Was trennt Russland und die Ukraine?

Streitgespräch: Was trennt Russland und die Ukraine? W-Forum der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags 17. Oktober 20162.649 Aufrufe – 07.01.2021

Dieser Frage sind die Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck (Bündnis90/Die Grünen) und der Historiker Prof. Jörg Baberowski in einem Streitgespräch nachgegangen.

Sendung vom 17. Oktober 2016 00:00 Vorrede 12:00 Eröffnung Beck 25:44 Klarstellung Schöler 28:01 Eröffnung Baberowski 46:47 Beck 2 1:08:10 Schöler Fragen 1:10:44 Baberowski 2 1:27:38 Beck 3 1:42:08 Schöler Frage 1:42:26 Baberowski 3 1:45:20 Zwischenfragen zu Banditen 1:51:06 Publikumsfragen 1:52:51 Baberowski Schlusswort 1:58:39 Beck Schlusswort 2:03:51 Nachrede

Marieluise Beck (*1952) https://marieluisebeck.de/lebenslauf

Jörg Baberowski (*1961) https://www.geschichte.hu-berlin.de/d… Gastbeitrag Baberowski in der ZEIT vom 12. März 2015: „Der Westen kapiert es nicht“ https://www.zeit.de/2015/11/ukraine-k…

Moderator: Prof. Ulrich Schöler, Leiter der Abteilung „Wissenschaft und Außenbeziehungen“ der Bundestagsverwaltung https://www.bundestag.de/mediathek?vi…

 

 Ukraine-Krieg: Was spricht für und gegen Waffenlieferungen?

Quelle: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/waffenlieferungen-argumente-ukraine-krieg-100.html

 Was spricht für und gegen Waffenlieferungen?

von Jan Schneider 24.04.2022

Seit Tagen wird in Deutschland diskutiert, ob und welche Waffen der Ukraine zur Verteidigung geliefert werden können. Ein Überblick über die Argumente und ob sie stichhaltig sind.

Die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine bestimmt seit Tagen die politische Debatte in Deutschland. Die CDU greift die Ampel-Koalition scharf an, droht gar mit einer namentlichen Abstimmung im Bundestag. Und auch innerhalb der Regierung gibt es Zwist, auch wenn sich alle bemühen, ihn klein erscheinen zu lassen.

Die Waffenlieferungen spielen eine entscheidende Rolle für die Ukraine bei der Verteidigung gegen Russlands Invasion, darin sind sich die meisten Sicherheitsexperten einig. Viele Argumente in der Diskussion um Waffen haben jedoch mehrere Ebenen, eine faktische und eine politische.

Argument: Wenn Deutschland schwere Waffen liefert, wird es zum Kriegsteilnehmer

Bundeskanzler Olaf Scholz hatte es im aktuellen „Spiegel“ als oberste Priorität bezeichnet, ein Übergreifen des Krieges auf die Nato zu vermeiden. „Es darf keinen Atomkrieg geben“, sagte er, und er „tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt.“

Völkerrechtlich betrachtet ist Scholz‘ Befürchtung unbegründet, wie Politikwissenschaftler Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr München im Podcast „Sicherheitshalber“ darlegt: „Im völkerrechtlichen Sinne ist Kriegsteilnehmer, wer an einem bewaffneten Angriff teilnimmt. Dann – und nur dann – wären auch verteidigende Maßnahmen – etwa durch Russland – zulässig. Waffenlieferungen sind aber kein Angriff“.Im Völkerrecht gelte das Neutralitätsgebot, so Sauer. Wenn zwei Staaten Krieg gegeneinander führen, sollten sich andere Staaten rauszuhalten. Die Ausnahme sei dabei jedoch: Wenn die Aggression sehr eindeutig ist.

Und „es gibt seit Langem kaum einen Krieg, wo die Aggression so eindeutig ist wie im Russland-Ukraine-Krieg“, ergänzt der Sicherheitsexperte Carlo Masala, ebenfalls von der Universität der Bundeswehr. Es gebe keine Pflicht, die Ukraine zu unterstützen, aber wenn Staaten es tun, sei es legitim, ohne das Neutralitätsgebot zu verletzen, so Masala. Da die Staaten, die die Waffen lieferten, sie nicht selbst im Einsatz bedienten, sei kein Staat Kriegspartei.

Politische Dimension der Waffenlieferungen

Die Diskussion wird allerdings nicht nur auf Grundlage des Völkerrechts geführt. Schon der Start eines Angriffskrieges ist ein Bruch des Völkerrechts. Es spielt also höchstwahrscheinlich gar keine große Rolle, wie ein Kriegsteilnehmer im Völkerrecht definiert ist, die Debatte dreht sich vielmehr darum, was Russlands Präsident Putin als so große Provokation einschätzt, dass er ein Land, das schwere Waffen liefert, als Kriegsteilnehmer betrachtet – und dann einen Angriff auf das Land befehlen könnte. Hätte man die Logik der nuklearen Bedrohung von Anfang an so strickt befolgt, so Sauer, hätte man gar keine Waffen an die Ukraine liefern dürfen. Bisher wurden die Lieferungen aber nicht als Kriegseintritt gewertet auf russischer Seite. Man solle weitere Lieferungen also genau prüfen und ausloten, um sich nicht „wegen imaginierter roter Linien selbst zum Nichtstun zu verdammen“.

Argument: Waffenlieferungen verlängern den Krieg und führen zu mehr Toten

Richtig ist, dass Waffenlieferungen den Krieg verlängern. Sie schützen jedoch auch Menschenleben, meint Sicherheitsexperte Carlo Masala. Man habe gesehen, wie das russische Militär vorgeht, wenn es auf keinen Widerstand stößt.In Mariupol sehe man aktuell etwa die russische Strategie, die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Schwere Waffen würden der Ukraine helfen, sich besser verteidigen zu können.

Argument: Deutschland hat gar keine schweren Waffen zum Liefern

Zu dieser Frage gab es am Freitag ein Briefing im Verteidigungsministerium, erklärt Thomas Wiegold vom Blog „Augen geradeaus!“: Die Bundeswehr habe aktuell 376 Marder-Panzer in ihrem Bestand.

Laut dem Verteidigungsministerium sei etwa ein Drittel davon einsetzbar und bei der Truppe: Für Verpflichtungen gegenüber der Nato, für Übungen und Ausbildung. Ein Drittel sei in der planmäßigen Wartung und ein Drittel sei zu Nachrüstung oder als Ersatzteilvorrat bei der Industrie. Kurzfristig – so das Ministerium – könne man von diesem Bestand nichts abgeben. Nun sei geplant, dass Slowenien in einem „Ringtausch“ alte Kampfpanzer vom Typ M-84 an die Ukraine abgibt. Dabei handle es sich um eine Weiterentwicklung des sowjetischen T-72 Panzers. Kampfpanzer vom Typ M-84 könnten die ukrainische Soldaten bedienen und es gebe für sie auch Ersatzteile im Land. Im Gegenzug soll Slowenien in den nächsten Monaten deutsche „Marder“ bekommen und eine Ausbildung an den deutschen Panzern. Details müssten dabei jedoch noch geklärt werden.

Andere Länder haben schon schwere Waffen geliefert und weitere Lieferungen angekündigt. Einen Überblick finden Sie hier:

Panzerfäuste, Handgranaten und Maschinengewehre, aber keine Panzer und schwere Artillerie – so sieht die bisherige Bilanz der deutschen Waffenlieferungen in die Ukraine aus. Aus den Bundeswehrbeständen sollen auch künftig keine schweren Waffen in die Ukraine geliefert werden.

Auf einer Liste mit Angeboten der deutschen Industrie stehen nur zwölf Mörser, die in diese Kategorie eingeordnet werden können. Außerdem sollen Länder, die schwere Waffen sowjetischer Bauart in die Ukraine liefern, Ersatz aus Deutschland bekommen.

Von den Nato-Partnern kündigen unterdessen immer mehr an, auch direkt schwere Waffen für den Kampf der Ukraine gegen die russischen Angreifer zu liefern.

Unter schweren Waffen versteht man Kampf- und Schützenpanzer, schwere Artillerie, Kriegsschiffe, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber und größere, schwer gepanzerte Fahrzeuge. Ein Überblick:

  • Die USA, der militärisch mit Abstand stärkste Nato-Partner, haben folgende schwere Waffen versprochen und wohl teilweise auch schon geliefert: 11 Hubschrauber russischer Bauart vom Typ Mi-17, 200 gepanzerte Mannschaftstransporter vom Typ M113, insgesamt 90 Haubitzen mit dem Kaliber 155 Millimeter plus Munition. Außerdem haben die USA einen neuartigen Drohnentyp entwickelt, der Anforderungen des ukrainischen Militärs entspricht. Mehr als 120 der Drohnen mit dem Namen „Phoenix Ghost“ sollen im Rahmen eines neuen Militärhilfepakets der US-Regierung in die Ukraine geliefert werden.
  • Frankreich hat lange zu seinen Waffenlieferungen geschwiegen. Am Freitag sagte Präsident Emmanuel Macron aber erstmals, was sein Land liefert, darunter die Haubitze Caesar (Kaliber 155 Millimeter), ein schweres Artilleriegeschütz.
  • Die Slowakei hat ihr einziges Luftabwehrsystem S-300 geliefert. Über Kampfflugzeuge und Panzer wird diskutiert.
  • Tschechien soll T-72-Kampfpanzer und BMP-1-Schützenpanzer sowjetischer Bauart geliefert haben, was aber nicht offiziell bestätigt wurde.
  • Estland hat neun Haubitzen (Kaliber 122 Millimeter) sowjetischer Bauart in die Ukraine geliefert, die ursprünglich aus DDR-Beständen stammen.
  • Litauen hat schwere Mörser geliefert.
  • In Polen gibt es Gerüchte über die Lieferung von T-72-Panzern. Das Land hat zudem Kampfflugzeuge angeboten.
  • Die Türkei hat bereits vor dem Krieg mehrere Kampfdrohnen des Typs Bayraktar TB2 an die Ukraine verkauft, von denen 12 geliefert worden sein sollen. Zu Lieferungen während des Krieges gibt es keine offiziellen Angaben.
  • Großbritannien hat Kiew 150 gepanzerte Fahrzeuge versprochen. Dabei soll es sich um den schwer gepanzerten Typen „Mastiff“ handeln.
  • Die Niederlande wollen Panzerhaubitzen an die Ukraine liefern. Das teilte Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren am Freitag in Den Haag mit. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur will Deutschland die Lieferung mit Ausbildung und Munition unterstützen. Wie viele Panzerhaubitzen geliefert würden, ist bisher nicht bekannt.

Lieferungen von Waffen seien allgemein schwieriger als andere Geschäfte, erklärte der Sicherheitsexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik bei ZDFheute live: Es gebe bei der Rüstungsindustrie keine Geschäfte wie Amazon, in denen man sich einfach etwas aussuche und direkt geliefert bekomme. Erst recht nicht, wenn es um schwere Waffen gehe. Deutschland liefere aktuell, was möglich sei.

Argument: Die Ausbildung an den deutschen Waffen dauert zu lang

Die Ausbildung an Marder-Panzern könne laut Ministerium bis zu neun Monate dauern. Es sei daher nicht sinnvoll, die modernen Panzer in die Ukraine zu liefern. Man müsse jedoch auch bedenken, was in drei Wochen in der Ukraine gebraucht werde und das jetzt schon anschieben, so Christian Mölling. Ein Krieg wie dieser gehe mit sehr viel Materialverschleiß einher. Wenn irgendwann kein sowjetisches Material mehr übrig sei, müsse die Ukraine zwangsläufig auf westlichen Waffen ausgebildet werden, sonst könne man nicht mehr helfen.

Die USA verfolgen in diesem Punkt einen ähnlichen Ansatz. Sie liefern bereits jetzt Artillerie-Geschütze an die Ukraine. Die Ausbildung für die ukrainischen Soldaten findet in Bayern statt. Das Training sei auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr geplant, sagte Wiegold. Auch die Niederlande gibt Panzerhaubitzen ab, die nicht im aktiven Bestand sind. Auch bei dieser Lieferung soll die Ausbildung in Deutschland stattfinden.

Krieg in der Ukraine: Die wirtschaftlichen Folgen – und wie ihn beenden?

Michael Lüders: Krieg in der Ukraine: Die wirtschaftlichen Folgen – und wie ihn beenden?17.343 Aufrufe – 22.04.2022

 

 

 

NBC-interview with National Security Adviser  Jake Sullivan: ‚Weapons Are Arriving Every Day‘ in Ukraine271.485 Aufrufe – 10.04.2022

National Security Adviser Jake Sullivan says the United States is giving Ukraine „everything that they need“ to defeat Russia, during an interview with Meet the Press. » Subscribe to NBC New

NATO-Osterweiterung: Schon Boris Jelzin warnte sehr deutlich vor den Risiken

Auch wenn es gerade nicht gern gehört wird (und immer hinzugefügt werden muss, dass auch die Erwähnung der Vorgeschichte den  brutalen Angriffskrieg Putins in keiner Weise rechtfertigt): Der Ukraine-Krieg hat – wie alle historischen Ereignisse – eine Vorgeschichte, zu der alle Akteure gehören: auch die USA und die NATO. Zu dieser Vorgeschichte gehört die Zeit zwischen 1990 und 2000 und die NATO-Ost-Erweiterung. Bereits der erste russische Präsident – Boris Jelzin – hat sehr deutlich vor den Risiken der NATO-Osterweiterung gewarnt.

Darauf machte der früherere außenpolitische Chef-Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, Horst Teltschik, in seinem sehr lesenswerten Buch 2019 aufmerksam:

Horst Teltschik. Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. München 2019. C.H.Beck Verlag.

Auszüge aus dem Kapitel:  Verpasste Chancen, enttäuschte Liebe: Die Entfremdung in der Ära Jelzin (S. 88 ff.)

Tatsächlich war man sich in Washington Anfang der 1990er Jahre in der Frage der NATO-Osterweiterung unschlüssig. Es gab neben entschiedenen Befürwortern auch starke Kräfte, die sie für unklug hielten, da sie die Möglichkeiten einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, wie sie in der Charta von Paris vorgesehen war, untergraben würde. Denn der Preis für die höhere Sicherheit der neuen NATO-Mitglieder musste ein vermindertes Sicherheitsgefühl derjenigen sein, die nicht Teil des Clubs wurden. Gerade angesichts der fragilen Transformationsphase, in der sich Russland befand, schien es besser zu sein, alles zu vermeiden, was Moskaus Weg nach Westen behindern könnte. Zu Beginn seiner Amtszeit war Präsident Clinton daher nicht unbedingt begeistert über den starken Druck, den die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in Richtung NATO-Mitgliedschaft ausübten. Die Partnership-for-Peace-Initiative, die 1993/94 aufs Gleis gesetzt wurde, war auch ein Versuch, die Frage der NATO-Erweiterung aufzuschieben…Erst im Laufe des Jahres 1994 setzten sich in Washington die Kräfte durch, die in der NATO-Osterweiterung keine langfristige Perspektive sahen, sondern sie möglichst rasch in Angriff nehmen wollten.“ (S. 112)


„Schon in der ersten Hälfte der 1990er Jahre machten sich in Russland vor dem Hintergrund westlicher Dominanz in weltpolitischen Fragen Anzeichen einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik bemerkbar. Einerseits hatte Moskau weiterhin ein vitales Interesse an einem strategischen Bündnis mit Europa und an einer uneingeschränkten Beteiligung an einem gemeinsamen europäischen kollektiven Sicherheitssystem. Andererseits wuchsen die Befürchtungen, in der europäischen wie globalen Politik zunehmend marginalisiert zu werden.

Am 22. September 1994 beschwerte sich Präsident Jelzin in einem Telefongespräch mit Präsident Clinton, er habe den Eindruck, „dass die Einstellung der USA gegenüber Russland“ nicht angemessen sei. „Es gibt einige Offizielle im Weißen Haus und im Kongress, die glauben, dass Russland seinen Supermachtstatus verloren habe. Natürlich nicht du, Bill. Du verhältst dich so, wie du es musst. Aber einige deiner Versprechen sind nicht gehalten worden aufgrund von Widerständen in der Bürokratie. Wer, zum Beispiel, wirft Sand ins Getriebe unserer Friedensbemühungen in Ossetien, Berg-Karabach, Georgien und Tadschikistan? Es muss Fortschritte geben, sonst wird die Partnerschaft abkühlen… Russland wird bei einigen Themen nicht konsultiert, aber Russland ist eine Großmacht.“

Es kam damals in Russland zu ersten Diskussionen über die Idee, stärker in Richtung einer vertiefen eurasischen Zusammenarbeit zu gehen, womit die klare Westorientierung Jelzins in Frage gestellt wurde. Könnte Russland die Brücke nach China sein? … Jelzin …suchte nun zunehmend, den russischen Einfluss in den ehemaligen Sowjetrepubliken wieder zu stärken, um eine weitere Erosion des russischen Einflusses zu verhindern. Das ohnehin vorhandene Misstrauen in Moskau hatte sich verstärkt, und der Glaube an die neue Weltordnung jenseits von Einflusszonen und Blockkonfrontation war erschüttert. Das hatte allerdings nicht zuletzt damit zu tun, wie der Westen und insbesondere Washington mit dem Streben der ostmitteleuropäischen Staaten nach NATO-Mitgliedschaft umgingen.“ (S. 109, 110 und 111).


„Sicherheit war und bleibt die zentrale Kategorie sowjetischer bzw. russischer Außenpolitik. Kürzlich wurde aufgrund des Freedom of Information Act in Washington Protokolle der Gespräche freigegeben, in denen Clintons Außenminister Warren Christopher Boris Jelzin im Oktober 1993 über die Entscheidung informierte, zunächst die Partnership-for-Peace-Initiative zu verfolgen und die Frage der NATO-Osterweiterung zurückzustellen. …Christopher versicherte Jelzin, dass nichts getan werde, was Russland von „vollständiger Teilhabe an der zukünftigen Sicherheit Europas“ ausschließen würde. … Die Frage einer NATO-Mitgliedschaft werde von den USA lediglich als eine langfristige Möglichkeit betrachtet. Jelzin hielt dies für eine „brillante Idee…“ Dies werde alle Sorgen beseitigen, die in Russland bezüglich des Strebens der osteuropäischen Staaten nach NATO-Mitgliedschaft bestünden… Aber schon im September 1994 teilte Clinton dem russischen Präsidenten mit, dass Washington nun doch die NATO-Osterweiterung in Angriff nehmen würde.“ (S. 114)


„Solange Jelzin davon ausging, dass die Frage der NATO-Osterweiterung lediglich eine langfristige Perspektive sein würde, konnte er sie relativ entspannt behandeln. Im August 1993 stimmte er einem Beitritt Polens grundsätzlich zu, als er zu einem Besuch in Warschau weilte. Sein Außenminister Andrej Kosyrew äußerte sich im September 1993 ähnlich gegenüber seinem ungarischen Kollegen.

Doch zur gleichen Zeit stellte Jelzin in einem Schreiben an die Regierungen der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands klar, dass die Osterweiterung der NATO in der russischen Bevölkerung das „Gefühl der Isolation“ hervorrufen könnte. …Als Jelzin den Eindruck gewann, der Prozess werde nun schnell voranschreiten, kam es zu dem eingangs zitierten Ausbruch auf dem KSZE-Gipfel im Dezember 1994, bei dem er vor einem „kalten Frieden“ warnte.

Noch im Februar 1995 erklärte er, dass Russland zwar kein Vetorecht gegen die NATO-Erweiterung beanspruche, aber einer „übereilten“ Ausdehnung der NATO nicht zustimmen werde. Kompromissloser trat allerdings Verteidigungsminister Pawel Gratschow auf. Er drohte, ein neues Militärbündnis zu schaffen und die Ratifizierung des START-II-Vertrags zu überdenken. Auch mit Streitkräften an der Grenze zum Westen wurde gedroht. …“ (S. 115, 116)


Es ist durchaus zutreffend, dass die russische Seite nicht genügend Vertrauen aufbrachte, um in der Ausdehnung der NATO keine Bedrohung der eigenen Sicherheit zu sehen. Man muss aber gleichzeitig konstatieren, dass die westliche Seite unterschätzte, wie schwierig es für Moskau war, das Misstrauen gegenüber der NATO abzubauen…

Wie jüngst freigegebene Geheimdokumente zeigen, beschwerte sich Jelzin bei einem Vieraugengespräch mit Präsident Bill Clinton am 10. Mai 1995, die Pläne für eine NATO- Osterweiterung seien „nichts anderes als eine Demütigung Russlands“ und eine „neue Forum der Einkreisung“. „Wie glaubst du, sieht es für uns aus, wenn ein Block weiterhin existiert, während der Warschauer Pakt abgeschafft wurde? … „Wenn ich dem Heranrücken der NATO an die Grenzen Russlands zustimmen würde – das würde einen Verrat meinerseits am russischen Volk darstellen.“ Stattdessen, so Jelzin, sei er bereit, jedem Staat, der der NATO beitreten wolle, eine Garantie zu geben, dass Russland seine Sicherheit nicht verletzen werde. (S. 106)


„Bill Clinton, der im November 1996 ebenfalls zur Wiederwahl anstand und deshalb in der Sache selbst hart blieb, sagte Jelzin zu, den Erweiterungsprozess offiziell erst auf dem NATO-Gipfel im Juli 1997 zu beginnen… Dort wurden Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn nur sechs Jahre nach Auflösung des Warschauer Pakts Beitrittsverhandlungen nach Artikel 10 des Nordatlantikvertrags angeboten.“ (S.116)

„Die Absicht war, die drei Staaten bis zum 50. Jahrestag der NATO-Gründung im April 1999 in das Bündnis aufzunehmen. Im März 1999 erfolgte der Beitritt. Präsident Clinton blockierte zu diesem Zeitpunkt noch den französischen Wunsch, jetzt Rumänien und Slowenien einzubeziehen.“ (S. 116)


„Vermutlich überschritt die NATO auf dem Gipfel in Madrid nicht nur dadurch eine für Moskau sehr sensible Schwelle. Zugleich wurde dort nämlich auch ein militärischer Partnerschaftsvertrag mit der Ukraine abgeschlossen. Diese NATO-Ukraine-Charta sah vor, dass ukrainische Streitkräfte im Rahmen einer NATO-geführten Combined Joint Task Force (CJTF) an Militäreinsätzen beteiligt werden könnten. Voraussetzung dafür war ein Mandat der UN oder der OSZE. Außerdem wurde der Ukraine die militärische Zusammenarbeit als Mitglied der Initiative „Partnership-for-Peace“ ermöglicht.“ (S. 116)


Noch bei einem Treffen in Helsinki, nicht mal ein halbes Jahr vor dem Gipfel in Madrid im Juli 1997 hatte Jelzin erklärt, dass die NATO-Perspektive der Ukraine eine rote Linie für Moskau sei. „Es bleibt ein Fehler der NATO, sich nach Osten zu erweitern“, stellte er fest und ließ durchblicken, dass er nur darum die Kompensationsangebote annahm, weil er keine Alternative sah. „Ich muss versuchen, die negativen Konsequenzen für Russland abzumildern. Ich bin bereit, eine Vereinbarung mit der NATO einzugehen, nicht weil ich will, sondern weil ich dazu gezwungen werde. …“

.Doch eine Sache war ihm besonders wichtig: Die Erweiterung soll sich nicht auf ehemalige Sowjetrepubliken erstrecken. Ich kann kein Dokument unterzeichnen, in dem das nicht klargestellt wird. Besonders die Ukraine.“

Doch zu einer Vereinbarung war Clinton nicht bereit. … Präsident Jelzin kündigte nach dem Madrider Gipfel seinerseits an, die militärische Zusammenarbeit mit den GUS-Staaten auszuweiten. Und die USA ihrerseits schlossen im Januar 1998 bilaterale Abkommen mit Estland, Lettland und Litauen. Sie enthielten keine Sicherheitsgarantien, aber waren mit dem Versprechen Clintons verbunden, dass ein Beitritt zur NATO bald möglich sein werde.“ (S. 117)


Es besteht kein Zweifel, dass Präsident Jelzin fast ohnmächtig den Prozess des Auseinanderbrechens Jugoslawiens verfolgt hat und mit Zähneknirschen die Bombardierdung des „serbisch-slawischen Brudervolkes“ in Belgrad durch Kampfflugzeuge verschiedener NATO-Staaten hinnehmen musste. …Im Gespräch mit Präsident Clinton hat Jelzin geradezu gefleht, den Angriff zu unterlassen, wie die neu frei gegebenen Dokumente der „William J. Clinton Presidential Library“ zeigen. Und er hatte prophezeit: „Mein Volk wird von jetzt an Amerika und die Nato ablehnen. Ich erinnere dich daran, wie schwierig es für mich war, die Menschen und Politiker in meinem Land davon zu überzeugen, nach Westen, zu den USA zu schauen. Das ist mir gelungen, und nun war alles umsonst.“ (S. 109)