, um die Klimakrise zu bekämpfen.

Greta Thunberg hatte Hoffnungen in die Klimapolitik des neuen US-Präsidenten Joe Biden gesetzt. Zwar keine riesigen, man müsse erst mal abwarten. Deutlich klimafreundlicher als die Politk seines Vorgängers Donald Trump würde die von Biden aber definitiv werden, äußerte sie sich Anfang Januar kurz vor Bidens Amtsantritt. Jetzt zeigt sich die 18-jährige Klimaaktivistin skeptischer.

In einem Interview auf dem US-amerikanischen Nachrichtensender MSNBC kritisierte Greta Thunberg am vergangenen Montag Joe Biden. Host Mehdi Hasan hatte sie gefragt, welche Note sie Bidens bisheriger Klimapolitik geben würde. Daraufhin wich Greta Thunberg zunächst aus und reagierte bescheiden. Sie sei nur ein Teenager, habe nicht das entsprechende politische Mandat, um Biden „benoten“ zu können: „Meine Meinung ist nicht so wichtig“. Anschließend machte sie dennoch sehr deutlich, dass die bisherige politische Performance des demokratischen US-Präsidenten im Hinblick auf die Klimakrise konsequenter hätte sein können.

Statt an ihrer Meinung solle man sich an Fakten und Wissenschaft orientieren, um die Klimapolitik des US-Präsidenten einzuschätzen, so Thunberg. Man solle prüfen, ob er sich bislang an die Richtlinien des Pariser Klimaabkommens halte – dessen Ziel ist es, dass Staaten Anstrengungen unternehmen, um die Erdtemperatur unter 1,5 Grad Celcius zu senken. „Und dann sieht man sehr klar: Nein, das ist nicht der Fall“.

Zwar ist Joe Biden nach seinem Amtsantritt dem Paris Klimaabkommen, das 2015 von der UN vereinbart wurde, wieder beigetreten. Vorgänger Donald Trump hatte das zuvor aufgekündigt.

Durch den Beitritt verpflichten sich die beteiligten Länder dazu, die Treibhaus-Emissionen (der Hauptfaktor für die Klimakrise) unter einem bestimmten Limit zu halten. Biden hat zudem Gina McCarthy, ehemalige Leiterin der US-Umweltschutzbehörde Environmental Protection Agency, zur Klima-Beauftragten seiner Regierung ernannt. Am 27. Januar veröffentlichte er außerdem ein Programm, um die Klimakrise zu bekämpfen. Zu den darin formulierten Zielen für die USA gehören zum Beispiel Klimaneutralität bis 2050 und eine Stromversorgung ohne Kohle, Gas und Öl bis 2035.

Greta Thunberg zufolge hat er dafür bisher aber noch nicht genug getan. Ihr geht es dabei nämlich auch um die Haltung: „Ich fänd’s gut, wenn er die Klimakrise wie eine Krise behandeln würde“, sagte sie im Interview bei MSNBC. Stattdessen werde „die Klimakrise wie eines unter vielen anderen politischen Themen behandelt“. Es sei zudem notwendig, in der breiten Bevölkerung ein Bewusstsein für diese Krise als Krise zu schaffen – und mehr Aufmerksamkeit darauf zu lenken. „Wenn die Menschen nicht über die Krise Bescheid wissen, natürlich üben sie dann keinen Druck auf die gewählten Politiker aus“, sagte sie. Ohne solchen Druck sei politisches Handeln nur bedingt möglich.

Trotz der Kritik an Bidens Klimapolitik äußerte sich Greta Thunberg  vergleichsweise mild und verständnisvoll gegenüber der aktuellen US-Politik: „Um ehrlich zu sein wäre ich gerade auch ungern in einer Politiker-Position. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer das sein muss.“ Wenn Greta Biden tatsächlich eine Note gegeben hätte, wäre es wohl trotzdem keine Eins mit Sternchen geworden.

Klimaschutz in Zahlen – Verkehr

Quelle: Broschüre des Bundesumweltministerium „Klimaschutz in Zahlen 2020“

KLIMASCHUTZ IN ZAHLEN | VERKEHR

Der Verkehrssektor hat 2019 insgesamt 163 Millionen Tonnen  Treibhausgase emittiert. Nach der Energiewirtschaft und der Industrie ist der Verkehr der drittgrößte Verursacher von Treibhausgasemissionen in Deutschland.  Zwischen 1990 und 2018 sind die Emissionen im Verkehr nur um ein Prozent auf 162 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente gesunken.

Nach ersten Schätzungen lagen die Emissionen im Jahr 2019 mit 163,5 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten auf einem leicht höheren Niveau als im Vorjahr (plus 0,7 Prozent). Der Verkehrssektor verursachte damit im Jahr 2019 einen Anteil von 20 Prozent an den deutschen Gesamtemissionen. Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor fallen zu 99 Prozent in Form von CO2 an.

Die Hauptgründe für den anhaltend hohen CO2-Ausstoß im Verkehrssektor sind

  • die Dominanz fossiler Kraftstoffe,
  • die Zunahme der Fahrleistung,
  • schwerere Fahrzeugmodelle im Personenverkehr
  • sowie die steigende Zahl von Autos und Flügen im Personen- und Güterverkehr.

Der motorisierte Straßenverkehr ist für 94 Prozent der Treibhausgasemissionen des Verkehrssektors verantwortlich. Davon sind etwa 59 Prozent auf Personenkraftwagen (Pkw) und 35 Prozent auf Lastkraftwagen (Lkw) sowie andere Nutzfahrzeuge zurückzuführen.

Die übrigen vier Prozent stammen aus dem nationalen Luftverkehr sowie dem Schiffs- und Schienenverkehr*.

Die Verkehrsleistung im Personenverkehr nimmt kontinuierlich zu. Zwischen 1990 und 2017 wurde ein Anstieg um etwa 64 Prozent auf 1.195 Milliarden Personenkilometer verzeichnet.

Davon wurden rund 75 Prozent in einem Pkw, Taxi oder Mietwagen und 19 Prozent in öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt. Bei der Verkehrsmittelwahl wuchs der Anteil des öffentlichen Verkehrs in den letzten 15 Jahren um fünf Prozentpunkte. Die Anteile der zu Fuß und mit dem Fahrrad zurückgelegten Wege blieben in diesem Zeitraum unverändert bei jeweils drei Prozent.

*Der internationale Luft- und Schiffsverkehr werden bei der Berechnung der nationalen Treibhausgasemissionen des Verkehrssektors nicht berücksichtigt. Auch die Emissionen aus dem Stromverbrauch im Verkehr werden hier nicht abgebildet, sondern nach dem Quellprinzip dem Energiesektor zugerechnet.