20.03.2023 – Thomas Greven
Erneuerung der US-Gewerkschaften: Jünger, diverser, progressiver
Die Gewerkschaften in den USA haben Zuspruch wie lange nicht. Doch die Unternehmen verfeinern ihre Union-Busting-Strategien, um Gewerkschaften zu bekämpfen. Auf Rückhalt aus der Politik können sie aktuell auch nicht setzen.
Am 3. Februar wurde East Palestine in Ohio von einer der größten Zugentgleisungen in der Geschichte der USA erschüttert. Seitdem leben die Bewohner in großer Sorge vor gesundheitlichen Schäden durch gefährliche Chemikalien, während sich das Unternehmen Norfolk Southern vor der Verantwortung drückt.
Die Katastrophe ist wohl auf technisches Versagen zurückzuführen, aber die Gewerkschaften sehen einen direkten Zusammenhang mit den durch das „precision scheduled railroading“ dramatisch verschlechterten Arbeitsbedingungen. PSR erlaubt den Betrieb immer längerer und schwererer Züge, führt aber auch zu erheblicher Personalknappheit. Besonders pikant ist, dass die angeblich „gewerkschaftsfreundlichste Bundesregierung aller Zeiten“ unter Präsident Joe Biden erst im Dezember 2022 per Gesetz einen Streik der Bahnarbeiter abgewendet hatte. Der auf Basis des Railway Labor Acts von 1926 verordnete Tarifvertrag enthielt weder die vehement geforderten bezahlten Krankheitstage noch schloss er die vielen regulatorischen Schlupflöcher. Dennoch war die Mehrheit der 37 Gewerkschaften im Bahngewerbe überzeugt, dass die vergleichsweise großzügige Lohnerhöhungen die Zustimmung wert waren.
US-Gewerkschaften mit viel Zuspruch
Inflation, Pandemiefrust und ein enger Arbeitsmarkt haben in den USA zu einer Welle gewerkschaftlicher Aktivitäten geführt. Ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau war die Zahl der Streiks schon 2021 gestiegen („striketober“); 2022 erhöhte sie sich noch einmal um 50 Prozent. Hinzu kamen gestiegene Organisierungsanstrengungen, ebenfalls um etwa 50 Prozent gegenüber 2021.
Vor dem Hintergrund einer mit 71 Prozent historisch hohen Zustimmung für Gewerkschaften – selbst im traditionell gewerkschaftsfeindlichen Süden der USA lag sie bei 60 Prozent – gab es erstaunliche Erfolge, insbesondere bei jungen Beschäftigten. Unter anderem organisierten sich Baristas bei den Ketten Starbucks und Peet’s Coffee, studentische Beschäftigte an Universitäten, Beschäftigte in der Gaming-Branche, der Tech-Branche, im Gesundheitssektor und in Supermärkten wie Trader Joe’s. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg von 2021 auf 2022 um 200.000. Und über die Hälfte der nicht-organisierten Beschäftigten wünscht sich eine Gewerkschaft.
Erstaunlich sind diese Erfolge, weil die die gesetzlichen Hürden für eine erfolgreiche Organisierung sehr hoch sind. Die Gewerkschaften müssen das kollektive Vertretungsrecht Betrieb für Betrieb erlangen.
Dagegen wehren sich die meisten Unternehmen, weil sie sich Konkurrenzvorteile davon versprechen, „gewerkschaftsfrei“ zu bleiben. Starbucks hat beispielsweise einige organisierte Standorte einfach sofort geschlossen, zweifellos als Signal an andere organisierungswillige Beschäftigte.
Beratungsfirmen, sogenannte „union busters“, für die die Unternehmen ungefähr 340 Millionen US-Dollar jährlich ausgeben, haben ihre traditionellen Strategien – die Entlassung von Gewerkschaftsaktivisten (verboten, aber leicht zu verschleiern), gewerkschaftsfeindliche Pflichtveranstaltungen und indoktrinierende Einzelgespräche – inzwischen an die veränderten Sensibilitäten der gerechtigkeitspolitisch motivierten jungen Beschäftigten angepasst.
Diese verlangen von ihren Arbeitgebern, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, und dazu gehören auch gute Arbeitsbedingungen. Und so werden Gewerkschaften als aus der Zeit gefallene Bastionen der Herrschaft alter weißer (Subtext: „rassistischer und sexistischer“) Männer diffamiert. Managementvertreter betonen die moderne kooperative Unternehmenskultur und schaffen alternative Foren zur Diskussion von Beschäftigtenangelegenheiten („employee resource groups“).
Genützt hat ihnen das bisher wenig: Viele der neuen Gewerkschaften sind von den Beschäftigten selbst gegründete „unabhängige“ Basisgewerkschaften, die die Organisierungsarbeit nicht Hauptamtlichen überlassen („self-organizing“). Dies entspricht einer seit langem von der Gewerkschaftslinken propagierten Abkehr von gewerkschaftlicher Stellvertreterpolitik.