Experten über Entlastungsmaßnahmen: Was den Ärmsten wirklich helfen würde
Von Marie Illner – Aktualisiert am 05.09.2022 – Quelle: 1 & 1
Die Energiepreise steigen weiter, die Inflation liegt inzwischen bei knapp acht Prozent. Immer mehr Stimmen aus Politik und Wirtschaft schlagen Alarm. Die „Tafel Deutschland“ twitterte: „Essen ist kein Luxus! #Armut steigt, Andrang bei den Tafeln und trotzdem keine nennenswerten Hilfen von der Ampel.“
„Ein Teil der Bevölkerung wird im Winter die Strom- und Heizrechnungen nicht mehr bezahlen können“, warnt ein User bei Twitter. Ein anderer schreibt: „Menschen in diesem Land können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen & die Regierung verteilt Dusch-Tipps. Die Preise müssen sinken“.
Ein drittes Mal Prinzip „Gießkanne“?
Die Bundesregierung hat nun ein drittes Entlastungspaket beschlossen. Inhalt sind unter anderem Einmalzahlungen für Studierende, Auszubildende sowie Rentner, außerdem die Einführung einer Strompreisbremse, mehr Kindergeld und ein Heizkostenzuschuss für Bezieher von Wohngeld. Zu den Maßnahmen aus den vorherigen Entlastungspaketen zählte beispielsweise eine Energiepreispauschale, der Tankrabatt und das Neun-Euro-Ticket.
Ulrich Schneider, Geschäftsführer vom Wohlfahrtsverband „Der Paritätische“, hatte im Vorfeld des neuen Paketes bereits gefordert: „Die Regierung darf den Fehler des ersten #Entlastungspakets nicht wiederholen: Kein Geld mit der #Gießkanne ausschütten. #Gaspreisdeckel oder Steuersenkungen sind der komplett falsche Weg. Stattdessen muss Solidarität eingefordert werden mit denen, die es allein nicht schaffen.“
Immer wieder wird gefordert, „nicht mit der Gießkanne“ vorzugehen, sondern „zielgenau“ zu entlasten. Was aber heißt das? Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Dullien sagt: „Wenn man tatsächlich nur die Ärmsten unterstützen möchte, sind Einmalzahlungen an Transferempfänger und Empfängerinnen – wie man sie auch im Sommer schon genutzt hat – das beste Instrument“. Davon sind im neuen Entlastungspaket mehrere enthalten: Studierende und Azubis bekommen 200 Euro, Rentner 300.
Welche Instrumente zielgenau sind
Auch Heizkostenzuschüsse an Haushalte mit Wohngeld seien sehr zielgenau, ebenso wie der Kinderbonus, meint Dullien. Zwar bekommen dabei auch reiche Eltern mehr Geld, der Bonus wird aber mit dem Kinderfreibetrag verrechnet. „Deshalb kann man ihn zielgenau nur bestimmten Einkommensgruppen zukommen lassen“, erklärt der Experte.
Forschungsergebnisse haben bereits jetzt gezeigt, dass die Ärmsten in der Bevölkerung im Verhältnis besonders hart von den Preissteigerungen getroffen werden. Dullien sagt aber auch: „Derzeit zeichnet sich ab, dass die Belastungen insbesondere bei Haushalten mit Gasheizung bis in obere Einkommensgruppen so groß sein dürften, dass eine Entlastung auch der ‚Normalverdiener‘ sinnvoll ist.“
Entlastungspaket
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Experte: Rezession droht
Viele Haushalte auch in der Mitte der Einkommensverteilung hätten nicht ausreichend Ersparnisse, um den Gaspreisschock zu verkraften, ohne ihre Konsumausgaben an anderer Stelle deutlich zurückzufahren.
„Ein solches Zurückfahren der Konsumausgaben von der breiten Mitte aber droht, Deutschland in die Rezession zu stoßen“, warnt Dullien. Bei einer Rezession, auch Abschwung genannt, kommt es zu einem Rückgang der Wirtschaftstätigkeit.
„Es wird schwierig, wenn man Menschen mit eher niedrigen Einkommen, aber jenseits der Transfergrenzen erreichen möchte“, gibt Dullien zu. Hier fehle in Deutschland eine zentrale Datenbank der Haushalte mit ihren Einkommen oder auch nur die Infrastruktur, diese Menschen zu erreichen. „Bislang bleibt die einzige Möglichkeit, zunächst ‚mit der Gießkanne‘ die Mittel auszuschütten und sie dann über das Steuersystem bei den Reicheren wieder einzusammeln“, erklärt der Experte.
Rentner nicht aus dem Blick verlieren
Das habe man so auch bei der Energiepreispauschale gemacht, die zunächst an alle Erwerbstätigen ausgezahlt und dann der Besteuerung unterworfen wurde. „Dabei gab es allerdings hochproblematische Lücken: Rentnerinnen und Rentner sowie Studierende sind weitgehend leer ausgegangen“, erinnert er. Nun hat die Bundesregierung nachgesteuert – ein Punkt, den auch die Sozialverbände lautstark eingefordert hatten.
Für den „VdK“ hatte Verena Bentele vorab gefordert: „Die Regierung muss jetzt schnell liefern, denn ab Oktober steigen die Gasabschläge. Entlastungen müssen gezielt erfolgen und nicht nach dem Gießkannenprinzip. Wer keine Rücklagen bilden kann, dessen Geld reicht heute kaum noch für das Lebensnotwendige.“
Viele Menschen hätten große Angst, künftig Lebensmittel, Strom, Gas und Öl nicht mehr bezahlen zu können. „Strom- und Gaskonzerne dürfen nicht länger Profiteure der aktuellen Energiekrise sein“, so Bentele. Eine Übergewinnsteuer dürfe nicht länger ausgeschlossen werden.
„Kommen müssen eine 300-Euro-Energiepauschale für Rentnerinnen und Rentner sowie höhere, armutsfeste Regelsätze beim geplanten Bürgergeld und in der Grundsicherung sowie eine Kindergrundsicherung“, sagt sie. Das Wohngeld müsse so reformiert werden, dass es einen dauerhaften Heizkostenzuschuss für alle einkommensschwachen Haushalte umfasse. Die ersten beiden Punkte wurden nun von der Regierung umgesetzt.
Anschlusslösung für das Neun-Euro-Ticket
Ins Spiel bringt Bentele aber auch ein Kündigungsmoratorium für Mieterinnen und Mieter. „Sie dürfen nicht auf der Straße landen, wenn sie ihre Miete wegen der immensen Energiepreise nicht zahlen können“, sagt Bentele.
Zudem müsse die Mehrwertsteuer von sieben Prozent auf Grundnahrungsmittel wie Hülsenfrüchte, Obst und Gemüse abgeschafft werden. „Das wäre eine spürbare Entlastung, die sofort wirkt“, ist sich Bentele sicher.
Zu den Forderungen zählt auch eine Nachfolgelösung für das Neun-Euro-Ticket. „Menschen mit wenig Geld müssen weiterhin mobil sein können, das muss auch im neuen Bürgergeld berücksichtigt werden. Auch für Kinder aus einkommensschwachen Familien muss es eine Anschluss-Regelung geben“, so Bentele. Eine Anschlusslösung ist noch nicht konkret, im Gespräch sind aber Modelle für Monatstickets zwischen 49 und 69 Euro.
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Gaspreisdeckel bis Erhöhung der Grundsicherung
Ähnliche Forderungen kamen zuvor vom Sozialverband Deutschland (SovD). Präsidentin Michaela Engelmeier sagte: „Wir können die Krise nur bewältigen, wenn die Lasten gerecht verteilt werden“. Es sei Aufgabe der Politik, den Menschen die Angst zu nehmen.
„Sie brauchen mehr Geld in der Tasche und die Sicherheit, gut über den Winter zu kommen“, so Engelmeier. Zu ihren Forderungen zählte eine Heiz- und Stromkostenkomponente im Wohngeld und eine deutliche Ausweitung des Berechtigtenkreises.
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Ein Vorschlag von Dullien hat bei der Regierung scheinbar kein Gehör gefunden: Ein Gaspreisdeckel für einen Grundverbrauch sowie eine neue Energiepreispauschale für alle. „Mit beiden Maßnahmen würden die Ärmsten auch – und stärker als der Rest der Bevölkerung – entlastet, aber eben auch die breite Masse der Bevölkerung“, hatte der Experte erklärt.
Über die Experten:
- Prof. Dr. Sebastian Dullien ist Volkswirt und wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.
- Verena Bentele ist Präsidentin des Sozialverbandes VdK.
- Michaela Engelmeier ist Präsidentin des Sozialverbandes Deutschland SovD