Quelle: ZEIT online
Kommentar von Alan Posener – November 2021
Impfpflicht: Wer einen Freedom Day will, braucht die Impfpflicht
Die Freiheit der Vielen muss beschnitten werden, weil sich wenige verweigern: Liberal ist das nicht. Warum gerade Freiheitsliebende für die Impfpflicht eintreten müssten.
Ich sag’s ungern: Ich bin für eine Covid-Impfpflicht. Ungern deshalb, weil ich ein Liberaler bin. Dieselbe Haltung, die mich für ein Recht auf Rausch eintreten lässt, so schädlich Alkohol, Nikotin und andere Drogen gesundheitlich und volkswirtschaftlich sein mögen, lässt mich vor der staatlichen Verordnung eines medizinischen Eingriffs zurückschrecken. Denn die Impfung – nicht der Piks, sondern das, was danach im Körper geschieht, ist natürlich ein medizinischer Eingriff.
Gerade aus meinem Liberalismus heraus sehe ich jedoch inzwischen nicht ein, dass eine Minderheit von etwa 25 Prozent der Erwachsenen die Mehrheit – und den Staat – zwingen darf, weiterhin Maßnahmen zu ergreifen, die bei einer weithin erreichten Herdenimmunität nicht nötig wären.
Maßnahmen übrigens, wie die Maskenpflicht, gegen die jene 25 Prozent dann am lautesten schreien und die sie oft genug – ich bin Nutzer der öffentlichen Verkehrsmittel – demonstrativ nicht einhalten, wohl in der Hoffnung, irgendjemand werde sie zur Rede stellen und ihnen Gelegenheit geben, wieder einmal von Apartheid und Faschismus, Oberlehrern und Blockwarten und so weiter zu schwadronieren und sich als Opfer zu fühlen.
Zur Impfpflicht genudget
Es ist die Rücksicht auf die Ungeimpften, die den Staat zu Maßnahmen wie Schulschließungen bewegt, die gerade Kindern aus bildungsfernen Familien das Grundversprechen einer liberalen Gesellschaft – Aufstieg durch Bildung – verweigern. Zu Maßnahmen wie dem Verbot von Feiern in Parks und dergleichen, die jungen Leuten ihre Jugend rauben; oder vom Böllern zu Silvester, die arg nach Moralinsäure riechen.
Im Dezember 2020 schrieb ich allerdings hier auf ZEIT ONLINE, eine allgemeine Impfpflicht wäre „nur mit drastischen Zwangsmaßnahmen durchzusetzen und möglicherweise von dem medizinischen Personal gar nicht zu bewältigen, von der zu erwartenden Flut gerichtlicher Klagen abgesehen“. Deshalb forderte ich damals – in Deutschland war noch niemand geimpft worden – das, was wir heute die 2G-Regelung nennen: „Die Pflicht, zumindest bei nicht notwendigen Aktivitäten den Nachweis einer Impfung vorzulegen, und die Pflicht der Veranstalter, diesen Nachweis zu verlangen.“
Jedoch ging ich erstens damals davon aus, die Impfung würde schnell in Gang kommen. Es kam bekanntlich anders und daran waren nicht die Querdenker schuld, sondern EU-Bürokratinnen und Lieferengpässe. Ärgerlich genug.
Inzwischen gibt es aber mehr als genug Impfstoff. „Wenn die Hersteller die Produktion nicht zurückfahren, dürfte es ein Überangebot in der zweiten Jahreshälfte 2022 geben“, schreibt der Economist. Das Problem ist also nicht mehr die Produktion, sondern – in Teilen der ärmeren Welt – die Verteilung und vor allem in der reicheren Welt der Widerstand.
Die höchste Ungeimpftenquote westeuropäischer Länder
Und hier bilden – jedenfalls in Westeuropa – die deutschsprechenden Länder eine Art gallisches Dorf der Unbelehrbaren. (Übrigens ging es den Galliern unter römischem Protektorat so gut wie nie zuvor in ihrer Geschichte und erheblich besser als den östlichen Barbaren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die antizivilisatorische Botschaft von Asterix und Obelix in Deutschland besonders gut ankam.) Die Bundesrepublik, Österreich und die Schweiz haben die höchste Ungeimpftenquote aller westeuropäischen Länder. In Sachsen sind gerade mal 57,5 Prozent vollständig geimpft. Dort ist auch die Infektionsrate am höchsten, aber der offenkundige Zusammenhang zwischen Nichtimpfung und Krankheit ändert nichts an der Einstellung. Laut Forsa wollen sich 65 Prozent der Ungeimpften „auf keinen Fall“ in den nächsten Monaten impfen lassen, 23 Prozent „eher nicht“: 88 Prozent Erfahrungsresistente.
Mit einem Widerstand dieser Größenordnung hatte ich nicht gerechnet. Den Unwillen gegen Kontaktverbote, Schulschließungen, Masken und dergleichen konnte ich halbwegs nachvollziehen, aber Impfung war doch die Lösung.
Mit Fakten allein hat es nicht geklappt
Nun bin ich kein Anhänger der Maxime: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Und selbst wenn ich es wäre: Die Ungeimpften fühlen ja die Folgen ihrer Verweigerung. Ein Großteil der Patientinnen auf den Intensivstationen und der Todesopfer sind Ungeimpfte. Man könnte also sagen: Bitte sehr, jede hat das Recht, sich selbst zu gefährden.
Gewiss, sagt man, aber niemand hat das Recht, andere zu gefährden. Das stimmt, aber wenn etwa bei einer 3G-Veranstaltung ungetestete Geimpfte und getestete Ungeimpfte zusammenkommen, sind die Ungeimpften die Gefährdeten. Geimpfte können symptomfrei Viren übertragen; sie können zwar auch erkranken, in der Regel aber ist der Krankheitsverlauf nicht so schwer. Die Ungeimpften werden krank, müssen ins Krankenhaus, müssen intubiert werden, belegen Intensivbetten, die für andere Patientinnen fehlen.
Operationen werden verschoben. Das Personal arbeitet am Limit. Wer weiß, wie viele Leben das kostet, wie viel Leiden dadurch verursacht werden? Von den zusätzlichen Kosten und der Überarbeitung des Personals ganz zu schweigen.
Die Argumente sind aber auch alle bekannt und sie scheinen keinerlei Einfluss auf die Impfgegnerinnen zu haben. Zu meinem Erstaunen gehören dazu auch Freunde und Verwandte: der Softwareentwickler in Kreuzberg, die Lehrerin in Reinickendorf, der Drummer in Steglitz, großstädtisch-aufgeklärte Menschen, die scheinbar aus dem Nichts heraus ein grundlegendes Misstrauen gegen den Staat, die Pharmaindustrie, die Wissenschaft und die evidenzbasierte Medizin entwickeln. Das ist nicht liberal. Liberale wollen zwar möglichst wenig Staat. Aber nur wenn und weil die Individuen und die Zivilgesellschaft es besser machen können. Das hat nicht geklappt.
Der Staat muss eingreifen
Was soll etwa eine Restaurantbesitzerin machen, wenn ihr Koch die Impfung verweigert? Entlassen? So schnell ist kein Ersatz zu finden. Die Gesetzeslage gibt es ja auch nicht her. Erkrankt aber der Koch, ist der Betrieb auch im Eimer. Was soll ein Gastwirt machen, dessen Klientel zu großen Teilen aus Impfverweigerern besteht? Sie verärgern und sich selbst die Geschäftsgrundlage entziehen? Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Hier muss der Staat eingreifen.
Das Problem ist: Jede halbherzige Maßnahme, die der Staat im Sinne des Nudging ergreift, begreifen die Impfverweigerer – zu Recht – als Versuch, einen Impfzwang durch die Hintertür einzuführen. Darüber empören sie sich – aus ihrer Sicht – zu Recht genauso wie über einen direkten Impfzwang. Und da die Maßnahmen tropfenweise kommen, gibt es immer wieder Gründe zur Empörung.
Hinzu kommt, dass der Staat die Verantwortung für die Durchsetzung der Maßnahmen auf so viele Schultern verteilt, von Busfahrern bis hin zu Kinokartenabreißern und Kellnerinnen, dass sie vielfach missachtet werden. Um ihre Einhaltung zu überprüfen, wäre ein Heer von Ordnungswächtern nötig, was die Mär vom „faschistischen Apartheidstaat“ oder von der finalen Durchsetzung der „Biomacht“ im Sinne Michel Foucaults aufseiten der Impfverweigerer täglich nährt, während auf der anderen Seite die ständige, ungeahndete, nicht wirksam zu ahnende Durchbrechung der Regeln auch bei den Geimpften Staatsverdrossenheit erzeugt, auch zu Recht.
Impfzwang jetzt, dafür dann ein Freedom Day
Das Infektionsschutzgesetz erlaubt ja eine Impfpflicht: „Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.“ So steht es in Paragraf 20 Abschnitt 6, und „bedroht“ ist auslegbar. Hätte die Regierung davon Gebrauch gemacht, hätte es wohl verbreitetes Murren gegeben, hier und dort auch hartnäckigen Widerstand.
Aber die meisten hätten sich gefügt, dem Widerstand hätten sich nicht so zahlreiche Gelegenheiten geboten wie jetzt, wir hätten eine Impfquote von 90 Prozent und hätten längst unseren Freedom Day ausrufen können.
Beim Regierungsantritt muss ein Fürst nötige Grausamkeiten schnell begehen, wusste schon Niccolò Machiavelli. Die neue Ampel-Regierung sollte mit der Impfpflicht beginnen. Zumal es geradezu leichtsinnig wäre anzunehmen, Covid-19 sei die letzte Pandemie, die unsere Welt heimsucht. Wir wissen jetzt, wie wir Impfstoffe schnell entwickeln. Wir brauchen die Handhabe, sie schnell in die Arme zu bekommen. Im Interesse der Freiheit, richtig sinnlose Dinge zu tun. Im Interesse des Spaßes.