Super-GAU für Europas Energiewende: Stoppt das Greenwashing von Atomkraft und Gas!

Super-GAU für Europas Energiewende: Stoppt das Greenwashing von Atomkraft und Gas!

Die Zahl der Unterschriften nähert sich 33.000 (28.10.21, 21.00 Uhr)

„Während in Berlin die Koalitionsverhandlungen laufen, bahnt sich in Europa eine fatale Weichenstellung an. Es geht um die Klimaneutralität und Nachhaltigkeit von Europas Energieversorgung. Konkret: Neue Atomkraft- und Gaskraftwerke sollen als “nachhaltige Investitionen” eingestuft werden. Damit würden Gas und Atomenergie nichts weniger als grün angestrichen und Geldschleusen für diese Energiequellen geöffnet werden. Eine Weichenstellung für einen klima- und energiepolitischen Irrweg!

Darum geht’s im Detail: Die EU-Kommission arbeitet schon seit Monaten an einem neuen EU-Standard für nachhaltige Investitionen, die sogenannte EU-Taxonomie. Dieser Standard wird zum Beispiel definieren, welche Energiequellen als nachhaltig gelten. Die Taxonomie ist also ein Nachhaltigkeitslabel. Die Einstufung als nachhaltige Investition hat immense Folgen: In Zukunft werden sich nicht nur Banken, Versicherungen und andere Finanzmarktakteure bei ihren Investitionsentscheidungen nach diesem EU-Standard richten, sondern auch Kleinanlegerinnen und Kleinanleger. Und nicht nur das: Auch Fördergelder, europäische und nationale Beihilfen und Steuergelder würden in Atom und Gas fließen, wenn diese Energiequellen das Nachhaltigkeitslabel bekommen.

Das Ganze ist so wichtig, weil Europa derzeit seine Energieversorgung auf Klimaneutralität umstellen muss. Über die Rolle von Gas und Atomkraft wird unter den EU-Mitgliedsstaaten heftig gestritten. Energiequellen, die von der EU als nachhaltig eingestuft werden, werden in den nächsten Jahren hoch im Kurs sein. Ist eine Energiequelle nicht Teil der EU-Taxonomie, dann wird sie nicht verboten, aber ihre Finanzierung ungleich schwieriger.

Beim letzten EU-Gipfel am 22. Oktober platzte dann die Bombe: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen kündigte an, in Kürze einen Vorschlag für das EU-Nachhaltigkeitslabel vorzulegen, der auch Atomkraft und Gas beinhaltet. Bisher hatte sie sich stets gegen Atom und Gas in der Taxonomie ausgesprochen. Die Folge: Neue Atomkraftwerke und selbst Gaskraftwerke, die nicht dem modernsten Entwicklungsstand entsprechen, könnten dann auf einen Geldsegen hoffen. Investitionen in Atomkraft und Gas bekämen also fast das gleiche Nachhaltigkeitslabel wie der Bau von Windrädern und Solaranlagen. Ein Super-GAU für die Erneuerbaren Energien!

Die Bundesregierung ist beim letzten EU-Gipfel umgekippt und hat ihren Widerstand gegen das Greenwashing der Atomkraft aufgegeben. Damit könnten bei Gas und Atomkraft in der EU-Taxonomie nun schnell Fakten geschaffen werden. Und zwar noch bevor eine neue Bundesregierung ihre Arbeit aufnimmt und diese Pläne stoppen könnte. Jetzt kommt es also auf Ursula von der Leyens EU-Kommission und ihren Vorschlag für die Nachhaltigkeitsregeln an. Mit dem Grün-Anstreichen von Atom und Gas würden Ursula von der Leyen und EU-Kommissar Frans Timmermans auch das Versprechen ihres eigenen “Green Deals” brechen. Es wäre die erste klare Kursänderung auf Europas Weg zur Klimaneutralität – eine Abkehr von tatsächlicher Nachhaltigkeit!

Wenn die EU-Kommission ihren Vorschlag erst einmal vorgelegt hat, bräuchte es unter den EU-Mitgliedsstaaten eine sogenannte “qualifizierte Mehrheit”, um das Vorhaben noch zu stoppen. Das ist praktisch aussichtslos. Unterschreibt bitte deshalb diese Petition und unterstützt die Forderung an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Kommissar Frans Timmermans:

Die Gewinnung von Strom aus Atomkraft und Gas ist nicht nachhaltig. Atom und Gas dürfen daher im Rahmen der EU-Taxonomie nicht als nachhaltige Investition eingestuft werden! Der EU-Vorschlag darf nicht vorgelegt werden, bevor die neue Bundesregierung im Amt ist!“

„Welch ein Leben“ – Potrait des Schriftstellers und Jahrhundertzeugen Walter Kaufmann

Quelle: Welt online 28.09.2021

Duisburger Wanderer zwischen den Welten

Ein neuer Dokumentarfilm zeigt das Leben des jüdischen Schriftstellers Walter Kaufmann

Ein hochaktueller Dokumentarfilm erinnert an den jüdischen Schriftsteller Walter Kaufmann. Unter anderem Namen geboren und zur Adoption freigegeben, wurde Kaufmann vom „Lumpenkind zum Bourgeoiskind“ – und schließlich Autor. Der Duisburger Hafen vor fast hundert Jahren. Ein kleiner Junge schaut dort den Schiffen und den Arbeitern zu. Sein Leben lang wird Walter Kaufmann (1924 bis 2021) immer wieder auf Reisen sein und Geschichte miterleben. In den USA, auf Kuba, in Australien, Asien und Europa.

Der Dokumentarfilm „Walter Kaufmann – Welch ein Leben“ kommt nächste Woche in die Programmkinos, Regisseur Dirk Szuszies geht mit dem Film auf Reisen und stellt ihn in fünf NRW-Städten vor.

Geboren wurde Kaufmann in Berlin als Jizchak Schmeidler. Als er drei Jahre alt war, 1927, gab ihn seine in Armut lebende Mutter zur Adoption frei. Er kam zum reichen Duisburger Ehepaar Kaufmann und erhielt den Namen Walter. „Aus dem Lumpenkind wurde ein Bourgeoiskind“, sagt der alte Walter Kaufmann im Film. „Und aus dem Bourgeoiskind wurde ein Wanderer durch die Welt.“

In einer Villa am Kaiserberg wuchs Walter auf, „verhätschelt“, wie er selbst erzählt. Sein Vater war Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Duisburgs und hatte im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft. Was nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten passierte, konnte sich niemand in der Familie vorstellen. Bei einem Pogrom wurde die Villa total zerstört, der Vater wurde verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Als er von dort zurückkehrte, stand – wie Walter Kaufmann es beschreibt – „Dachau ins Gesicht des Vaters geschrieben“.

Mit 15 Jahren kam Walter Kaufmann mit einem Kindertransport nach Großbritannien. Seine Pflegeeltern versuchten nachzukommen. Es gelang ihnen nicht, beide starben in Auschwitz, ohne dass Walter Informationen über ihren Verbleib bekommen hätte.

In Australien baut sich Walter Kaufmann ein Leben auf, wird Seemann und Mitglied der Kommunistischen Partei, schreibt Kurzgeschichten und seinen ersten Roman. Als er Mitte der 50er-Jahre nach Duisburg zurückkehrt, um nach den Spuren seiner Familie zu suchen, ist er entsetzt. Niemand wollte über die Nazizeit sprechen. Schnell wurde ihm klar: „In Duisburg bleibst du nicht.“

Walter Kaufmann war schon Mitte 90, als der Film gedreht wurde. Seine Sätze sind klar formuliert, seine Erinnerungen scharf. Die Kamera folgt ihm auf Spaziergängen durch Berlin und an der Ostsee. 1957 ist Kaufmann in die DDR umgesiedelt, behielt aber seinen australischen Pass. So konnte er weiter durch die Welt reisen, Bücher und Reportagen schreiben, über den Rassismus in den USA oder die Revolutionsbegeisterung in Kuba.

Eigentlich wollten die Regisseure Karin Kaper und Dirk Szuszies zusammen mit Walter Kaufmann auf Weltreise gehen und die Orte aufsuchen, an denen er gelebt hat. „Es hat aber zehn Jahre gedauert, bis wir das Projekt finanziert bekommen haben“, erzählt der aus Dortmund stammende Szuszies. Erst mit Unterstützung des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ hat es dann geklappt. „Da war allerdings auch Walter Kaufmann zehn Jahre älter, und es war ihm körperlich nicht mehr möglich, die Reisen zu unternehmen.“

Dann kam auch noch die Pandemie. Doch das Regieteam fand eine Lösung. Kameraleute haben auf der ganzen Welt nach Kaufmanns Anweisungen gefilmt. So erzählt der Film chronologisch die Lebensgeschichte Walter Kaufmanns, aber optisch vermischen sich die Zeitebenen. Historische Aufnahmen wechseln mit aktuellen Impressionen der Städte und Landschaften, die der Schriftsteller bereist hat.

Sein Judentum betont Walter Kaufmann nur, wenn er in Deutschland ist. Um Haltung zu zeigen, denn die Rechtspopulisten sind ihm ein Grauen. Allerdings legt er auch Wert darauf, kein linientreuer DDR-Schriftsteller gewesen zu sein. Einmal habe ihn die Stasi kontaktiert und aufgefordert, Kollegen zu bespitzeln. Er habe abgelehnt. Über die Wiedervereinigung hinweg, von 1985 bis 1993, war Kaufmann Generalsekretär des PEN-Zentrums der DDR. Weil man dort – wie er sagt – offen diskutieren konnte.

Walter Kaufmann ist vor einem halben Jahr in Berlin gestorben, er wurde 97 Jahre alt. Fast ein Jahrhundert Weltgeschichte hat er begleitet, als Berichterstatter und Künstler. Vieles hat er am eigenen Leib erlebt. Der respektvolle Film ist ein würdiges Denkmal.“


Mit australischem Pass in der DDR | Teil 1 | Walter Kaufmann1.469 Aufrufe – 13.01.2021

Mit australischem Pass in der DDR | Teil 2 | Walter Kaufmann722 Aufrufe – 16.02.2021

Keine Steuergelder für die AfD-Stiftung

Quelle: Campact

Hier geht es zur Petition

„Von Rosa Luxemburg, Friedrich Ebert und Konrad Adenauer zu Friedrich Naumann, Hanns Seidel und Heinrich Böll: Nach diesen historischen Vorbildern sind sechs Stiftungen benannt – die Parteistiftungen der demokratischen Parteien, die dauerhaft im Bundestag vertreten sind. Diese Stiftungen, auch als parteinahe oder politische Stiftungen bezeichnet, sind zwar rechtlich und formal von ihren Parteien getrennt, inhaltlich und personell aber eng mit ihnen verbunden. Finanziert werden sie zu rund 90 Prozent aus öffentlichen Mitteln.

Parteistiftungen sind zentrale Pfeiler der politischen Bildung, der Studien- und Forschungsförderung und der Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen im In- und Ausland. Darüber hinaus dienen sie den Parteien als „Think Tanks“ und Berater*innen sowie als „Gedächtnis“ – sie verwalten die Parteiarchive und forschen. So leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie in der Bundesrepublik.

Mit der Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES), der Parteistiftung der extrem rechten AfD, ist eine neue Akteurin dazu gekommen: Erstmals erhebt eine demokratie-feindliche politische Stiftung Anspruch auf Geld aus dem Bundeshaushalt. Mit dieser Stiftung will die AfD viele Millionen Euro in die rechte und rechtsextreme Bewegung lenken.

„Nazi-Erika“, so beschreibt Mohamed Amjahid in der taz die Vorsitzende der DES, Erika Steinbach. Sie hetzte gegen Walter Lübcke und verbreitete Neonazi-Videos, die Ehe für alle nannte sie „eine Hintertür für Pädophileninteressen“ und Kinder von AfD-Mitgliedern „die neuen Judenkinder“. Auch Kuratoriumsmitglieder der DES sind bestens mit der extremen Rechten vernetzt oder selbst in der rechtsextremen Bewegung aktiv.

Trotzdem könnte die neue Bundesregierung der DES in Kürze Millionen Euro bewilligen. Denn die AfD ist ein zweites Mal in den Bundestag eingezogen. Stiftungen von Parteien, die länger im Bundestag vertreten sind, erhalten einen Großteil ihrer Mittel nach einer Art „Gewohnheitsrecht“ aus dem Bundeshaushalt – insgesamt waren das 2020 550 Millionen Euro.

Obwohl es um viel Geld geht, gibt es kein Gesetz, das die Finanzierung der parteinahen Stiftungen aus Bundesmitteln regelt. Stattdessen bekommen sie nach einer Art „Gewohnheitsrecht“ Geld aus dem Bundeshaushalt – und dürfen weitgehend selbst entscheiden, wie sie es einsetzen.

Begründet wird das mit der Verpflichtung des Staates, die politische Bildung zu fördern. Doch jetzt will die rechte AfD ein Stück vom Kuchen – für eine Stiftung, die statt demokratischer Bildung die rechte Szene fördern will. Damit ist klar: Ein Stiftungsgesetz ist dringend nötig. Und es muss klar festlegen, dass nur Stiftungen demokratischer, die Vielfalt unserer Gesellschaft achtender Parteien Steuergeld erhalten.

Mit der DES würde eine Schlüsselorganisation der Rechten staatlich finanziert und groß gemacht. Denn Stiftungen sind wichtige Akteurinnen in der politischen Bildung – im Falle der DES wäre das politische Bildung mit rechten und rechtsextremen Inhalten, aus Steuergeldern finanziert. Auch in Forschungsförderung, zivilgesellschaftliche Projekte und Vernetzung fließt dann Geld. Zu erwarten hätten wir antisemitische, rassistische, nationalistische und völkische Pseudo-Wissenschaft – und im ganzen Land den Ausbau rechter Strukturen durch die Förderung rechter Netzwerke und Organisationen.

Die große Gefahr, die von der DES ausgeht, ist daher eine dreifache: Mit ihr werden Diskurse und politische Einstellungen weiter nach rechts verschoben, rechtes Geschwurbel wird wissenschaftlich verpackt und die Rechte in ganz Deutschland kann ihre Organisationsstrukturen und Netzwerke massiv ausbauen. Und das alles mit unserem Geld.“

„Desiderius-Erasmus-Stiftung: Politische Bildung von Rechtsaußen“, OBS-Arbeitspapier 51, 8. Oktober 2021

„Politische Bildung von Rechtsaußen. Die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung“, FragdenStaat, 8. Oktober 2021

„Kein Geld für die AfD“, Kampagnen-Webseite der Bildungsstätte Anne Frank

„KEINE MINUTE WARTEN IM KAMPF GEGEN RECHTS“, Manifest für die Zivilgesellschaft & die politische Bildung, 29. Juni 2021

Der Cum-Ex-Skandal: Staatsanwältin Brorhilker, Heldin der Aufklärung

Quelle:  Correctiv

Der Cum-Ex-Skandal hat viele Facetten. Zur Erinnerung: die deutschen und europäischen Behörden sehen keine großen Probleme. Auch wenn Insider und Experten warnen, dass diese Art von Deals immer noch möglich sind. Auf der  Webseite von correctiv finden Sie neben der ausführlichen Recherche auch Beispiele, was man mit dem Geld hätte machen können und Infos, wie der Betrug weiter geht.

CumEx Files 2.0 (CORRECTIV)

Cum-Ex: Steuerräuber ohne Schuldgefühl (DasErste)

Anne Brorhilker aus Köln gegen Sanjay Shah aus Dubai und hunderte weitere Beschuldigte. Die Staatsanwältin ist die erste, die die Menschen hinter dem Milliarden-Betrug der CumEx-Files sichtbar machte, indem sie sie auf die Anklagebank gesetzt hat.

Sie ist eine Heldin der Aufklärung. Es macht großen Spaß, ihr im ausführlichen Interview von Panorama dabei zuzuschauen, wie sie mit ihrem trockenen Humor von ihren Erlebnissen berichtet. Wie sie einer Armada von Anwälten gegenübersitzt, die ihr arrogant weismachen wollen, dass sie keine Ahnung habe. Nun sind die ersten Cum-Ex-Betrüger, die Brorhilker angeklagt hat, verurteilt.

Ohne Gesichter bleibt der Steuerraub abstrakt. Brorhilker zieht die Menschen ins Licht, und gibt dem Strafrecht seinen Glanz, den es im Kern hat: Es misst die individuelle Schuld – und damit Verantwortung – für eine Handlung zu.

Es ist höchste Zeit, dass diese Art von Deals verschwinden. Wir konnten zeigen, dass es an den Behörden liegt, die immer noch nicht zusammen arbeiten und den Betrugsvarianten nicht auf die Schliche kommen.

Und es ist Zeit, dass das Steuergeld zurückgeholt wird. Nochmal zum Mitschreiben: Es sind weltweit 150 Milliarden Euro nach unseren neuen Erkenntnissen. Auch Banken sollten sich der Verantwortung stellen.

Wir wollen mit Ihnen eine kleine Umfrage starten: Was würden Sie mit dem Geld machen, das uns allen geklaut wurde? Hier können Sie teilnehmen.

China: Wohlstand für alle statt ungebremstes Wachstum

Quelle: IPG-Journal   – Asien 01.10.2021 | Alicia García-Herrero

Das Ende einer Ära

Das harte Durchgreifen der chinesischen Regierung gegen Evergrande illustriert ihr verändertes Motto: Wohlstand für alle statt ungebremstes Wachstum.

Der chinesische Großkonzern Evergrande ist seit langem ein Symbol für China. Er ist nicht nur ein Immobilienentwickler, sondern ein Konglomerat mit vielen verschiedenen Unternehmensbereichen, darunter auch der Herstellung von Elektrofahrzeugen. Dass Evergrande so groß werden konnte, lag auch an einer enormen „Hebelung“ durch die Aufnahme von Fremdkapital. Solche Kredite werden dazu verwendet, Investitionen zu tätigen oder Projekte durchzuführen. Entwickeln sich diese Aktivitäten nicht gut, vervielfachen sich dadurch aber auch die möglichen Risiken. Evergrande war in diesem Sinne sehr stark „gehebelt“, d.h. die Schulden waren höher als das Eigenkapital.

Dies schien niemanden zu stören, bis Präsident Xi Mitte 2017 eine Expertenkommission zum Schuldenabbau chinesischer Konzerne einberief. Danach ging die Konzernverschuldung allerdings ungehindert weiter, bis die Wirtschaft – und damit auch der Immobiliensektor und natürlich Evergrande – von der Covid-19-Pandemie getroffen wurde. Der chinesische Immobiliensektor ist schon seit langem zu groß und zu riskant aufgestellt. Dies ist kein Zufall, sondern stand im Mittelpunkt des Plans der chinesischen Führung, die Wirtschaft nach der globalen Finanzkrise von 2008 wiederaufzubauen. Das Immobilienangebot und den entsprechenden Sektor zu fördern war für die Lokalregierungen, die Wachstum und Beschäftigung steigern wollten, ein leichter Weg, Einkünfte zu erzielen.

Der chinesische Immobiliensektor ist schon seit langem zu groß und zu riskant aufgestellt.

Die chinesische Wirtschaft zeigte schon 2010 klare Anzeichen einer Überhitzung, was zum größten Teil am Bauboom lag. Dies veranlasste die Regulierungsbehörden, die Kreditvergabe der Banken an den bereits übermäßig verschuldeten Immobiliensektor zu begrenzen. Daraufhin fanden die Entwickler jedoch andere Wege, ihre Finanzierung zu sichern: Sie gaben große Mengen Anleihen heraus und trieben die Vorabverkäufe von Wohnungen aggressiv voran. Und da sie für den inländischen Anleihenmarkt die Zustimmung der Regulierungsbehörden benötigten, wechselten viele zum US-Dollar-Anleihenmarkt im Ausland.

Die Nachfrage nach Wohnraum in China war insoweit gesichert, dass Immobilien die wichtigste Möglichkeit für Investoren waren, angesichts der immer noch drakonischen Kapitalabflusskontrollen ihre Ersparnisse anzulegen. Die Anlage in Immobilien war für die chinesischen Haushalte eine Goldgrube, da die Preise bis vor kurzem fast stetig stiegen. 2021 aber gingen die Wohnungspreise plötzlich zurück. Dies hatte mehrere Gründe.

Der erste und entscheidende Punkt ist, dass der plötzliche Regulierungsschub zur Kontrolle der überstrapazierten Bilanzen der Immobilienentwickler dazu geführt hat, dass einige große Immobilienkonzerne wie China Fortune Land umstrukturiert wurden – bereits bevor Evergrande in Schieflage geriet. Mit anderen Worten, die chinesischen Haushalte sind, obwohl sie in den lokalen Medien immer noch von rosigen Bildern des Sektors und der chinesischen Wirtschaft überschwemmt werden, bei ihren Investitionen in Immobilien zunehmend vorsichtig geworden.

Der zweite Grund ist, dass die verschärften Kontrollen nicht nur die Entwickler betreffen, sondern auch die Käuferinnen und Käufer von Immobilien, die hohe Anzahlungen leisten müssen und Angst vor der Einführung einer landesweiten Immobiliensteuer haben, über die es seit einiger Zeit Gerüchte gibt.

Und schließlich spüren die chinesischen Haushalte die Belastung durch eine Wirtschaft, die in den letzten Jahren rapide zurückgegangen ist – nicht nur aufgrund ihrer eigenen Überkapazitäten, sondern auch durch den Handels- und Technologiekrieg mit den USA und die Pandemie.

Die chinesische Regierung greift hart durch gegen den Immobiliensektor, indem sie die sogenannten „drei roten Linien“ eingeführt hat: Ihre Verschuldung soll gesenkt sowie ihre Abhängigkeit von Vorabverkäufen und Kurzfristfinanzierung begrenzt werden. Dies findet vor dem Hintergrund statt, dass sich das langfristige chinesische Wirtschaftsziel von Wachstum hin zu gemeinsamem Wohlstand verändert.

Gemeinsamer Wohlstand ist Xi Jinpings neues wirtschaftliches Mantra

Dieser gemeinsame Wohlstand ist Xi Jinpings neues wirtschaftliches Mantra, um die Bedeutung besserer Einkommensverteilung und stärkerer Gleichberechtigung zu betonen. Extrem hohe und weiter steigende Wohnungspreise sind wahrscheinlich die wichtigste Quelle für die Ungleichheit der Einkommen in China. Der Zugang zu bzw. der Mangel an Wohnraum ist ein entscheidender Faktor für die Erklärung von Wohlstandsunterschieden.

In diesem Umfeld war Evergrande aus mehreren Gründen ein Hauptziel für die harte Vorgehensweise der Regierung.

  • Zunächst ist der Konzern einfach der größte Immobilienentwickler.
  • Zweitens ist er auch der am stärksten verschuldete und überschreitet alle drei der oben erwähnten roten Linien.
  • Und drittens ist Evergrande – über seine Notierung an der Hongkonger Aktienbörse und seine Anleiheemissionen am dortigen Auslandsmarkt – massiv von ausländischen Investoren abhängig. Die meist in Dollar notierten ausstehenden Anleihen im Umfang von fast 20 Milliarden US-Dollar wurden hauptsächlich von ausländischen Privatbanken und Vermögensverwaltern für ihre reichen Kundinnen und Kunden gekauft.

Seit letzten Donnerstag ein Zinscoupon einer Dollaranleihe nicht ausgezahlt wurde, ist es klar, dass Evergrandes Auslandsschulden umstrukturiert werden. Nimmt man den Konzern China Fortune Land als Beispiel, der selbst im Umstrukturierungsprozess steckt, muss dies nicht unbedingt in Form eines nominalen Schuldenschnitts stattfinden, sondern kann auch bedeuten, dass die Laufzeiten verlängert und die fälligen Zinszahlungen verringert werden. Falls es darauf hinausläuft, werden die ausländischen Investoren wahrscheinlich erleichtert sein, da sie dann über die Zukunft ihrer Investitionen in Evergrande Klarheit bekommen.

Allerdings ist der Konzern immer noch zum größten Teil (der 300 Milliarden US-Dollar Gesamtverschuldung) im Inland verschuldet. Diese Kredite müssen bedient werden – insbesondere die umgerechnet 200 Milliarden Dollar, die Evergrande von chinesischen Haushalten als Vorauszahlungen bekommen hat. Fast 1,5 Millionen Haushalte im Land warten darauf, dass Evergrande ihre Wohneinheiten fertigstellt. Dies wird sicherlich geschehen, da auch andere Immobilienentwickler massiv von Vorauszahlungen abhängig sind. Würde also Evergrande seine Versprechen nicht erfüllen, würden die Vorverkäufe von Immobilien in China austrocknen, was die meisten Immobilienentwickler an den Rand des Abgrunds bringen würde. Darüber hinaus passt es nicht zur Strategie des gemeinsamen Wohlstands, die Verluste auf die Haushalte abzuwälzen. Also hat die chinesische Regierung bereits klar signalisiert, dass sich die Lokalregierungen um die unvollendeten Projekte kümmern werden.

Wirtschaftlicher Erfolg ist nicht länger das Ziel, und finanzielle Exzesse werden bestraft.

Zur Zukunft der chinesischen Wirtschaft ergeben sich daraus zwei grundsätzliche Schlussfolgerungen.

Erstens wird der chinesische Immobiliensektor wegen der Evergrande-Probleme nicht zusammenbrechen, da öffentliche Gelder eingesetzt werden, um die Folgen für das chinesische Wirtschaftssystem zu lindern. Dies bedeutet allerdings nicht, dass alle, insbesondere die ausländischen Investoren, vollständig entschädigt werden. Evergrande muss auch als Warnsignal vor den Risiken übermäßiger Verschuldung dienen.

Die zweite Erkenntnis ist, dass Chinas Wachstum unter all dem leiden wird. Nicht nur der Immobiliensektor, der entscheidend zu Investitionen, Beschäftigung und Wachstum des Landes beiträgt, wird sich nach Evergrandes Niedergang verlangsamen, sondern auch die Investoren allgemein werden – angesichts des drastischen Wandels der chinesischen Prioritäten – zunehmend vorsichtig sein.

Kurz gesagt: Wirtschaftlicher Erfolg ist nicht länger das Ziel, und finanzielle Exzesse werden bestraft. Die wichtigste Strategie ist nun, zum gemeinsamen Wohlstand beizutragen – und dies auch um den Preis enttäuschter Privatinvestoren und damit einer möglichen Stagnation der Wirtschaft.