Protest gegen Energiekosten“ – Polarisierung mobilisiert stärker“
Stand: 22.10.2022 05:53 Uhr
Die Energiekosten machen vielen Menschen Sorgen. Linke und AfD trommeln zum „heißen Herbst“. Nun rufen Gewerkschaften und Sozialverbände zum „solidarischen Herbst“ auf. Politikwissenschaftlerin Münch über die „Wut der Wütenden“ und Fehler der Ampel.
tagesschau.de: An diesem Wochenende will ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Sozialverbänden und Umweltgruppen für mehr soziale Sicherheit in der Energiekrise in mehreren deutschen Städten demonstrieren. Formiert sich jetzt der Protest von links, um den rechten Gruppen nicht die Straße zu überlassen?
Ursula Münch: Das Bündnis ruft zu einem „solidarischen Herbst“ auf, es geht natürlich um die Energiekrise, aber auch um Solidarität mit der Ukraine. Das ist ein Unterschied zu den von rechtspopulistischen Kräften organisierten Demonstrationen, die die Verantwortung für den Krieg und die steigenden Preise der Bundesregierung zuschieben wollen: Deren Protest richtet sich auch pauschal gegen die Regierenden, gegen das sogenannte System. Sie werfen der Bundesregierung „Kriegstreiberei“ vor und wollen zurück zu den guten deutsch-russischen Beziehungen.
Einige der Forderungen der linken und rechten Gruppen klingen jedoch ähnlich: Der Staat muss denjenigen deutlich stärker finanziell helfen, die nicht wissen, wie sie im Winter über die Runden kommen sollen.
Die Wut der Wütenden
tagesschau.de: Die von rechten Gruppen organisierten Proteste haben seit Wochen Zulauf, allein am Tag der Deutschen Einheit waren 100.000 Menschen bundesweit auf der Straße. Welche Rolle spielt die Dauermobilisierung der Jahre zuvor, Stichwort: „Pegida“ und Corona?
Münch: Mobilisierung funktioniert immer gut, indem man die Wut der Wütenden weiter anheizt und kanalisiert. Etwa gegen das Establishment, die politische Elite, die Wirtschaft. Wer auf eine ausgewogenere Wortwahl setzt, wie das Bündnis zum „solidarischen Herbst“ hat es oft schwerer, Massen zu mobilisieren. Polarisierung mobilisiert stärker.
tagesschau.de: Welche Rolle spielen Parteien bei den Protesten?
Münch: Zum „solidarischen Herbst“ rufen nicht die Parteien auf, sondern Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände. Anders bei den sogenannten Montagsdemonstrationen und ähnlichen Protesten in überwiegend ostdeutschen Städten: Da sieht man viele AfD-Plakate, man sieht aber auch die rechtsextremen „Freien Sachsen“. Die AfD hat ganz klar auch ein parteipolitisches Interesse an diesen Protesten. Sie instrumentalisiert die berechtigten Ängste vieler Menschen angesichts der vielen Großkrisen. Die Sorgen der Menschen und das Kalkül der AfD befruchten sich gegenseitig.
Gespaltene Gesellschaft?
tagesschau.de: Teilweise vermischen sich auch die Proteste von ganz rechts und ganz links, die Grenzen scheinen zu verschwimmen. Alice Weidel und Sahra Wagenknecht klingen in ihrer Wortwahl manchmal sehr ähnlich, etwa wenn vom „Wirtschaftskrieg gegen Russland“ die Rede ist.
Münch: Frau Wagenknecht spricht nicht für die Linkspartei. Die Linke versucht sich auch, von Wagenknecht zu distanzieren, weil sie eben nicht zu sehr mit der AfD in einen Topf geworfen werden will. Aber man muss schon genau hinhören, um Unterschiede zu erkennen. Die Linkspartei differenziert stärker mit Blick auf den Verursacher des Krieges. Für die Partei ist es aber ein schmaler Grat. Sie ist in einem politischen Überlebenskampf, in ihren einstigen ostdeutschen Hochburgen schwimmen ihr die Felle davon – und zwar zur AfD.
Teilnehmer einer Demonstration protestieren in Leipzig gegen die Russland-Politik der Bundesregierung, während ein Gegendemonstrant im Vordergrund eine ukrainische Fahne hält. Bild: dpa
tagesschau.de: Immer wieder wird gewarnt vor einer Spaltung der Gesellschaft. Ist da etwas dran?
Münch: Ich halte diese Diagnose für falsch. Ein Teil der Gesellschaft ist sehr wütend und lässt sich daher auch leicht mobilisieren. Aber das ist im Augenblick zumindest ein überschaubarer Personenkreis. Aber es gibt das Interesse, von der Spaltung der Gesellschaft zu sprechen, etwa von AfD oder der Linkspartei. Denn wenn man von einer Spaltung der Gesellschaft spricht und nicht von einer Abspaltung einer Minderheit, suggeriert man Größe. Wir haben es jedoch mit einer lautstarken Minderheit zu tun, die – das bestreite ich nicht – größer werden kann. Und die ein Interesse daran hat, die berechtigten Sorgen ganz vieler Menschen vor weiteren Preissteigerungen zu schüren. Denen geht es nicht darum, sich um die Anliegen der Menschen zu kümmern, sondern die Sorgen zu verbreiten.
tagesschau.de: CDU-Generalsekretär Mario Czaja befürchtet einen „Wutwinter“, Außenministerin Annalena Baerbock warnte in einer bewusst überspitzten Formulierung vor „Volksaufständen“. Es ist also mitnichten nur der politische Rand, der sich hier mit plakativen Begriffen zu Wort meldet.
Münch: Man kann auch vieles herbeireden. Wenn man sich anschaut, wie viele ganz konkrete Entlastungen es inzwischen schon gibt und was noch geplant ist, sollte man diesen gefährlichen Alarmismus sein lassen. Man solle bitte nicht so tun, als ob wir nicht einen funktionierenden Sozialstaat hätten.
In der Ampel ist viel Dissens
tagesschau.de: Die Zufriedenheit mit der Bundesregierung ist aber auf einem Tiefpunkt. Wie kann das sein bei den ganzen Wohltaten?
Münch: Die Ampel-Regierung hat zuletzt ein chaotisches Bild abgegeben. Sie wirkte planlos und handlungsunfähig angesichts der vielen Krisen. Man denke nur an die Gasumlage. Das Hin und Her irritiert viele Menschen und verunsichert zusätzlich. Und jetzt noch das Gezerre um die Atomkraft. Die Unzufriedenheit vieler Menschen ist daher nachvollziehbar.
Doch die Schwächen in der Handlungsfähigkeit des Dreier-Bündnisses kommen nicht von ungefähr: Da regieren drei Partner miteinander, die nicht die politische Nähe zueinander zusammengebracht hat, sondern die politischen Mehrheiten. Zwischen SPD, Grünen und FDP ist viel Dissens, der gerade in diesen unsicheren Zeiten nicht gut ankommt. Wir hatten aber auch noch nie so eine immens herausfordernde Situation – und das unter den Bedingungen einer höchst disparaten Bundesregierung mit drei Partnern. Das entschuldigt nichts, aber es erklärt, warum sich die Ampel so schwer tut.
„Warme Worte reichen nicht“
tagesschau.de: Dennoch bleibt der Eindruck, dass es viele warme Worte des Kanzlers gibt, doch damit allein bekommt niemand im Winter die Wohnung warm. Viele Entlastungen kämen zu spät, etwa der Gaspreisdeckel ab März, beklagt die Opposition. Und auch die Länder fordern mehr Tempo.
Münch: Das stimmt. Die warmen Worte reichen nicht. Aber wenn das Debakel um die Gasumlage eines gezeigt hat, dann: Vorsicht vor schnellen großen Lösungen oder unbürokratischen Hilfen. Auch Entlastungen nach dem Gießkannenprinzip sind wenig sinnvoll. Es geht vielmehr darum, wer das Geld braucht, wer nicht – und wie das Geld zu den richtigen Leuten kommt. Wir haben in der Corona-Krise gesehen, wie schnell mit unbürokratischer Hilfe Missbrauch getrieben werden kann. Ein Instrument wie der Gaspreisdeckel lässt sich daher nicht binnen einer Woche umsetzen. Es ist komplizierter.
Ursula Münch
Prof. Ursula Münch ist seit 2011 Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Sie forscht zur deutschen Parteienlandschaft und war bis vor kurzem Mitglied im Wissenschaftsrat, der die Bundesregierung in Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Hochschulen, der Wissenschaft und der Forschung berät.