Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser*
Bittere Pattsituation
Die ukrainische Gegenoffensive stockt. Statt endlos neue Waffen zu liefern, sollte der Westen an der Vorbereitung von Friedensgesprächen mitarbeiten.
Die erfolgreichen Gegenangriffsoperationen der Ukraine im Herbst 2022 haben nicht wenige deutsche und internationale Kommentatoren dazu verleitet, schnelle Erfolge der ukrainischen Truppen bei ihrer seit Anfang Juni 2023 laufenden Gegenoffensive an der Südfront zu propagieren. Die etwa neun, von NATO-Staaten ausgebildeten und mit westlichem Gerät ausgerüsteten Brigaden, so die Erwartung, würden russische Verteidigungslinien durchbrechen und bis zu den Bahn- und Straßenverbindungen auf der Landbrücke zur Krim, oder gar bis zum Asowschen Meer vorstoßen.
Diese Erwartung entsprang jedoch eher einem Wunschdenken als einer sachlichen Lagebeurteilung. Einschätzungen von Militärökonomen im Frühjahr 2023, die einen ukrainischen Sieg im Herbst 2023 vorhersagten, basierten beispielsweise auf eklatanten Fehlkalkulationen. Die Hochrechnung von russischen Abnutzungsraten im Jahr 2022 auf die Lage im Folgejahr war schlicht zu simpel. Russland hat offenbar wesentlich mehr Kräfte in der Ukraine als zu Beginn des Krieges.
Angriffsoperationen gegen Bodentruppen, die aus stark befestigten Stellungssystemen heraus kämpfen und die zu beweglichen Verteidigungsoperationen mit Luftnahunterstützung um die Stellungsgräben herum befähigt sind, gehören zu den anspruchsvollsten militärischen Leistungen. In solchen Szenarien sind große Verluste vor allem bei den angreifenden Verbänden zu erwarten. Für die ukrainischen Brigaden ist der Angriff gegen eine derart vorbereitete Verteidigung eine völlig neue Aufgabe.
Die Lernfähigkeit der russischen Führung im Unterschied zu ihren Operationen im ersten Kriegsjahr wurde unterschätzt. So haben die angreifenden ukrainischen Verbände schon weit vor der ersten russischen Hauptstellungslinie empfindliche Verluste in vorgelagerten Minensperren hinnehmen müssen. Moderne westliche Kampf- und Schützenpanzer wurden zerstört.
Die ukrainische Militärführung hat nun aus ersten Fehlern gelernt und das taktische Vorgehen verändert.
Es war unrealistisch, davon auszugehen, dass die neu aufgestellten ukrainischen Brigaden das komplexe Gefecht der verbundenen Waffen beherrschen, in dem viele Manöverelemente zu koordinieren sind. Taktische Fehler im Vorgehen waren zu erwarten. Auch die Streitkräfte der NATO-Staaten müssen das komplexe Zusammenwirken im Verbund immer wieder üben und werden es nicht perfekt beherrschen.
Die ukrainische Militärführung hat nun aus ersten Fehlern gelernt und das taktische Vorgehen verändert und verlangsamt. Sie versucht, die Abnutzung der eigenen Kräfte in Grenzen zu halten und gleichzeitig die russischen Truppen abzunutzen – eine fast unmögliche Aufgabe. Mit weit reichender Raketenartillerie sowie britischen und französischen Marschflugkörpern wird versucht, die russischen Truppen zu schwächen durch Angriffe auf Gefechtsstände, Einrichtungen der Führungsunterstützung und auf logistische Verteilerpunkte sowie versorgungswichtige Brücken.