Rücktrittsschreiben von Craig Mokhiber, Leiter des Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte
Auszug aus dem Brief vom 28.10.23 (Übersetzung Susanne Hofmann)
Lieber Herr UN-Hochkommissar,
dies ist meine letzte offizielle Mitteilung als Direktor des New Yorker Büros des UN-Menschenrechtskommissars an Sie.
Ich schreibe dies in einem Augenblick großer Pein für die Welt, darunter auch für viele unserer Kollegen. Wieder einmal sehen wir, wie sich vor unseren Augen ein Völkermord vollzieht, und die Organisation, der wir dienen, scheint machtlos, ihn aufzuhalten.
Für mich als jemand, der sich seit den 1980er Jahren intensiv mit den Menschenrechten in Palästina befasst hat, der in den 1990er Jahren als Menschenrechtsberater in Gaza gelebt hat und der davor und danach mehrmals im Dienst der Menschenrechte in diesem Land war, hat das eine tiefe persönliche Bedeutung.
Ich habe in diesen Räumen der Vereinten Nationen auch während der Völkermorde an den Tutsi, an bosnischen Muslimen, an den Jesiden und an den Rohingya gearbeitet. In jedem dieser Fälle wurde schmerzlich deutlich, nachdem sich der Staub auf die gegen die wehrlose Zivilbevölkerung gerichteten Schrecken gelegt hatte, dass wir in unserer Pflicht versagt hatten – unserer Pflicht, massenhaft begangene Gräueltaten zu verhindern, die Schwachen zu schützen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Genauso verhielt es sich mit den sukzessiven Wellen von Mord und Verfolgung von Palästinensern während der gesamten Zeit des Bestehens der Vereinten Nationen.
Herr Hochkommissar, wir versagen soeben erneut.
Als Menschenrechtsanwalt mit mehr als drei Jahrzehnten Erfahrung auf diesem Gebiet ist mir geläufig, dass das Konzept des Genozids oft politisch missbraucht wurde. Doch das Blutbad, das aktuell an den Palästinensern verübt wird, welches in einer ethno-nationalistischen, kolonialen Siedlermentalität wurzelt und die Fortsetzung ihrer jahrzehntelangen systematischen Vertreibung und ethnischen Säuberung darstellt, die allein auf ihrem Status als Araber beruht und die mit expliziten Absichtserklärungen führender Mitglieder der israelischen Regierung und des israelischen Militärs einhergeht, lässt keinen Spielraum für Zweifel oder Diskussionen.
In Gaza werden Wohnhäuser, Schulen, Kirchen, Moscheen und medizinische Einrichtungen mutwillig angegriffen und tausende Zivilisten massakriert. In der Westbank inklusive dem besetzten Jerusalem werden Häuser beschlagnahmt und neu zugewiesen, rein nach rassistischen Kriterien – und brutale Pogrome durch Siedler werden von israelischen Militäreinheiten begleitet. Im ganzen Land herrscht Apartheid.
Dies hier ist ein Paradebeispiel für Völkermord. Die letzte Phase des europäischen, ethno-nationalistischen Siedler-Kolonialprojekts in Palästina hat begonnen. Es geht um die Auslöschung der verbliebenen Überreste ursprünglichen palästinensischen Lebens in Palästina. Dazu kommt, dass die Regierungen der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und eines Großteils von Europa an diesem abscheulichen Angriff mitwirken. Diese Regierungen halten nicht nur nicht ihre vertraglichen Verpflichtungen zur „Einhaltung“ der Genfer Konventionen ein. Sie steuern für den Angriff auch noch aktiv Waffen bei, stellen wirtschaftliche und geheimdienstliche Unterstützung bereit und gewähren politische und diplomatische Deckung für Israels Gräueltaten.
Im Einklang damit stehen die westlichen Konzernmedien, zunehmend vereinnahmt und staatsnah, im offenen Widerspruch zu Artikel 20 des UN-Zivilpakts, indem sie die Palästinenser fortwährend entmenschlichen und damit den Völkermord ermöglichen und Kriegspropaganda verbreiten sowie nationalen, rassistischen oder religiösen Hass verbreiten, welcher Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt befeuert. In den USA angesiedelte Social Media unterdrücken die Stimmen von Menschenrechts-Verteidigern und verstärken zugleich pro-israelische Propaganda. Internet-Trolle und GONGOS (Government-operated non-governmental organization) belästigen und verleumden Menschenrechts-Verteidiger. Westliche Universitäten und Arbeitgeber arbeiten mit ihnen zusammen, um jene zu strafen, die es wagen, sich gegen die Gräuel auszusprechen. Nach diesem Völkermord müssen auch diese Akteure zur Verantwortung gezogen werden, wie einst die Macher des hassverbreitenden Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines in Ruanda.
Das ganze Rücktrittsschreiben von Craig Mokhiber UN 28.10.23
Rücktritt Craig Mokhiber UN 28.10.23 Rücktrittsschreiben englisch