Der Ukrainekrieg und die bellizistische Remedur Deutschlands

Quelle: zebis = Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften (2010 vom Katholischen Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr in Hamburg gegründet).

Prof. Dr. Elmar Wiesendahl – Hamburg – 11.07.2022

Der Ukrainekrieg und die bellizistische Remedur Deutschlands

Prof. Dr. Elmar Wiesendahl lehrte Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München und war bis Ende 2021 Mitgesellschafter und Geschäftsführer der Agentur für Politische Strategie (APOS) in Hamburg. Er forscht und publiziert über Parteien und politische Strategiefragen.

Auszüge aus dem Text:

Was heißt Bellizifierung und wie sie betrieben wird

Bellizifierung ist ein mehrdeutiges Konzept, das förderliche Rahmenbedingungen und Einstellungsverhältnisse herstellen möchte, die einen von Auflagen losgelösten Einsatz des Militärs zum Zwecke auswärtiger sicherheitspolitischer Interessenvertretung ermöglichen soll.

Für das Selbstverständnis der Bundesrepublik als internationalem Player werden Maßstäbe gesetzt, die deren Sonderrolle als softe Friedensmacht abstreift und sie mit einer robusten Verfügungsmacht über das Militärische ausstattet. Dadurch soll sie machtstaatlich normalisiert an die Seite der westlichen Mittel- und Großmächte aufrücken. Es geht um die Teilnahme Deutschland am Beziehungsgefüge von Machtstaaten, die allesamt den Einsatz militärischer Gewalt bei der Durchsetzung nationaler Interessen und der Stabilisierung der internationalen Sicherheitsordnung mit ins Kalkül ziehen.

Um solch einer Linie politisch zum Durchbruch zu verhelfen, unternahmen bereits 2014 der damalige Bundespräsident Joachim Gauck und die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine abgestimmte Aktion. Eingekleidet in das wohlklingend schwammige Motto „mehr internationale Verantwortung“ zu übernehmen, wurde für eine neue, militärisch abgestützte Außen- und Sicherheitspolitik plädiert. Jüngere Metaphern wie „Deutschland dürfe nicht weiter am Spielfeldrand stehen bleiben“ (Timothy Snyder) oder „Deutschland müsse erwachsen werden“ (Carlo Masala) zielen in die gleiche Richtung. Die öffentliche Wirkung verpuffte jedoch und blieb politisch weitgehend folgenlos.

Nun ergibt sich mit dem Ukrainekrieg eine erneute Remedur-Vorlage. Damit diese Früchte trägt, ist die öffentliche Reaktion auf die überraschende russische Intervention in die Ukraine von medialer und politischer Seite so in einen narrativen Deutungsrahmen einzubetten, dass sich die Bevölkerung in ihrer Gewahr-Werdung und Verarbeitung des Kriegsgeschehens auf eine bellizistische Kehrtwende ihrer Verweigerungshaltung gegenüber einer stärker militarisierten Außenpolitik einlässt.

Der Ukrainekrieg und das narrative Fundament der bellizistischen Remedur

Um angesichts des Ukrainekriegs die Bevölkerung und die politischen Entscheidungsträger für eine waffenbasierte Beteiligung Deutschlands am Kriegsgeschehen zu mobilisieren, muss ein fundamentaler kognitiver, mentaler, geistiger und ideologischer Bewusstseins- und Einstellungswandel herbeigeführt werden. Der postheroischen, kriegsskeptischen Bevölkerung in Deutschland einen bellizistischen Bewusstseinswandel einzuimpfen, bedarf es eines die pazifistische Grundhaltung erschütternden Deutungs- und Einordnungsrahmens des Kriegsgeschehens, dessen Vergegenwärtigung erschauern und empören lässt. Der in der Tat durch nichts zu rechtfertige Angriffskrieg Russlands gegen eine friedfertige und schutzlose Ukraine liefert hierfür den Inszenierungsrahmen.

Im Rahmen der Remedur-Kampagne stellt die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gewissermaßen das Feldzeichen im Kampf um die Bellizifierung der deutschen Außenpolitik dar, während die strategischen Folgen hinsichtlich der Eskalation des weiteren Kriegsverlaufs äußerst wenig Beachtung finden.

Die bellizistische Remedur nimmt ihren Ausgang beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und mündet in der Zielsetzung, die Ukraine durch militärische Beistandsleistungen zu einem Sieg gegenüber Russland zu verhelfen. Die Befürworter und Anhänger des neuen Bellizismus stimmen darin überein, die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen den russischen Aggressor militärisch mit dem Spektrum aller zur Verfügung stehender schwerer Waffen uneingeschränkt zu unterstützen. Dies bezieht sich vor allem auf Panzer und Artilleriewaffen jeglicher Bauart und Reichweite, wobei speziell die Scholz-Regierung mit der Lieferung von modernen westlichen Kriegsgerät aus deutschen Beständen massiv unter Druck gesetzt wird.

In den Erzählrahmen des Angriffskriegs Putins ist das Bemühen eingefügt, die Rechtfertigung Putins, den Einmarsch in die Ukraine wegen der versprechenswidrigen Ostverschiebung und Einkreisung Russlands durch die NATO zu führen, als abwegig abzuqualifizieren. Eine Mitverantwortung des Westens am Ukrainekrieg fällt damit weg und entspringt allein Putins Eroberungssucht gegenüber der Ex-Sowjetrepublik Ukraine. Unterstellt wird dabei, dass Putin den Krieg von Anfang an wollte und die westlichen Staatsmänner über seine wahren Absichten systematisch täuschte. Zudem habe Deutschland sich über Jahrzehnte mit seiner Entspannungspolitik und der Strategie „Wandel durch Handel“ in verblendeter und irregeleiteter Form von russischer Energieversorgung abhängig gemacht, die es zum Komplizen Putins und zur Finanzierungsquelle des Ukrainekrieges mache. Der Bau der Nordstream II Gas-Pipeline stehe hierfür Pate.

Gesinnungsethischer Salonbellizismus und das ferne Stahlgewitter des Krieges

Die Bestrebungen zur Bellizifierung der Identität Deutschlands werden von Personenkreisen aus dem journalistischen, schriftstellerischen und parteipolitischen Bereich angeführt, für die die Welt und Ratio der Militärstrategie und der Kriegsführung ziemlich weit entfernt ist. Journalistisch ist diese Kluft besonders eklatant. Die Kriegsberichterstattung ist vom Kriegsverlauf mit seinen militärischen Operationszügen meilenweit entfernt und kapriziert sich, angeleitet durch die Selenskij-Regierung, auf die Darstellung von Zerstörungen, Kriegsgreuel und der herzzerreißenden Inszenierung menschlichen Leids. Der aus anderen Kriegen bekannte Typus des Kriegsreporters bildet im Ukrainekrieg einen Totalausfall.

In den Redaktionsstuben, den Parlaments- und selbst Regierungsämtern sitzt mittlerweile eine Kriegsdienstverweigerer-Generation, an die eine wehrpflichtfreie Nachfolgegeneration anschließt. Die Generation KDV unter den Journalisten und Politikern reiht sich jetzt angesichts des Ukrainekrieges in die Gesinnungsgemeinschaft der Bellizisten ein und favorisiert aus einem moralischen Empörungsimpuls heraus die Eskalation der militärischen Gegenwehr gegen die russischen Kriegszerstörungen und -verbrechen. Die bellizistischen Journalisten und Politiker spielen ohne genauere militärstrategische Grundkenntnisse mit dem Einsatz von Waffen einer Kriegsmaschinerie, ohne, wie die davon betroffenen ukrainischen Soldaten oder die Zivilbevölkerung, auch nur entfernt in das Kriegsgeschehen involviert zu werden.

Für die neue „Krieg muss sein“-Generation stellt Kriegsbeteiligungsbereitschaft eine der persönlichen Erfahrung und Betroffenheit entzogene Spezialisten-Aufgabe dar, für die die Bundeswehr mit Berufssoldaten und -soldatinnen den Kopf hinzuhalten hat. Dabei ist die heutige Bundeswehr nicht mehr wie noch zu Zeiten des Ost-West-Konflikts Wehrpflichtigen- und damit Volksarmee, sondern eine stark verkleinerte professionelle Expertentruppe zur Androhung und Anwendung kollektiver militärischer Gewalt.

Die bellizistische Community hat nichts am Hut mit einer Langemark-Generation, die bereit wäre, mit Tschingderassabum für die Ukraine zu sterben. Das neue Gesinnungskriegertum speist sich vielmehr aus einer moralischen Entrüstungs- und Empörungshaltung heraus und kann sich mit dem Eintreten für militärische Aufrüstung und Gegengewalt für die Ukraine gesinnungsethisch abreagieren. Dies heißt aber auch, gegen das verantwortungsethische Prinzip zu verstoßen, die unter Umständen nicht beherrschbaren unkontrollierbaren Folgen der herbeigewünschten und herbeigeredeten Kriegseskalation verantworten zu müssen.

Diese Pro-Kriegshaltung ergeht sich in einer „Frontkämpfersprache“ (Hilmar Klute) und bedient sich eines martialischen Gehabes, kann aber den militärischen Attentismus eines Salon-Bellizisten nicht von sich streifen. Sollte es im Kriegsverlauf um einschneidende persönliche Einschnitte und Lastenzumutungen gehen, ist nicht gewiss, wie stark sich die bellizistischen Anwandlungen auch wieder verflüchtigen werden. Sollte es darüber hinaus zu einer unmittelbaren deutschen Kriegsbeteiligung kommen („Germans to the front“), könnte der grassierende Haltungsbellizismus schnell wieder implodieren.

Die bellizistische Epochenwende und ihre Folgen

Die Folgen der militärischen Beteiligung von NATO und EU am Ukrainekrieg und die damit verbundene Bellizifierung der Außenpolitik einzuschätzen, hängt von den intendierten Zielsetzungen der beteiligten Staaten ab und von der Frage, inwieweit die Einsatzmittel zielkonform sind oder nicht vertretbare Wirkungen und Nebenfolgen zeigen. Von der Kriegsbeteiligungs- und Bellizifierungsdebatte gehen auf jeden Fall mentale und politische Wirkungen aus, die das Selbstverständnis des Landes im Umgang mit Bedrohungen und internationalen Krisen auf eine neue Grundlage stellen.

Die Zeitenwende-Rede von Kanzler Scholz vom 27. Februar 2022 hat die politischen Koordinaten zugunsten einer Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik verschoben. Sie leitet mit dem 100-Milliarden-Euro-Paket sowie der Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf ein Zwei-Prozent-Niveau eine massive Aufrüstungsspirale ein. Es geht um Stärkung und Modernisierung der Ausstattung und Kampfkraft der Bundeswehr, die sich zu einer der stärksten europäischen Abschreckungs- und Verteidigungsarmeen im NATO-Bündnis mausern soll.

Im Verteidigungsweißbuch von 2016 wird der Bundeswehr zwar schon die Doppelaufgabe der Landesverteidigung und des internationalen Kriseneinsatzes zugedacht, was jedoch bei der Unterfinanzierung und maroden Materialausstattung der Bundeswehr illusorisch bleiben musste. Jetzt befördert indes das Scheitern des Afghanistan-Einsatzes und der schrittweise Rückzug aus Mali die Rückkehr zur alten Bundeswehr, welche nach ihrer Transformation zur Einsatzarmee faktisch ausrangiert wurde. Die Umwandlung in eine stark verkleinerte Berufsarmee schuf ein Übriges. Jetzt geht es um einen Wiederaufrüstungsprozess, der vom zugrunde gelegten Bedrohungsszenario  in alte Zeiten der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges zurückfällt.

Zeitenwechsel bedeutet für Deutschland nach diesem Kurswechsel eine Zäsur, die auf einen machtstaatlichen Paradigmenwechsel ihres sicherheitspolitischen Selbstverständnisses hinausläuft. Es geht um die Revision der auf militärischer Zurückhaltung und soft Power basierenden Außen- und Sicherheitspolitik des Landes, die ihre Priorität bislang auf Wirtschafts- und Exportinteressen setzte. Dass diese Linie nicht weiter fortsetzbar ist, resultiert unmittelbar aus den Folgen der Wirtschaftssanktionen, die die Handelsbeziehungen mit Russland untergraben. Sie sollen Russland in seiner Wirtschaftskraft massiv schädigen und zurückwerfen. Der Export an russischer Kohle, an Öl und Gas soll unterbunden werden.

In Deutschland löst diese Sanktionspolitik eine Teuerungswelle des Energieverbrauchs aus. Dies ist Folge des selbstgesetzten Ziels, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden und gleichzeitig klimaneutral auf erneuerbare Energieträger umzustellen. Offensichtlich setzt der eine oder andere Wortführer der „Zeitenwende“, wie Nils Minkmar (Die netten Jahre sind vorbei. In: SZ vom 11.5.2022, S. 9) auf eine Entwicklung Deutschlands, die in einer „Dritten Republik“ mündet.

Russland dagegen profitiert von der Preisexplosion und ist dabei, neue Absatzmärkte für seine Energieexporte zu erschließen. Gleichwohl endet für das Angreiferland jetzt schon, gemessen an seinen Kriegszielen, die Militärinvasion in einem Desaster: Kein erfolgreicher ukrainischer Regimewechsel, kein Sturz der Selenskij-Regierung. Stattdessen Wiederbelebung der NATO und militärische Stärkung ihrer Ostflanke. Aufnahme von Schweden und Finnland in das Bündnis. Keine Spaltung der EU, sondern Ausdehnung des von ihr kontrollierten Wirtschaftsraums nach Osten. Vor allen Dingen löste der brutale Überfall eine nationale Vereinigungsbewegung unter den West- und Ostukrainern aus, die dem kriegsgeschundenen Land eine nicht wieder zu nehmende national-kulturelle Identität schenkte.

Wohl ist mit dem Überfall die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine dauerhaft auf Eis gelegt, wie auch die Krim und die Ostukraine dem russischen Einfluss dauerhaft unterworfen bleiben werden. Die absehbare EU-Mitgliedschaft wird aber die Ukraine wirtschaftlich und kulturell-gesellschaftspolitisch dauerhaft von Russland entfremden.

Mehr Menschen als je zuvor von Kriegen und Gewalt betroffen – Deutschlands zivile Friedensfähigkeiten stärken

Mehr Menschen von Kriegen und Gewalt betroffen

Nach Angaben der Vereinten Nationen waren im Jahr 2021 mehr Menschen von
Kriegen und gewaltsamen Konflikten betroffen denn je seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs. Mehr als 100 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht.

Ein Viertel der Weltbevölkerung, zwei Milliarden Menschen, leben aktuell in Regionen, die von gewaltsamen Konflikten und Kriegen betroffen sind.

Vor diesem Hintergrund forderte der Generalsekretär der Vereinten Nationen zum
Jahresbeginn mehr Investitionen in Prävention und Friedensförderung:

Die globalen Nachhaltigkeitsziele

Im Jahr 2015 haben sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen mit der Agenda
2030 siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung gesetzt. Ein Leben in Würde für alle
Menschen und der Schutz unserer Lebensgrundlagen sollen erreicht werden.
Die Agenda erkennt die besondere Bedeutung von Frieden für die Erreichung aller
anderen Ziele an: Ohne Frieden keine nachhaltige Entwicklung.

Friedensförderung lohnt sich
Laut einer Studie des Instituts für Wirtschaft und Frieden (IEP) spart jeder Dollar,
der in Friedensförderung investiert wird, später 16 Dollar Konfliktkosten.

Was jetzt konkret zu tun ist: Deutschlands zivile Friedensfähigkeiten stärken

Zivilgesellschaften stärken

Deutschland hat bewährte, international anerkannte Instrumente zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen, für Demokratisierung und zur Unterstützung lokaler Friedensorganisationen.

Im Zivilen Friedensdienst arbeiten beispielsweise mehr als 300 Friedensfachkräfte in 43 Ländern mit Menschen vor Ort für Dialog, Menschenrechte und Frieden. Das Förderprogramm zivile Konfliktbearbeitung (zivik) unterstützt weltweit zivile Akteure dabei, Krisen vorzubeugen, Konflikte zu überwinden und friedliche gesellschaftliche und politische Systeme zu schaffen. Diese Programme müssen angesichts der aktuellen Herausforderungen dringend ausgebaut werden!

Perspektiven für Konfliktregionen schaffen

Wo Schulen und Krankenhäuser zerstört sind, die lokale Wirtschaft brachliegt sowie Wasser und Strom fehlen, haben Menschen keine Perspektive. Sie können sich nicht an Wiederaufbau und Frieden beteiligen.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt in vielen betroffenen Regionen einen am Frieden orientierten Wiederaufbau der Infrastruktur und Ernährungssicherung. Dabei setzt es auf Nichtregierungsorganisationen und internationale Organisationen. Dieses Engagement muss fortgesetzt und verstärkt werden!

Zivile Friedensmissionen und Vermittlung voranbringen

Die Vereinten Nationen und regionale Organisationen wie die OSZE sind zentrale Foren für Dialog und unverzichtbare Akteure der Friedenssicherung. Deutschland sollte ihre Handlungsfähigkeit stärken.

Dazu müssen die finanziellen Beiträge, etwa für das Zentrum für internationale Friedenseinsätze und das Europäische Kompetenzzentrum Ziviles Krisenmanagement, erhöht werden. Die Bundesregierung sollte außerdem die eigenen Kapazitäten für Friedensmediation und zur Beteiligung an zivilen Friedensmissionen erweitern.

Versprechen umsetzen: Mehr Geld für Entwicklung und Frieden


Die Regierungskoalitionen von 2017 und von 2021 haben sich jeweils verpflichtet, die Mittel für Krisenprävention, Humanitäre Hilfe, Auswärtige Kulturpolitik und Entwicklungszusammenarbeit im gleichen Maße zu steigern wie die Verteidigungsausgaben. Dieses Versprechen wurde bislang nicht eingehalten.

Im Jahr 2022 unterstützt die Bundesregierung Krisenprävention, Humanitäre Hilfe, Auswärtige Kulturpolitik und Entwicklungszusammenarbeit mit insgesamt 16,36 Mrd. €.
Rund drei Mal so viel, insgesamt 50,4 Mrd. €, gibt sie für Verteidigung aus, hinzu kommt das sogenannte Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Mrd. €.

Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages,

nach Angaben der Vereinten Nationen waren im Jahr 2021 mehr Menschen von Kriegen und gewaltsamen Konflikten betroffen als jemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mehr als 100 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, mehr als je zuvor.

Kriege und gewaltsame Konflikte werfen die Weltgemeinschaft in ihren Bemühungen weit zurück, die 2015 beschlossenen globalen Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu erreichen.  Darum muss Deutschland dem Aufruf des Generalsekretärs der Vereinten Nationen folgen und deutlich mehr in zivile Krisenprävention und Friedensförderung investieren.

Wir fordern Sie auf: Setzen Sie sich dafür ein, Deutschlands zivile Friedensfähigkeiten zu stärken.

ABGEORDNETENERKLÄRUNG

Deutschlands zivile Friedensfähigkeiten stärken.

Wir, die unterzeichnenden Abgeordneten des Deutschen Bundestags,

bekennen uns zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Die aktuellen Kriege und internationalen Konflikte werfen die Weltgemeinschaft in ihren Bemühungen für den Schutz unserer Lebensgrundlagen und ein Leben in Sicherheit und Würde für alle Menschen dramatisch zurück.

Wir unterstützen den Aufruf des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, angesichts der Vielzahl aktueller Krisen und Konflikte mehr in Prävention und Friedensförderung zu investieren. Auch Deutschland muss dafür mehr Verantwortung übernehmen.

Wir wollen Deutschlands zivile Friedensfähigkeiten stärken. Unser Land soll noch mehr zur Prävention und der Entschärfung internationaler Krisen, Kriege und Konflikte beitragen. Darum werden wir uns im Rahmen unseres Mandates als Mitglieder des Deutschen Bundestages dafür einsetzen, die Mittel für zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung in dieser Legislaturperiode deutlich auszubauen.

Aufruf an Bürger*innen

Fordern Sie die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in Ihrem Wahlkreis auf,
die Erklärung „Deutschlands zivile Friedensfähigkeiten stärken“ zu unterzeichnen.

  • Bestellen Sie das Faltblatt mit der Erklärung sowie Hintergrundinformationen zu den Forderungen bei uns. E-Mail an kontakt@frieden-stark-machen.de oder unter Telefon 0221 91 27 32-0. Alternativ können Sie das Faltblatt hier herunterladen.
  • Schreiben Sie Ihren Abgeordneten an, per Brief oder per E-Mail und legen Sie die Erklärung bei.
  • Besuchen Sie Ihre Abgeordneten in der Sprechstunde für Bürger*innen und bitten Sie um Unterzeichnung der Erklärung.
  • Sie wollen mehr über die Forderungen der Kampagne erfahren? Melden Sie Ihr Interesse an der Teilnahme an einer unserer Online-Informationsveranstaltungen an unter E-Mail kontakt@frieden-stark-machen.de.

Hier auf dieser Seite können Sie prüfen, welche Abgeordneten die Erklärung bereits unterzeichnet haben.
Unter www.bundestag.de/abgeordnete finden Sie die Abgeordneten in Ihrem Wahlkreis und ihre Kontaktdaten

Wir fordern: Stärken Sie die zivile Friedensfähigkeit

Proteste im Iran

Quelle: SPIEGEL 26.10.22

Aufgezeichnet von Jan Petter

Proteste in Iran »Viele der Verletzten haben inzwischen Angst, den Notruf zu wählen«

Sie studiert in Deutschland, wollte nur ihre Familie in Teheran besuchen – und geriet mitten in die blutigen Proteste. Hier erzählt eine 27-jährige Iranerin, was sie bei dem Kampf der Frauen erlebt hat.

Wenn Parisa Sadeghi spricht, reibt sie sich manchmal die Augen. So, als müsste sie kurz innehalten, sich orientieren, oder vor Müdigkeit wieder konzentrieren. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in einer deutschen Großstadt, draußen vor dem Fenster laufen ältere Männer mit Dackeln vorbei. Drinnen, in einer unauffälligen Wohnung, stehen schwarzer Tee und ein Teller Kekse auf dem Tisch, an der Wand hängt ein Bild von Schopenhauer. Es ist keine zehn Tage her, da stand Sadeghi in Teheran in der Mitte eines Kreisverkehrs und rief »Frauen! Leben! Freiheit!« Es ist der Schlachtruf der aktuellen Proteste.

Seitdem am 16. September die Studentin Jina Mahsa Amini in Obhut der iranischen Sittenpolizei starb, kommt das Land nicht zur Ruhe. Das Regime unterdrückt sämtlichen Widerstand mit Gewalt, selbst auf Kinder und Jugendliche wird jetzt geschossen, laut NGOs starben bislang mehr als 200 Menschen. Detaillierte Berichte von vor Ort sind nur schwer zu bekommen. Ausländische Journalisten werden nicht ins Land gelassen, soziale Netzwerke und Internetseiten immer stärker zensiert – und viele Menschen haben Angst zu sprechen.

DER SPIEGEL hat in den vergangenen Tagen mithilfe von Verschlüsselungssoftware, Sprachnachrichten und am Telefon bereits mehrere Berichte aus dem Land veröffentlicht, die Anatomie des Aufstands  ausführlich erklärt. Parisa Sadeghi kann diese Geschichten mit ihrer eigenen Perspektive ergänzen, die eine besondere ist: Als eine von wenigen Protestierenden befindet sie sich in Sicherheit, sie kann frei und in Ruhe über ihre Erfahrungen in den vergangenen Wochen in Iran berichten. Nachprüfen lassen sich ihre Berichte nicht, sie decken sich jedoch mit den Beschreibungen anderer Gesprächspartnerinnen. Zu ihrem eigenen Schutz ist ihr Name dennoch geändert.

Anatomie des Aufstands in Iran: »Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass dieses Land uns gehört«

Abgeschnittene Haarsträhnen, brennende Hidschabs: Die mutigen Frauen Irans Der SPIEGEL-Leitartikel von Özlem Topçu

»Ich bin Ende September nach Iran gereist, um meine Familie zu besuchen. Meine Eltern sind dort, die ganze Familie lebt in Teheran, auch Freunde. Als ich landete, war Jina Amini keine Woche tot. Schon auf dem Weg in die Stadt waren überall Graffiti gegen das Regime zu sehen, viele Frauen liefen ohne Hidschāb durch die Straßen. Früher wurde die Kopftuchpflicht selbst in Autos mit Kameras kontrolliert. Wer erwischt wurde, musste ein Bußgeld zahlen. Jetzt ignorieren viele Frauen die Mahnungen einfach. Noch am ersten Abend bin ich auf die Straße.«

Parisa Sadeghi ist 27. Sie gehört einer Generation an, die mit Protesten gegen das Regime aufgewachsen ist. Es ging um gefälschte Wahlen, Grundrechte, die wirtschaftliche Not. Jetzt geht es um all das zusammen, ganz besonders aber die Rechte von Frauen. Ihr Freund stammt ebenfalls aus Iran. Zu Beginn des Gesprächs fragt er höflich, ob er sich dazusetzen dürfe. Während der folgenden drei Stunden wird er nicht viel sagen, meist nur interessiert zuhören. Er ist studierter Ingenieur, in Deutschland hat er sich einer feministischen Gruppe angeschlossen, er sagt, die Lage in seinem Heimatland habe ihn politisiert.

»Mein Freund sagt immer: Das iranische Schiitentum ist das beste Programm, um Menschen zu Atheisten zu machen. Ich denke, es gibt wenige islamische Länder, in denen so viele Menschen den Glauben aufgeben wie in Iran. Wir sehen wie im Alltag jedes Unrecht mit der Religion begründet wird. Wir sehen, wie damit gelogen wird. Wie soll man da noch ehrlich religiös sein? Als ich neun war, sagte mein Vater zu mir: Ich glaube nicht mehr an Gott. Als ich elf war, brachte man mir bei, dass ich den Hidschāb tragen muss. Mit 17 spürte ich zum ersten Mal Tränengas. Mit 18 bin ich dann fürs Studium ins Ausland. Ich wollte nicht abhauen, einfach nur leben. Iran ist auch heute noch mein Land.«

Sadeghi erzählt, wie ihre Mutter sie und ihren jüngeren Bruder zu den Protesten begleitet habe, um sie zu beschützen. Aber auch aus eigener Wut. Bereits am ersten Abend wurden sie mit Gummigeschossen attackiert, Frauen in der Nachbarschaft gewährten ihnen Zuflucht in ihren Wohnungen.

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„Protest gegen Energiekosten – Polarisierung mobilisiert stärker“

Protest gegen Energiekosten“ – Polarisierung mobilisiert stärker“

Stand: 22.10.2022 05:53 Uhr

Die Energiekosten machen vielen Menschen Sorgen. Linke und AfD trommeln zum „heißen Herbst“. Nun rufen Gewerkschaften und Sozialverbände zum „solidarischen Herbst“ auf. Politikwissenschaftlerin Münch über die „Wut der Wütenden“ und Fehler der Ampel.

tagesschau.de: An diesem Wochenende will ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Sozialverbänden und Umweltgruppen für mehr soziale Sicherheit in der Energiekrise in mehreren deutschen Städten demonstrieren. Formiert sich jetzt der Protest von links, um den rechten Gruppen nicht die Straße zu überlassen?

Ursula Münch: Das Bündnis ruft zu einem „solidarischen Herbst“ auf, es geht natürlich um die Energiekrise, aber auch um Solidarität mit der Ukraine. Das ist ein Unterschied zu den von rechtspopulistischen Kräften organisierten Demonstrationen, die die Verantwortung für den Krieg und die steigenden Preise der Bundesregierung zuschieben wollen: Deren Protest richtet sich auch pauschal gegen die Regierenden, gegen das sogenannte System. Sie werfen der Bundesregierung „Kriegstreiberei“ vor und wollen zurück zu den guten deutsch-russischen Beziehungen.

Einige der Forderungen der linken und rechten Gruppen klingen jedoch ähnlich: Der Staat muss denjenigen deutlich stärker finanziell helfen, die nicht wissen, wie sie im Winter über die Runden kommen sollen.

Die Wut der Wütenden

tagesschau.de: Die von rechten Gruppen organisierten Proteste haben seit Wochen Zulauf, allein am Tag der Deutschen Einheit waren 100.000 Menschen bundesweit auf der Straße. Welche Rolle spielt die Dauermobilisierung der Jahre zuvor, Stichwort: „Pegida“ und Corona?

Münch: Mobilisierung funktioniert immer gut, indem man die Wut der Wütenden weiter anheizt und kanalisiert. Etwa gegen das Establishment, die politische Elite, die Wirtschaft. Wer auf eine ausgewogenere Wortwahl setzt, wie das Bündnis zum „solidarischen Herbst“ hat es oft schwerer, Massen zu mobilisieren. Polarisierung mobilisiert stärker.

tagesschau.de: Welche Rolle spielen Parteien bei den Protesten?

Münch: Zum „solidarischen Herbst“ rufen nicht die Parteien auf, sondern Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände. Anders bei den sogenannten Montagsdemonstrationen und ähnlichen Protesten in überwiegend ostdeutschen Städten: Da sieht man viele AfD-Plakate, man sieht aber auch die rechtsextremen „Freien Sachsen“. Die AfD hat ganz klar auch ein parteipolitisches Interesse an diesen Protesten. Sie instrumentalisiert die berechtigten Ängste vieler Menschen angesichts der vielen Großkrisen. Die Sorgen der Menschen und das Kalkül der AfD befruchten sich gegenseitig.

Gespaltene Gesellschaft?

tagesschau.de: Teilweise vermischen sich auch die Proteste von ganz rechts und ganz links, die Grenzen scheinen zu verschwimmen. Alice Weidel und Sahra Wagenknecht klingen in ihrer Wortwahl manchmal sehr ähnlich, etwa wenn vom „Wirtschaftskrieg gegen Russland“ die Rede ist.

Münch: Frau Wagenknecht spricht nicht für die Linkspartei. Die Linke versucht sich auch, von Wagenknecht zu distanzieren, weil sie eben nicht zu sehr mit der AfD in einen Topf geworfen werden will. Aber man muss schon genau hinhören, um Unterschiede zu erkennen. Die Linkspartei differenziert stärker mit Blick auf den Verursacher des Krieges. Für die Partei ist es aber ein schmaler Grat. Sie ist in einem politischen Überlebenskampf, in ihren einstigen ostdeutschen Hochburgen schwimmen ihr die Felle davon – und zwar zur AfD.

Teilnehmer einer Demonstration protestieren in Leipzig gegen die Russland-Politik der Bundesregierung, während ein Gegendemonstrant im Vordergrund eine ukrainische Fahne hält. Bild: dpa

tagesschau.de: Immer wieder wird gewarnt vor einer Spaltung der Gesellschaft. Ist da etwas dran?

Münch: Ich halte diese Diagnose für falsch. Ein Teil der Gesellschaft ist sehr wütend und lässt sich daher auch leicht mobilisieren. Aber das ist im Augenblick zumindest ein überschaubarer Personenkreis. Aber es gibt das Interesse, von der Spaltung der Gesellschaft zu sprechen, etwa von AfD oder der Linkspartei. Denn wenn man von einer Spaltung der Gesellschaft spricht und nicht von einer Abspaltung einer Minderheit, suggeriert man Größe. Wir haben es jedoch mit einer lautstarken Minderheit zu tun, die – das bestreite ich nicht – größer werden kann. Und die ein Interesse daran hat, die berechtigten Sorgen ganz vieler Menschen vor weiteren Preissteigerungen zu schüren. Denen geht es nicht darum, sich um die Anliegen der Menschen zu kümmern, sondern die Sorgen zu verbreiten.

tagesschau.de: CDU-Generalsekretär Mario Czaja befürchtet einen „Wutwinter“, Außenministerin Annalena Baerbock warnte in einer bewusst überspitzten Formulierung vor „Volksaufständen“. Es ist also mitnichten nur der politische Rand, der sich hier mit plakativen Begriffen zu Wort meldet.

Münch: Man kann auch vieles herbeireden. Wenn man sich anschaut, wie viele ganz konkrete Entlastungen es inzwischen schon gibt und was noch geplant ist, sollte man diesen gefährlichen Alarmismus sein lassen. Man solle bitte nicht so tun, als ob wir nicht einen funktionierenden Sozialstaat hätten.

In der Ampel ist viel Dissens

tagesschau.de: Die Zufriedenheit mit der Bundesregierung ist aber auf einem Tiefpunkt. Wie kann das sein bei den ganzen Wohltaten?

Münch: Die Ampel-Regierung hat zuletzt ein chaotisches Bild abgegeben. Sie wirkte planlos und handlungsunfähig angesichts der vielen Krisen. Man denke nur an die Gasumlage. Das Hin und Her irritiert viele Menschen und verunsichert zusätzlich. Und jetzt noch das Gezerre um die Atomkraft. Die Unzufriedenheit vieler Menschen ist daher nachvollziehbar.

Doch die Schwächen in der Handlungsfähigkeit des Dreier-Bündnisses kommen nicht von ungefähr: Da regieren drei Partner miteinander, die nicht die politische Nähe zueinander zusammengebracht hat, sondern die politischen Mehrheiten. Zwischen SPD, Grünen und FDP ist viel Dissens, der gerade in diesen unsicheren Zeiten nicht gut ankommt. Wir hatten aber auch noch nie so eine immens herausfordernde Situation – und das unter den Bedingungen einer höchst disparaten Bundesregierung mit drei Partnern. Das entschuldigt nichts, aber es erklärt, warum sich die Ampel so schwer tut.

„Warme Worte reichen nicht“

tagesschau.de: Dennoch bleibt der Eindruck, dass es viele warme Worte des Kanzlers gibt, doch damit allein bekommt niemand im Winter die Wohnung warm. Viele Entlastungen kämen zu spät, etwa der Gaspreisdeckel ab März, beklagt die Opposition. Und auch die Länder fordern mehr Tempo.

Münch: Das stimmt. Die warmen Worte reichen nicht. Aber wenn das Debakel um die Gasumlage eines gezeigt hat, dann: Vorsicht vor schnellen großen Lösungen oder unbürokratischen Hilfen. Auch Entlastungen nach dem Gießkannenprinzip sind wenig sinnvoll. Es geht vielmehr darum, wer das Geld braucht, wer nicht – und wie das Geld zu den richtigen Leuten kommt. Wir haben in der Corona-Krise gesehen, wie schnell mit unbürokratischer Hilfe Missbrauch getrieben werden kann. Ein Instrument wie der Gaspreisdeckel lässt sich daher nicht binnen einer Woche umsetzen. Es ist komplizierter.

Ursula Münch

Prof. Ursula Münch ist seit 2011 Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Sie forscht zur deutschen Parteienlandschaft und war bis vor kurzem Mitglied im Wissenschaftsrat, der die Bundesregierung in Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Hochschulen, der Wissenschaft und der Forschung berät.

Düstere Prognose: Deutschland steuert direkt in die Rezession

Quelle: ARD, Tagesschau 29.9.22

Düstere Prognose: Deutschland steuert direkt in die Rezession

Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen fest mit einer Rezession in Deutschland. Bei einer Gasmangellage droht im laufenden Jahr sogar ein Konjunktureinbruch von 7,9 Prozent.

Die deutsche Wirtschaft befindet sich laut den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten auf direktem Kurs gen Rezession. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird im zu Ende gehenden Sommerquartal, im Herbst und Anfang 2023 jeweils schrumpfen. Das geht aus dem Herbstgutachten der Forscher mit dem Titel „Energiekrise: Inflation, Rezession, Wohlstandsverlust“ hervor.

BIP-Prognose für 2022 nahezu halbiert

Demzufolge dürfte das BIP im dritten Quartal um 0,2 Prozent sinken, Ende 2022 um 0,6 Prozent und im ersten Vierteljahr 2023 um 0,4 Prozent. Ab nächstem Frühjahr dürfte die Wirtschaft dann wieder leicht zulegen. Für das Gesamtjahr 2022 prognostizieren sie nur noch ein kleines Wachstum von 1,4 Prozent. Für 2023 sagen sie einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,4 Prozent vorher, für das Jahr 2024 einen Anstieg um 1,9 Prozent.

Herbstgutachten: Wirtschaftsinstitute erwarten Rezession für Deutschland

Damit bewerten die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute die wirtschaftliche Lage deutlich schlechter als noch im Frühjahr und halbieren nahezu ihre Prognose für 2022. Im April hatten sie noch mit einem Wachstum der deutschen Wirtschaft von 2,7 Prozent im laufenden Jahr und von 3,1 Prozent im kommenden Jahr gerechnet.

Die Frühjahrs- und Herbstgutachten

Die sogenannte Gemeinschaftsdiagnose der Institute wird zweimal im Jahr erstellt, im Frühjahr sowie im Herbst. Sie stammt vom Essener RWI, Münchner ifo, Kieler IfW und dem IWH aus Halle. Das Berliner DIW pausiert derzeit und will 2023 wieder am Gutachten mitarbeiten. Das Papier dient als Grundlage für die Konjunkturprognose der Regierung, die wiederum als Basis für die Aufstellung der Haushalte der öffentlichen Hand gilt.

Gaskrise für Konjunktureinbruch verantwortlich

Der Grund für die Verschlechterung der konjunkturellen Aussichten sind vor allem die reduzierten Gaslieferungen aus Russland. „Der russische Angriff auf die Ukraine und die daraus resultierende Krise auf den Energiemärkten führen zu einem spürbaren Einbruch der deutschen Wirtschaft“, sagt Torsten Schmidt, Konjunkturchef des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Sprecher der Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose.

Mittelfristig dürfte sich die Lage zwar etwas entspannen, dennoch dürften die Gaspreise deutlich über Vorkrisenniveau liegen. Dies bedeute für Deutschland einen permanenten Wohlstandsverlust, so die Forscher.

Drastischer Konjunktureinbruch im Risikoszenario

Die Forscher warnen allerdings, dass ihre neuen Prognosen auf der Annahme beruhen, dass eine Gasmangellage in den Wintermonaten vermieden werden kann. Andernfalls seien gravierende Konsequenzen für die wirtschaftliche Aktivität zu erwarten.

In ihrem Risikoszenario, das unter anderem einen sehr kalten Winter, geringe Gaseinsparungen und eine daraus resultierende Gasmangellage unterstellt, veranschlagen die Forscher für 2023 einen Konjunktureinbruch um 7,9 Prozent. Das wäre deutlich mehr als in der Finanzkrise und im ersten Corona-Jahr 2020. Unter diesen Umständen dürfte das BIP auch 2024 noch um 4,2 Prozent schrumpfen.

Die deutsche Wirtschaft wird den Wirtschaftsinstituten zufolge zunehmend von der Energiepreiskrise und der hohen Inflation belastet. Dies sorgt für einen massiven Kaufkraftverlust der Verbraucher. „Sowohl einkommensschwache Haushalte als auch Unternehmen sind deshalb auf weitere Unterstützung der Politik angewiesen“, betont RWI-Konjunkturchef Schmidt.

Die Inflation wird laut dem Herbstgutachten von 8,4 Prozent im Jahresschnitt 2022 auf 8,8 Prozent im nächsten Jahr klettern. Erst im Jahr 2024 werde die Zwei-Prozent-Marke allmählich wieder erreicht.

Stabiler Arbeitsmarkt als Hoffnungsfaktor

Derweil geht vom Arbeitsmarkt eine stabilisierende Wirkung aus. Zwar dürfte die Nachfrage nach neuen Arbeitskräften angesichts der konjunkturellen Schwächephase zurückgehen, heißt es in dem Herbstgutachten. Die Unternehmen dürften aufgrund des Fachkräftemangels in vielen Bereichen aber bestrebt sein, den vorhandenen Personalbestand zu halten, so dass die Erwerbstätigkeit nur vorübergehend geringfügig sinken dürfte.

Die Wirtschaftsforscher sehen die Arbeitslosenquote im laufenden Jahr bei 5,3 Prozent nach 5,7 Prozent im Vorjahr. 2023 dürfte sie dem Gutachten zufolge leicht ansteigen auf 5,5 Prozent und dann 2024 wieder auf 5,3 Prozent zurückgehen.