Quelle: A&W-Blog Juli 2022 – Michael Soder
Addicted! Wie strategische Abhängigkeiten den Umbau der europäischen Wirtschaft bedrohen
Pandemie, Krieg, Klimakrise: Die globalen Krisen rücken die Frage der Versorgungssicherheit ins Zentrum der politischen Diskussion. Zusammenbrechende Lieferketten, wachsende Unsicherheit und unabwägbare Preisentwicklungen erzeugen Spannungen und vertiefen die Ungleichheit in Wirtschaft und Gesellschaft. Denn sie treffen auf wirtschaftliche Strukturen, die massiv vom internationalen Fluss von Rohstoffen (z. B. Öl, Gas, seltene Erden) und Komponenten (z. B. Halbleiter, Chips, pharmazeutische Stoffe) abhängig sind. Das gilt nicht nur für die Wirtschaft von heute. Solche Abhängigkeiten könnten auch den benötigen Umbau hin zu einer nachhaltigen, CO2-freien und digitalen Ökonomie des 21. Jahrhunderts gefährden. Europa steht somit vor der großen Herausforderung, wirtschaftliche Abhängigkeiten langfristig zu reduzieren und die Versorgungssicherheit aufrechtzuerhalten.
Analyse der strategischen Abhängigkeiten Europas
Eines konnten wir aus dem Zusammenbrechen internationaler Lieferketten durch Pandemie und Krieg lernen: Die EU-Mitgliedstaaten sind strategisch von wichtigen Wertschöpfungs- und Lieferketten abhängig. Bereits kleinere Ausfälle oder Verzögerungen im Material- und Produktfluss können zu Engpässen, steigenden Preisen oder gar Produktionsstopps führen – mit entsprechenden Auswirkungen auf Wertschöpfung und Beschäftigung. Aus diesem Grund analysierte die EU-Kommission die Krisenanfälligkeit von 5.000 Produktionsvorgängen in Europa. Ihr Ergebnis: 137 Produkte sind sehr anfällig für Kapazitäts- und Lieferengpässe. Das bedeutet eine Gefahr für die europäischen industriellen Ökosysteme, die von Vorprodukten und Rohstoffen besonders aus China, Vietnam und Brasilien abhängig sind. Der Umbau hin zu einem CO2-freien und digitalen Europa erfordert jedoch einen stabilen und nachhaltigen Zugang zu Rohstoffen und Vorprodukten. Besonders starke Abhängigkeiten von Drittstaaten bestehen in der Produktion von erneuerbaren Energien, E-Mobilität, Elektronikkomponenten und ICT-Technologien.
Die Europäische Union erkennt den Handlungsbedarf
Anhand dieser Analyseergebnisse wird deutlich, dass Europa rasch Antworten auf die bestehenden strategischen Abhängigkeiten finden muss. Die Europäische Union versucht daher, internationale Partnerschaften weiter auszubauen, um die Lieferketten zu verbreitern und widerständiger zu machen. Die Suche nach alternativen Bezugsquellen für Erdgas ist dabei das drängendste und momentan prominenteste Beispiel.
Bestehende Industrie-Allianzen (Important Projects of Common European Interest, IPCEIs) zu Rohstoffen, Batterien und Wasserstoff sollen stärker vorangetrieben werden. Darüber hinaus sind neue Industriekooperationen zu Halbleitern und Cloud-Technologien in Planung. Sie sollen helfen, den europäischen Investitionsbedarf zu ermitteln und die Umsetzung konkreter Industrieprojekte zu unterstützen. Darüber hinaus sollen sie Innovation anregen sowie das Zusammenspiel zwischen öffentlichen und privaten Mitteln verbessern. Übergeordnete Ziele dieser europäischen Förderung sind die Substitution von Rohstoffen und Produkten, bei denen Abhängigkeiten bestehen, und der Ausbau von eigenen Produktionskapazitäten innerhalb der Europäischen Union.
The Power of the Sun: strategische Abhängigkeiten am Beispiel Photovoltaik
Die aktuelle Energiekrise und die dramatischen Preissteigerungen zeigen die Bedeutung des Zugangs zu leistbarer Energie besonders deutlich. Ohne ihn ist die Teilhabe am modernen gesellschaftlichen Leben gefährdet. Um strategische Abhängigkeiten zu reduzieren, Energie leistbar zugänglich zu machen und vor allem im Sinne des Erhalts der Lebensgrundlagen auf eine nachhaltige Basis zu stellen, braucht es daher dringender denn je eine umfassende Energiewende. Der Ausbau der erneuerbaren Energien leistet dabei gleich zweierlei: Er macht Europa langfristig von fossilen Energieträgern aus Drittstaaten unabhängiger und stellt gleichzeitig die benötigten nachhaltig erzeugten Energiemengen für den notwendigen Ausstieg aus fossilen Energien bereit.
Dem raschen Ausbau von erneuerbaren Energien und der umfassenden Förderung von Energieeffizienzmaßnahmen muss politisch hohe Priorität eingeräumt werden. Wirft man jedoch einen Blick auf die bestehenden strategischen Abhängigkeiten für die Erzeugung von Sonnenenergie als besonders wichtige nachhaltige Energiequelle, wird ein weiterer politischer Handlungsbedarf eindeutig klar. Denn Europa ist strukturell nur in den nachgelagerten Segmenten der Wertschöpfungskette „Photovoltaik“ stark aufgestellt. Europäische Unternehmen sind in den Bereichen Überwachung und Steuerung sowie Systembilanz weltweit führend. Gleichzeitig bestehen erhebliche strategische Abhängigkeiten in den vorgelagerten Fertigungssegmenten. Europäische Unternehmen produzieren nur 1 Prozent der weltweit hergestellten Solarwafer, 0,4 Prozent der Solarzellen und 2 bis 3 Prozent der Solarmodule. Im Gegensatz zu Europa ist China in allen Teilen der Wertschöpfungskette führend.
Die EU-Kommission stellte nun fest, dass die Solarbranche möglicherweise nicht mehr in der Lage ist, durch Diversifikation Risiken zu mindern oder flexibel auf sie zu reagieren. Das Gleiche gilt auch für Rohstoffe, welche in die Wertschöpfungskette einfließen. Die starken strategischen Abhängigkeiten stellen damit ein enormes Risiko für die Europäische Union dar und könnten den raschen Ausbau von Sonnenenergie behindern.
You Spin me round, round – Kreislaufwirtschaft in Europa
Die vielfältigen Abhängigkeiten entlang der gesamten Wertschöpfungskette zeigen leider, dass eine reine Diversifikation nicht ausreichen wird, um die Europäische Union sicher mit Rohstoffen, Gütern und Produkten für den ökologischen und digitalen Umbau zu versorgen. Zusätzlich müssen (regionale) Produktionskapazitäten gestärkt und aufgebaut werden. Darüber hinaus gilt es, Rohstoff- und Materialflüsse stärker in einem Kreis zu führen. Eine europäische Kreislaufwirtschaft kann wesentlich zur strategischen Unabhängigkeit von Drittstaaten beitragen und dabei Wohlstand und Beschäftigung schaffen.
Um diese Ziele zu erreichen, braucht es eine aktive Industrie- und Strukturwandelpolitik, in welcher dem Staat als Stratege, Koordinator und Gestalter eine bedeutendere Rolle als bisher zugesprochen wird. In strategisch wichtigen Bereichen und kritischen Infrastrukturen müssen die Produktionskapazitäten innerhalb der Europäischen Union ausgebaut werden. Dabei müssen ökologische und soziale Kriterien sowie die politische Mitbestimmung von den Betrieben bis hin zur europäischen Ebene gestärkt werden.
In den letzten Jahrzehnten fokussierte Industrie- und Strukturpolitik einseitig auf die Steigerung des Wettbewerbs und der Wettbewerbsfähigkeit. Nun sind Maßnahmen nötig, die darüber hinausgehen und auch arbeitsmarkt- und bildungspolitische Elemente enthalten. Das gelingt nur mit einer aktiven und gestaltenden Rolle der öffentlichen Hand, die gute Arbeitsbedingungen, die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze und eine ausreichende soziale Absicherung gewährleistet.
Dazu zählen Jobgarantien, die Langzeitarbeitslosen oder Jugendlichen durch finanzielle Unterstützung helfen, in Zukunftsberufen Fuß zu fassen. Es bedarf auch einer Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive sowie eines breiten Angebots an Umschulungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten zur Aneignung zusätzlicher Kompetenzen. Für solche arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Maßnahmen müssen ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt und ein Aktionsplan für ein koordiniertes Vorgehen erarbeitet werden.
Die aktuelle Energiekrise macht deutlich, wie wichtig tatsächliche strategische Unabhängigkeit für die Versorgung der europäischen Bevölkerung mit für das alltägliche Leben notwendigen Gütern und Dienstleistungen ist. Kurzfristig müssen wir eine leistbare und sichere Versorgung sicherstellen, etwa durch die Entkoppelung des Strompreises vom Gaspreis und die Einführung von regulierten Tarifen für Endverbraucher*innen. Mittelfristig müssen wir die Strukturen der energetischen Basis unserer Wirtschaft so rasch wie möglich umbauen.