ZEIT-Journalist Bernd Ulrich macht den Versuch, die „Krise der Grünen“ zu erklären

Bernd Ulrich stellt in der ZEIT vom 9. März in einem Beitrag auf der Titelseite die These auf: „Die Öko-Par­tei ist in der Kri­se, weil die Ge­sell­schaft die Ver­än­de­rung will – und zu­gleich scheut.“

Er referiert, was CDU/CSU und FDP und einige Medien der Partei vorwerfen und kommt zum Schluss: Die Grü­nen sind nicht in ers­ter Li­nie un­ter Druck, weil sie et­was falsch ma­chen, son­dern weil sie et­was rich­tig ma­chen – …“, bei „dem, was ge­sche­hen muss, da­mit Deutsch­land sei­nen selbst ge­setz­ten Zie­len beim Kli­ma­schutz und beim Er­halt der Ar­ten zu­min­dest na­he­kommt.“

Ulrich befasst sich mit Vorbehalten, mit denen Grüne und entschiedene Verfechter einer konsequenten Klimaschutzpolitik konfrontiert werden: Es gehe „auch oh­ne Ver­bren­ner-Ver­bot, oh­ne Ab­schaf­fung der Öl- und Gas­hei­zun­gen, oh­ne Wind­parks und Strom­tras­sen, oh­ne we­ni­ger Fleisch.“  

Diesen Behauptungen hält er die diskussionswürdige These entgegen:  Keine andere Partei mache sich die Mühe, nachzuweisen, wie es – angesichts der nicht mehr vorhandenen Zeit für eine Klimaschutzpolitik, die niemand weh tut – gehen soll: „Der Wett­be­werb um die bes­ten und schnells­ten We­ge nach Pa­ris (Kli­ma­ab­kom­men) und Mont­re­al (Ar­ten­schutz­ab­kom­men) und neu­er­dings New York (Hoch­see­ab­kom­men) fin­det schlicht nicht statt.“

Nach der Deutung dessen, was die Grünen richtig und die anderen Parteien (und die Gesellschaft) falsch machen, beschreibt er „zwei Stan­dard­feh­ler im Um­gang mit ei­ner zö­ger­li­chen Ge­sell­schaft in schnel­len Kri­sen“, die er bei den Grünen diagnostiziert:

Standardfehler 1: „Die so­ge­nann­ten Rea­los re­agie­ren auf öf­fent­li­chen Druck zu­meist mit Ab­stri­chen bei den ei­ge­nen For­de­run­gen un­ter Ab­sin­gen schmut­zi­ger Lie­der über in­ner­par­tei­li­che und au­ßer­par­la­men­ta­ri­sche Lin­ke.“  Dieser Weg – so Ulrich – führe in der Ökologie ins Nichts. Begründung: „Die grü­nen Zu­mu­tun­gen kom­men hier aus den Sach­zwän­gen selbst, ei­ne all­zu be­kömm­li­che Po­li­tik führt un­wei­ger­lich da­zu, dass die Kli­ma­zie­le spek­ta­ku­lär ver­fehlt wer­den.“ Die Erklärung, die Ulrich für die grünen „Abstriche an den eigenen Forderungen“ (Fehler 1) anbietet, überzeugt allerdings überhaupt nicht. Ulrich meint, die Realos bei den Grünen schämten sich für die Radikalität, „die aus den ökologischen Notwendigkeiten erwächst“.

Den Standardfehler 2 machen seiner Auffassung nach „die Lin­ken bei den Grü­nen“ (meint er damit die UGL, die Unabhängige Grüne Linke bei Bündnis 90/Die Grünen https://gruene-linke.de/ueber-uns/ ). Diese „Linken bei den Grünen“ wollen angeblich die „die Ra­di­ka­li­tät aus der öko­lo­gi­schen Sa­che noch mit al­ler­lei Ra­di­ka­li­tä­ten aus Ge­sin­nung (Ent­eig­nung von Woh­nungs­be­sit­zern, Mö­blie­rung der Fried­rich­stra­ße) top­pen.“  So entstünde „ein Mi­lieu-Sound, der selbst in Ber­lin mit ei­ner de­sas­trö­sen SPD nur für küm­mer­li­che acht­zehn Pro­zent reich­te.“

Zur „Enteignung von Wohnungsbesitzern“: Mit dem Begriff „Radikalitäten aus Gesinnung“  entwertet Ulrich den Volksentscheid für ein „Gesetz zur Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Wohnungsunternehmen“ als „Gesinnungspolitik.“ Dafür waren 59,1 Prozent der Stimmen der Berliner Wahlberechtigten parallel zur Senatswahl 2021 abgegeben worden, 40,9 Prozent stimmt dagegen.

Mit der abschätzigen Formulierung „Möblierung der Friedrichstraße“ bezeichnet Bernd Ulrich den Versuch der grünen Verkehrssenatorin Bettina Jarasch, zusammen mit Baustadträtin Almut Neumann (Grüne) Berlins historische Mitte fuß­gän­ge­r­freund­li­cher zu gestalten. Die Friedrichstraße zwischen Französischer Straße und Leipziger Straße soll komplett und dauerhaft für den Autoverkehr gesperrt werden. „Damit kann und wird es eine deutliche Steigerung der Aufenthaltsqualität geben: bessere Luft, weniger Unfälle, mehr Raum für Fußgänger“, begründete Jarasch die Maßnahme. Am 30. Januar sollten einwöchige Bauarbeiten beginnen, etwa um Sitzgelegenheiten aufzustellen, die im Sommer begrünt werden. Für Ulrich ist auch das „Radikalität aus Gesinnung“.

Friede wird nur möglich, wenn die Waffen ruhen – zum „Manifest für den Frieden“

Quelle: Der Freitag

Zum Manifest von Schwarzer und Wagenknecht: Friede wird möglich, nur wenn die Waffen ruhen

Ukraine-Krieg Ein „Manifest für Frieden“ haben Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und 68 andere Stimmen aus CSU, SPD, Linker wie Kultur und Wissenschaft veröffentlicht. Unser Autor sieht dieses kritisch, gehört aber dennoch zu den Unterzeichnern

Christian Baron

Wieder einmal gibt es einen Aufruf zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine. Wieder einmal ist Alice Schwarzer eine der Initiatorinnen. Wieder einmal ist zu erwarten, dass die Waffenlieferungsfreunde auf jede Person einprügeln werden, die dem Text zustimmt. Zum ersten Mal bin ich einer der Erstunterzeichner. Ich weiß, was auf mich zukommen kann. Warum ich den Aufruf trotzdem unterstütze, das will ich hier so ausführlich begründen, wie es die Komplexität der Lage erfordert.

Ich finde dieses „Manifest für Frieden“ nicht in allen Teilen gelungen. Zum einen misstraue ich bei jedem Krieg den von jeder Konfliktseite verbreiteten Zahlen. Mir fehlt auch der Satz, dass ganz allein die russische Regierung und die russische Armee schuld sind am Ausbruch dieses Krieges. Vor allem aber der inhaltliche Schwenk gegen Ende des Textes gefällt mir nicht. Um den Schwur des Kanzlers, „Schaden vom deutschen Volk zu wenden“, sollte es in dieser Phase des Krieges nicht gehen, zumindest nicht in der Hauptsache. Nichts ist wichtiger als ein sofortiger Waffenstillstand. Das ist aber zugleich der Grund, warum ich diesen Aufruf unterstütze.

Kontaktschuld? Ohne mich

Die westlichen Mächte sollten endlich ihren Einfluss nutzen, um die beiden Regierungen an den Verhandlungstisch zu zwingen. Leider gibt es von keiner der etablierten politischen Parteien im Deutschen Bundestag aktuell eine echte Initiative in diese Richtung. Darum finde ich es wichtig, dass wir nun außerparlamentarisch Druck erzeugen. Wie ist es nun zu bewerten, dass Alice Schwarzer für den Text mitverantwortlich ist? Als Sozialist habe ich große Probleme mit vielen ihrer politischen Ansichten. Mit denen einiger anderer Erstunterzeichner dieses „Manifests“ übrigens auch. Es sind Leute dabei aus Parteien wie CSU und SPD oder ehemals hochrangige Vertreter der Evangelischen Kirche, denen ich mich politisch nicht nahe fühle. Ebenso ist es mit (ehemaligen) Angehörigen des Militärs. Aber auf den Vorwurf der Kontaktschuld lasse ich mich gar nicht erst ein. Ein breites Bündnis ist in dieser Sache wichtig.

Es fiel mir in den vergangenen zwölf Monaten immer wieder schwer, einen Grundsatz aufrechtzuerhalten: Frieden schaffen ohne Waffen. Dieses Prinzip habe ich zu Beginn meiner Politisierung gelernt, als die USA mit ihrer „Koalition der Willigen“ im Jahr 2003 auf der Grundlage eines Lügengebäudes ihre Invasion im Irak begannen. Ebenso wie damals, so macht mich auch heute dieser durch Russland vom Zaun gebrochene Krieg gegen die Ukraine zornig und traurig. Und doch wäre ich damals wie heute nicht auf die Idee gekommen, deutsche Waffen für die Angegriffenen zu fordern. Ich kann nachvollziehen, dass Menschen der Auffassung sind, mit Putin könne man nicht nur diplomatisch verhandeln. Ich kann aber nicht ausblenden, dass ich einem Tätervolk angehöre. Deutsche Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet sind meiner Ansicht nach – wenn sie überhaupt ethisch vertretbar sind – nur dann erlaubt, wenn die Gefahr einer atomaren Eskalation definitiv ausgeschlossen werden kann. Das ist hier nicht der Fall.

Das Existenzrecht der Ukraine

Das Existenzrecht der Ukraine sollte nicht verhandelbar, eine Kapitulation der Attackierten darf keine Option sein. Ohne Kompromisse wird es aber nicht gehen. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Mehr Waffen verlängern den Krieg und töten noch mehr Menschen. Insbesondere halte ich jeden Hitler-Verweis in dieser Frage für geschichtsvergessen; gerade, wenn Deutsche sich zu solchen Gleichsetzungen hinreißen lassen. Die Nazis sind verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Zuvor und seitdem hat sich nie mehr etwas Ähnliches zugetragen. Deshalb bezeichne ich mich als „pragmatischer Pazifist“: Hitler und sein Regime mussten mit Waffengewalt besiegt werden. Das gilt aber für keinen anderen Krieg, der seitdem auf dieser Welt angezettelt wurde und für kein anderes Regime, das seither an der Macht war. Nicht nur, aber auch wegen der inzwischen leider verbreiteten Arsenale an Atomwaffen. Außerdem gilt: Wenn man auf die eine Wange geschlagen wird, sollte man nicht automatisch auch die andere Wange hinhalten müssen, sondern sich notfalls mit Gewalt wehren können. Das habe ich selbst bereits mehrmals getan. Doch ein Stellvertreterkrieg wie der aktuelle um die Ukraine ist keine Schulhofprügelei.

Ich wünsche mir, dass alle ukrainischen und russischen Flüchtlinge und Deserteure in Deutschland gut und sicher unterkommen. Dass es aktive Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer auf allen Seiten gibt. Dass die humanitäre Hilfe für die ukrainische Bevölkerung keine Frage finanzieller Grenzen ist. Auch deutsche Mitwirkung beim Wiederaufbau wird wichtig sein, wenn dieser Scheißkrieg irgendwann zu Ende sein sollte. Für solche Hilfen finanzieren wir als Gesellschaft mit unseren Steuergeldern diesen Staat. Und es ist auch die Mitverantwortung dieses international machtvollen deutschen Staates, dafür zu sorgen, dass aus der Ukraine kein zweites Syrien wird – mit einem endlos anmutenden Abschlachten und Dahinsiechen, das verharmlosend als „Abnutzungskrieg“ bezeichnet wird. Waffenlieferungen an die Ukraine werden Russland nicht dazu bringen, schneller bzw. mit heruntergeschraubten Forderungen zu Friedensverhandlungen bereit zu sein. Jede Waffenlieferung an die Ukraine ist darum nach jetzigem Stand falsch. Sie wird im „besten“ Fall nichts bewirken und im schlechtesten Fall nur das Leiden verlängern.

Der Hass auf alles Russische

Eine andere Sache, die mich seit einem Jahr sehr erschreckt, ist der offene Hass auf alles Russische, der sogar von Leuten ausgeht, die sich ansonsten gegen Rassismus engagieren. Wie kann es sein, dass es zu pauschalen Boykottaufrufen gegen russische Produkte und Unternehmen kommt? Dass ernsthafte „Debatten“ geführt werden darüber, ob die russische Literatur und Musik noch genießbar sein dürfen? Oder solche, ob „der Russe“ wohl „von Natur aus aggressiver“ sei als andere Völker? Wer denkt sich so etwas Entmenschlichendes aus – und dann auch noch in Deutschland, das 24 Millionen Sowjetbürger im Zweiten Weltkrieg ermordet hat?

Wer Waffenlieferungen befürwortet, ist nicht automatisch ein „Kriegstreiber“. Ich gestehe vielen dieser Leute zu, dass sie sich den Frieden wünschen. Mich zerreißt die Ungewissheit in diesem Konflikt ja auch. Und ich zitiere hier gern zustimmend den Philosophen Olaf Müller, der in seinem Buch Pazifismus. Eine Verteidigung schreibt: „Es ist bitter, aber ich muss es mir eingestehen: Im Ergebnis spreche ich mich dafür aus, die Ukraine militärisch im Stich zu lassen. Dass ich mich mit alledem schuldig mache, ist mir bewusst.“ Wünschenswert wäre es, wenn die Gegenseite dieses Hadern anerkennen könnte, anstatt den Pazifisten immer niedere Motive zu unterstellen. Es mag unter ihnen Leute geben, die den Krieg rechtfertigen. Doch sie sind in der Minderheit, und über politisch legitimierte oder diskursive Macht verfügen sie derzeit auch nicht.

Rheinmetalls Interessen

Das kann man von einigen Waffenlieferungsfreunden nicht behaupten. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die öffentlich behauptet hat, Deutschland und seine Verbündeten würden einen Krieg gegen Russland kämpfen, hat anscheinend kein Interesse an einem Verhandlungsfrieden. Gleiches gilt für eine Politikerin wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und den Rheinmetall-Rüstungskonzern, der im Wahlkreis von Strack-Zimmermann ansässig ist. Im „großen Bild“ verfolgen neben Russland vor allem die USA und China geopolitische Interessen in diesem Konflikt, die bei jeder Bewertung zumindest mitbedacht werden sollten. Und ja, auch die Vorgeschichte des Krieges ist wichtig. Wladimir Putin ist kein antifaschistischer Aktivist, sondern ein gewalttätiger Autokrat. Und die NATO ist kein internationales Awareness-Team zur Wahrung der Menschenrechte, sondern ein aggressives Militärbündnis. Natürlich kann niemand glaubhaft machen, Putin sei keine Wahl geblieben, als die Ukraine zu überfallen. Eine Alternative zum Angriffskrieg gibt es ausnahmslos immer.

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Es ist aktuell nicht der wichtigste Aspekt, aber egal ist er auch nicht: Der westliche Wirtschaftskrieg gegen Russland ist krachend gescheitert. Laut dem Internationalen Währungsfonds, der bislang nicht durch anti-westliche Propaganda auffiel, wächst die russische Wirtschaft in diesem Jahr stärker als die deutsche. Russland exportiert mehr Gas und Öl als je zuvor, Staaten wie Saudi-Arabien oder die Türkei haben sich auf den China-Russland-Block zubewegt, während die Krise in den westlichen Ländern sich verschärft. Darunter haben, wie immer im Kapitalismus, in erster Linie die Armen zu leiden. Warum weigern sich die westlichen Staaten, jene russische Kapitalfraktion gezielt zu zerstören, die Putins Macht sichert? Dazu bräuchte es viel mehr Transparenz, wem in Europa welche Vermögenswerte gehören. Weil das auch westeuropäische Superreiche als Steuerhinterzieher und Wirtschaftsverbrecher entlarven würde, lässt die deutsche Regierung die Finger davon. Sie schützt die Reichen und macht die Armen noch ärmer. Aktiv und absichtlich. Warum lassen die „moralisch Guten“ das zu und plädieren zugleich für immer mehr Waffen?

Dieser Satz Daniela Dahns

Nun werden über Twitter und die Leitartikelspalten der Konzernmedienhäuser wieder Beschimpfungsstunden starten gegen die angeblichen „Putlers“, „Putintrolls“, „Wagenknechte“, „Lumpenpazifisten“, „Nazis“, „Kommunisten“, „Kommunistennazis“, „Feiglinge“, „Weicheier“, „Naivlinge“, „Täter-Opfer-Umkehrer“, „nationale Sozialisten“ und „Russlandversteher“. Das ist inzwischen ja leider Routine. An mir werden diese ungerechten Vorhaltungen sicher nicht spurlos vorbeigehen. Aber ich bleibe dabei: Der Frieden kann nur gewonnen werden, wenn die Waffen ruhen und verhandelt wird. Das sieht laut aktuellen Umfragen mindestens die Hälfte der deutschen Bevölkerung auch so. Deren Meinung wird in den panzerfreundlichen Medien leider kaum repräsentiert. Am 25. Februar findet ab 14 Uhr in Berlin am Brandenburger Tor eine Friedenskundgebung statt, bei der hoffentlich sehr viele Menschen ihre Stimme erheben werden gegen deutsche Waffenlieferungen und für einen sofortigen Waffenstillstand mit anschließenden Friedensverhandlungen. Denn es gilt auch hier jener Satz, den die Schriftstellerin Daniela Dahn zum Titel ihres jüngsten Buches gemacht hat: „Im Krieg verlieren auch die Sieger.“

Christian Baron ist Autor des Freitag und hat zuletzt den Roman Schön ist die Nacht veröffentlicht.

Der kritische Agrarbericht 2023: Landwirtschaft und Ernährung für eine Welt im Umbruch

„Landwirtschaft & Ernährung für eine Welt im Umbruch“, so lautet der Themenschwerpunkt des neuen kritischen Agrarberichts, der wie kein anderes Buch jährlich die aktuellen Herausforderungen des Agrar- und Ernährungssystems zusammenfasst, Lösungsansätze aufzeigt und Forderungen an die Politik formuliert.

Der aktuelle kritische Agrarbericht zeigt deutlich, dass sich die diversen Krisen der vergangenen Jahre aufsummieren und ein echter Umbruch in der Landwirtschaft wichtiger denn je ist. Ideen, wie dieser Umbruch aussehen kann, finden sich in den vielfältigen Artikeln. Online können Sie die Texte aus dem kritischen Agrarbericht hier aufrufen.

Die Zukunftsstiftung Landwirtschaft fördert das Erscheinen des Kritischen Agrarberichts seit dem Jahr 2000.

Michael Lüders: „In Deutschland gibt es mittlerweile kaum noch eine Debattenkultur“

https://www.telepolis.de/features/In-Deutschland-gibt-es-mittlerweile-kaum-noch-eine-Debattenkultur-7485184.html?seite=all

„In Deutschland gibt es mittlerweile kaum noch eine Debattenkultur“

  1. Februar 2023  Thomas Barth

Michael Lüders, auf der Leipziger Buchmesse 2017. Foto: Amrei-Marie/ CC BY-SA 4.0

Über den gegenwärtig schweren Stand von Nonkonformisten, die Moralisierung in Politik und Medien und „Feindbegünstigung“: Michael Lüders im Interview.

Michael Lüders ist Politik- und Islamwissenschaftler. Der Öffentlichkeit ist er als Publizist bekannt, der die Politik des Westens in Nahost kritisch analysiert. Lüders Bücher erzielen hohe Auflagen. Seine Kritik ist gegen den Konsens gebürstet. Was 2017 im Fall seiner Einlassungen zu Syrien zu Reaktionen führte, die ihm die Expertise absprachen und ihm eine unkorrekte Parteilichkeit vorhielten.

„Seine Positionen und seine Anwesenheit in öffentlich-rechtlichen Talkshows lösen seit kurzem heftige Kontroversen aus“, schrieb damals Stefan Niggemeier, der selbst kein Nahost-Experte ist, sondern lediglich Medienkritiker und der Lüders damals mit krassen Etiketten („Scharlatan“) attackierte. Ein halbes Jahrzehnt später gilt: Auch die Positionen Lüders zum Ukraine-Krieg und dessen Implikationen lösen Kontroversen aus. Aber seine Stimme ist weniger vernehmbar. Es entsteht der Eindruck, dass Medien, insbesondere öffentlich-rechtliche Sender, auf Abstand zu ihm gegangen sind. Telepolis hat bei ihm nachgefragt.

Führte das Prädikat „umstritten“, das Ihnen 2017 zuteil wurde, Ihre vermehrte Medienkritik, zu Ihrer tendenziellen Entfernung aus der TV-Landschaft? Wie gelang es, den Nahost-Experten trotz seiner – mit Bestsellern ausgewiesenen – Beliebtheit beim Publikum, derart auf Abstand zur Debatte zu bringen?

 Michael Lüders: In Deutschland gibt es mittlerweile kaum noch eine Debattenkultur. Das hat verschiedene Ursachen, darunter eine hochgradige Moralisierung in Politik und Medien.

Man schaue auf die Berichterstattung im Ukraine-Krieg: Wer sich etwa kritisch zu mehr und immer mehr Waffenlieferungen an die Ukraine äußert oder russische Motive für den ebenso falschen wie völkerrechtswidrigen Angriff auch nur zu erklären sucht (ohne sie gutzuheißen), riskiert seinen Ruf, seine Karriere, gilt fast schon zwangsläufig als Putin-Propagandist. Sogar das Eintreten für Friedensverhandlungen steht im Ruch dessen, was zu früheren Zeiten wohl in die Kategorie „Defätismus“, wenn nicht Landesverrat gefallen wäre. Diese Gleichförmigkeit ist insoweit erstaunlich, als es in Deutschland bekanntlich kein Wahrheitsministerium gibt.10 / 00:21

Offenbar haben aber nicht zuletzt die sehr gut aufgestellten transatlantischen Netzwerke, deren Einfluss auf Politik und Medien gar nicht hoch genug einzuschätzen ist, gute Vorarbeit geleistet. Wer den immer enger gesetzten Leitplanken dessen, was etwa in meinungsprägenden Talkshows gerade noch gesagt werden darf, nicht entspricht, riskiert seine Exkommunizierung durch die Leitmedien.

Mir ist das widerfahren im Zuge des Syrien-Krieges, als ich auf die geostrategischen Interessen westlicher Akteure hingewiesen habe. Das aber widersprach dem offiziellen Narrativ: Wir handeln gut und werteorientiert, indem wir die „Opposition“ unterstützen – ungeachtet der Tatsache, dass die überwiegend aus dem Umfeld radikaler Islamisten bestand.

Wer wollte das hören? Wir sind doch wie immer die Guten im Kampf gegen das Böse gewesen, also gegen Assad und Putin. Jede Differenzierung gilt offenbar als „Feindbegünstigung“.

Gegenwärtig triff das vor allem den überaus sachkundigen Russland-Experten und Hochschullehrer Johannes Varwick, der ebenfalls den „Fehler“ beging, differenzierende Standpunkte zu vertreten und damit dem vorherrschenden Gut/Böse-Schema nicht entsprach. Gilt es missliebige Personen mit einem gewissen Bekanntheitsgrad aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, so gibt es dafür zwei bewährte Mittel. Entweder die betreffende Person wird ignoriert, ihre Publikationen ebenso wie ihre Meinungsäußerungen. Die Medien sortieren ihn entsprechend als Experten oder Gesprächspartner aus. Das ist die vergleichsweise gemäßigte Variante. Die deutlich brutalere ist der wohlinszenierte und über längere Zeit andauernde Shitstorm, mit dem Ziel, die unliebsame Person einer „character assassination“ zu unterziehen. Gabriele Krone-Schmalz oder Ulrike Guérot könnten davon sicherlich ein Lied singen.

 Was hat Sie motiviert, sich in Ihrem Buch Scheinheilige Supermacht erstmals (?) näher mit Medien und Propaganda zu befassen?

 Michael Lüders: Medien prägen die öffentliche Wahrnehmung. Doch selten denken ihre Nutzer darüber nach, welche Perspektiven Medien einnehmen, welchen Interessen sie folgen.

Die Annahme, Medien seien eine „vierte Staatsgewalt“, die den Mächtigen und Regierungen dieser Welt kritisch auf die Finger schaut, erweist sich zunehmend als Illusion – ungeachtet der Redlichkeit einer kleiner werdenden Zahl von Journalisten, die sich weiterhin der Aufklärung verpflichtet wissen.

Welche Fragen brachten Sie auf eine Beschäftigung mit den Propaganda-Theoretikern Lippmann & Bernays sowie mit den Propaganda-Kritikern Chomsky & Herman?

 Michael Lüders: Wie funktionieren Medien unter den Bedingungen der Marktwirtschaft? Welche Mechanismen wirken im Kontext von Framing oder auch „betreutem Denken“? Wie gelingt es den Leitmedien, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung in ihren Haltungen und Einstellungen nicht allzu sehr von dem entfernt, was Regierende für richtig oder geboten halten?

Wie funktioniert das Wechselspiel von „Öffentlichkeitsarbeit“ und Propaganda? Wer diese Fragen ernsthaft zu beantworten sucht, kommt um die Wiederentdeckung etwa von Edward Bernays oder Walter Lippmann nicht herum. Sie haben schon vor rund 100 Jahren die entsprechenden Mechanismen umschrieben, die sich bis heute im Grundsatz nicht verändert, wenngleich „verfeinert“ haben.

Upton Sinclair sagt in „The Brass Check: A Study of American Journalism“, was Kritikern des US-Establishments in der US-Presse geschah (siehe: Sinclairs Kritik an der miesen Qualität vieler US-Medien) : Sie wurden „blacklisted, boycotted and put out of business“. Sehen Sie ähnliche Reaktionen auf Ihre kritischen Analysen auch heute noch?

 Michael Lüders: Wer sich nicht lenken lassen mag, zahlt seinen Preis. Nonkonformisten haben gegenwärtig einen schweren Stand. Aber das muss nicht so bleiben. In jedem Land gibt es genügend kritische Menschen, die sich zu engagieren beginnen. Angefangen damit, offiziellen Verlautbarungen mit Vorsicht zu begegnen.

Vorträge von Michael Lüders finden sich hier. Als Bücher sind u.a. erschienen:

Die scheinheilige Supermacht: Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen, C.H. Beck, 2021.

Hybris am Hindukusch: Wie der Westen in Afghanistan scheiterte, C.H. Beck, 2022.

Wer den Wind sät: Was westliche Politik im Orient anrichtet, C.H. Beck, 2021.