Ulrich Schmid | 100 Jahre Einsamkeit – Russland seit 1917 (NZZ Standpunkte 2017) – 9.643 Aufrufe – 02.10.2017 NZZ Standpunkte –
„Die russische Oktoberrevolution von 1917 gehört zu den wichtigsten politischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Aus dem Staatsstreich einer radikalen linken Avantgarde entwickelte sich ein totalitäres Macht- und Gewaltsystem, das die Welt jahrzehntelang in Atem hielt. Mit dem Sturz der Sowjetunion 1991 schien der Spuk ein Ende zu haben. Doch zerschlugen sich unter Putin die Hoffnungen auf Eintracht in einem gemeinsamen europäischen Haus.
Mit dem St. Galler Slawisten und Russlandkenner Prof. Dr. Ulrich Schmid unterhalten sich NZZ Chefredaktor Eric Gujer und die Politikphilosophin Katja Gentinetta über die Oktoberrevolution und ihre Folgen bis heute.“
Sendung vom 23.9.2017
Ulrich Schmid: Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015.
Gekürzte Rezension, Quelle: Blog Litteratur.ch
Schmid analysiert den – vor allem seit der Krimannexion – neuen Traum vom russischen Imperium anhand der künstlerischen Aktivitäten in den unterschiedlichsten Medien (bis hin zum Computerspiel) und zeigt die sich mehr und mehr verstärkenden Versuche einer Gleichschaltung der öffentlichen Meinung. Und Putin trifft in diesem seinem Großmachtstreben offenbar den Nerv des russischen Bürgers, der über den Verlust seines Weltmachtstatus noch nicht hinweggekommen ist. …
Was sich anfangs sehr gut und eingängig liest (Schmid untersucht die Funktion der “Wahrheit” in totalitären Systemen und insbesondere den durch das Sowjetsystem geprägten Zugang Russlands), verkommt allerdings mit Fortdauer des Buches zu einer wenig erquicklichen Aufzählung der verschiedensten kulturellen Aktivitäten, die sich für oder gegen das herrschende Regime stellen, ohne dass deren tatsächliche Relevanz und Einfluss genauer dargestellt werden.
Schmid erzählt seitenlang den Inhalt belletristischer Werke (es ist die schiere Menge, die dabei ermüdet) …Trotzdem bekommt man einen Eindruck dieses für die meisten im Westen nicht wirklich fassbaren Landes: Der Traum von einem neuen Imperium resultiert nicht unwesentlich aus dem nie aufgearbeiteten Untergang des Sowjetreiches, der eine Art Minderwertigkeitsgefühl zurückgelassen hat. Genau dieses Gefühl in einem nationalistischen Großmachttraum zu bündeln ist Putin – vor allem durch Krim-Annexion und den Ukrainekonflikt – hervorragend gelungen.
Eine der wenigen im Buch referierten Zahlen einer Umfrage dokumentiert dies: 80 % der Russen würden einer solchen Großmachtphantasie auch persönliche (wirtschaftliche) Opfer bringen, das imaginierte Imperium ist wichtiger als der Lebensstandard. Humanistische Ideale haben wenig Platz: Sie gelten als Zeichen der Schwäche, als dekadent – und man hat den Eindruck, als ob Russland eine archaisch-nationalistische und pubertär anmutende Entwicklung nachzuholen sich anschickt.
Worüber man lachen könnte, wenn dies nicht einerseits ein höchst gefährliches Spiel wäre und wenn diese Dummheiten nicht auch in fast allen westlichen Ländern wieder Fuß zu fassen begännen (make America great again – Deutschland den Deutschen usf.). Es ist dieses im Grunde primitive, antizivilisatorische Denken, das etwa in Österreich die Rechtspartei veranlasst, Verständnis für das russische Tun zu äußern; ein überwunden geglaubtes Denken, das sein unheilvolles Potential im 20. Jahrhundert mehrfach entfaltete. Und das zumindest kurzfristig …wieder salonfähig geworden zu sein scheint. Insofern ist das Buch denn auch lesenswert: Es erlaubt einen Einblick in jene nationalistische Seele, die man schon auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgt glaubte.