Quelle: Der Freitag
Zum Manifest von Schwarzer und Wagenknecht: Friede wird möglich, nur wenn die Waffen ruhen
Ukraine-Krieg Ein „Manifest für Frieden“ haben Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und 68 andere Stimmen aus CSU, SPD, Linker wie Kultur und Wissenschaft veröffentlicht. Unser Autor sieht dieses kritisch, gehört aber dennoch zu den Unterzeichnern
Christian Baron
Wieder einmal gibt es einen Aufruf zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine. Wieder einmal ist Alice Schwarzer eine der Initiatorinnen. Wieder einmal ist zu erwarten, dass die Waffenlieferungsfreunde auf jede Person einprügeln werden, die dem Text zustimmt. Zum ersten Mal bin ich einer der Erstunterzeichner. Ich weiß, was auf mich zukommen kann. Warum ich den Aufruf trotzdem unterstütze, das will ich hier so ausführlich begründen, wie es die Komplexität der Lage erfordert.
Ich finde dieses „Manifest für Frieden“ nicht in allen Teilen gelungen. Zum einen misstraue ich bei jedem Krieg den von jeder Konfliktseite verbreiteten Zahlen. Mir fehlt auch der Satz, dass ganz allein die russische Regierung und die russische Armee schuld sind am Ausbruch dieses Krieges. Vor allem aber der inhaltliche Schwenk gegen Ende des Textes gefällt mir nicht. Um den Schwur des Kanzlers, „Schaden vom deutschen Volk zu wenden“, sollte es in dieser Phase des Krieges nicht gehen, zumindest nicht in der Hauptsache. Nichts ist wichtiger als ein sofortiger Waffenstillstand. Das ist aber zugleich der Grund, warum ich diesen Aufruf unterstütze.
Kontaktschuld? Ohne mich
Die westlichen Mächte sollten endlich ihren Einfluss nutzen, um die beiden Regierungen an den Verhandlungstisch zu zwingen. Leider gibt es von keiner der etablierten politischen Parteien im Deutschen Bundestag aktuell eine echte Initiative in diese Richtung. Darum finde ich es wichtig, dass wir nun außerparlamentarisch Druck erzeugen. Wie ist es nun zu bewerten, dass Alice Schwarzer für den Text mitverantwortlich ist? Als Sozialist habe ich große Probleme mit vielen ihrer politischen Ansichten. Mit denen einiger anderer Erstunterzeichner dieses „Manifests“ übrigens auch. Es sind Leute dabei aus Parteien wie CSU und SPD oder ehemals hochrangige Vertreter der Evangelischen Kirche, denen ich mich politisch nicht nahe fühle. Ebenso ist es mit (ehemaligen) Angehörigen des Militärs. Aber auf den Vorwurf der Kontaktschuld lasse ich mich gar nicht erst ein. Ein breites Bündnis ist in dieser Sache wichtig.
Es fiel mir in den vergangenen zwölf Monaten immer wieder schwer, einen Grundsatz aufrechtzuerhalten: Frieden schaffen ohne Waffen. Dieses Prinzip habe ich zu Beginn meiner Politisierung gelernt, als die USA mit ihrer „Koalition der Willigen“ im Jahr 2003 auf der Grundlage eines Lügengebäudes ihre Invasion im Irak begannen. Ebenso wie damals, so macht mich auch heute dieser durch Russland vom Zaun gebrochene Krieg gegen die Ukraine zornig und traurig. Und doch wäre ich damals wie heute nicht auf die Idee gekommen, deutsche Waffen für die Angegriffenen zu fordern. Ich kann nachvollziehen, dass Menschen der Auffassung sind, mit Putin könne man nicht nur diplomatisch verhandeln. Ich kann aber nicht ausblenden, dass ich einem Tätervolk angehöre. Deutsche Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet sind meiner Ansicht nach – wenn sie überhaupt ethisch vertretbar sind – nur dann erlaubt, wenn die Gefahr einer atomaren Eskalation definitiv ausgeschlossen werden kann. Das ist hier nicht der Fall.
Das Existenzrecht der Ukraine
Das Existenzrecht der Ukraine sollte nicht verhandelbar, eine Kapitulation der Attackierten darf keine Option sein. Ohne Kompromisse wird es aber nicht gehen. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Mehr Waffen verlängern den Krieg und töten noch mehr Menschen. Insbesondere halte ich jeden Hitler-Verweis in dieser Frage für geschichtsvergessen; gerade, wenn Deutsche sich zu solchen Gleichsetzungen hinreißen lassen. Die Nazis sind verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Zuvor und seitdem hat sich nie mehr etwas Ähnliches zugetragen. Deshalb bezeichne ich mich als „pragmatischer Pazifist“: Hitler und sein Regime mussten mit Waffengewalt besiegt werden. Das gilt aber für keinen anderen Krieg, der seitdem auf dieser Welt angezettelt wurde und für kein anderes Regime, das seither an der Macht war. Nicht nur, aber auch wegen der inzwischen leider verbreiteten Arsenale an Atomwaffen. Außerdem gilt: Wenn man auf die eine Wange geschlagen wird, sollte man nicht automatisch auch die andere Wange hinhalten müssen, sondern sich notfalls mit Gewalt wehren können. Das habe ich selbst bereits mehrmals getan. Doch ein Stellvertreterkrieg wie der aktuelle um die Ukraine ist keine Schulhofprügelei.
Ich wünsche mir, dass alle ukrainischen und russischen Flüchtlinge und Deserteure in Deutschland gut und sicher unterkommen. Dass es aktive Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer auf allen Seiten gibt. Dass die humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung keine Frage finanzieller Grenzen ist. Auch deutsche Mitwirkung beim Wiederaufbau wird wichtig sein, wenn dieser Scheißkrieg irgendwann zu Ende sein sollte. Für solche Hilfen finanzieren wir als Gesellschaft mit unseren Steuergeldern diesen Staat. Und es ist auch die Mitverantwortung dieses international machtvollen deutschen Staates, dafür zu sorgen, dass aus der Ukraine kein zweites Syrien wird – mit einem endlos anmutenden Abschlachten und Dahinsiechen, das verharmlosend als „Abnutzungskrieg“ bezeichnet wird. Waffenlieferungen an die Ukraine werden Russland nicht dazu bringen, schneller bzw. mit heruntergeschraubten Forderungen zu Friedensverhandlungen bereit zu sein. Jede Waffenlieferung an die Ukraine ist darum nach jetzigem Stand falsch. Sie wird im „besten“ Fall nichts bewirken und im schlechtesten Fall nur das Leiden verlängern.
Der Hass auf alles Russische
Eine andere Sache, die mich seit einem Jahr sehr erschreckt, ist der offene Hass auf alles Russische, der sogar von Leuten ausgeht, die sich ansonsten gegen Rassismus engagieren. Wie kann es sein, dass es zu pauschalen Boykottaufrufen gegen russische Produkte und Unternehmen kommt? Dass ernsthafte „Debatten“ geführt werden darüber, ob die russische Literatur und Musik noch genießbar sein dürfen? Oder solche, ob „der Russe“ wohl „von Natur aus aggressiver“ sei als andere Völker? Wer denkt sich so etwas Entmenschlichendes aus – und dann auch noch in Deutschland, das 24 Millionen Sowjetbürger im Zweiten Weltkrieg ermordet hat?
Wer Waffenlieferungen befürwortet, ist nicht automatisch ein „Kriegstreiber“. Ich gestehe vielen dieser Leute zu, dass sie sich den Frieden wünschen. Mich zerreißt die Ungewissheit in diesem Konflikt ja auch. Und ich zitiere hier gern zustimmend den Philosophen Olaf Müller, der in seinem Buch Pazifismus. Eine Verteidigung schreibt: „Es ist bitter, aber ich muss es mir eingestehen: Im Ergebnis spreche ich mich dafür aus, die Ukraine militärisch im Stich zu lassen. Dass ich mich mit alledem schuldig mache, ist mir bewusst.“ Wünschenswert wäre es, wenn die Gegenseite dieses Hadern anerkennen könnte, anstatt den Pazifisten immer niedere Motive zu unterstellen. Es mag unter ihnen Leute geben, die den Krieg rechtfertigen. Doch sie sind in der Minderheit, und über politisch legitimierte oder diskursive Macht verfügen sie derzeit auch nicht.
Rheinmetalls Interessen
Das kann man von einigen Waffenlieferungsfreunden nicht behaupten. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die öffentlich behauptet hat, Deutschland und seine Verbündeten würden einen Krieg gegen Russland kämpfen, hat anscheinend kein Interesse an einem Verhandlungsfrieden. Gleiches gilt für eine Politikerin wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und den Rheinmetall-Rüstungskonzern, der im Wahlkreis von Strack-Zimmermann ansässig ist. Im „großen Bild“ verfolgen neben Russland vor allem die USA und China geopolitische Interessen in diesem Konflikt, die bei jeder Bewertung zumindest mitbedacht werden sollten. Und ja, auch die Vorgeschichte des Krieges ist wichtig. Wladimir Putin ist kein antifaschistischer Aktivist, sondern ein gewalttätiger Autokrat. Und die NATO ist kein internationales Awareness-Team zur Wahrung der Menschenrechte, sondern ein aggressives Militärbündnis. Natürlich kann niemand glaubhaft machen, Putin sei keine Wahl geblieben, als die Ukraine zu überfallen. Eine Alternative zum Angriffskrieg gibt es ausnahmslos immer.
Krieg in der Ukraine: Kann man einen Frieden gewinnen?
Ukrainekrieg: Wir Linke entzweien uns, anstatt gemeinsam gegen Aufrüstung zu kämpfen
Gespräch über Krieg und Pazifismus: „Neo-Pragmatismus ist Ultrarelativismus“
Es ist aktuell nicht der wichtigste Aspekt, aber egal ist er auch nicht: Der westliche Wirtschaftskrieg gegen Russland ist krachend gescheitert. Laut dem Internationalen Währungsfonds, der bislang nicht durch anti-westliche Propaganda auffiel, wächst die russische Wirtschaft in diesem Jahr stärker als die deutsche. Russland exportiert mehr Gas und Öl als je zuvor, Staaten wie Saudi-Arabien oder die Türkei haben sich auf den China-Russland-Block zubewegt, während die Krise in den westlichen Ländern sich verschärft. Darunter haben, wie immer im Kapitalismus, in erster Linie die Armen zu leiden. Warum weigern sich die westlichen Staaten, jene russische Kapitalfraktion gezielt zu zerstören, die Putins Macht sichert? Dazu bräuchte es viel mehr Transparenz, wem in Europa welche Vermögenswerte gehören. Weil das auch westeuropäische Superreiche als Steuerhinterzieher und Wirtschaftsverbrecher entlarven würde, lässt die deutsche Regierung die Finger davon. Sie schützt die Reichen und macht die Armen noch ärmer. Aktiv und absichtlich. Warum lassen die „moralisch Guten“ das zu und plädieren zugleich für immer mehr Waffen?
Dieser Satz Daniela Dahns
Nun werden über Twitter und die Leitartikelspalten der Konzernmedienhäuser wieder Beschimpfungsstunden starten gegen die angeblichen „Putlers“, „Putintrolls“, „Wagenknechte“, „Lumpenpazifisten“, „Nazis“, „Kommunisten“, „Kommunistennazis“, „Feiglinge“, „Weicheier“, „Naivlinge“, „Täter-Opfer-Umkehrer“, „nationale Sozialisten“ und „Russlandversteher“. Das ist inzwischen ja leider Routine. An mir werden diese ungerechten Vorhaltungen sicher nicht spurlos vorbeigehen. Aber ich bleibe dabei: Der Frieden kann nur gewonnen werden, wenn die Waffen ruhen und verhandelt wird. Das sieht laut aktuellen Umfragen mindestens die Hälfte der deutschen Bevölkerung auch so. Deren Meinung wird in den panzerfreundlichen Medien leider kaum repräsentiert. Am 25. Februar findet ab 14 Uhr in Berlin am Brandenburger Tor eine Friedenskundgebung statt, bei der hoffentlich sehr viele Menschen ihre Stimme erheben werden gegen deutsche Waffenlieferungen und für einen sofortigen Waffenstillstand mit anschließenden Friedensverhandlungen. Denn es gilt auch hier jener Satz, den die Schriftstellerin Daniela Dahn zum Titel ihres jüngsten Buches gemacht hat: „Im Krieg verlieren auch die Sieger.“
Christian Baron ist Autor des Freitag und hat zuletzt den Roman Schön ist die Nacht veröffentlicht.