Kontext im Merlin – „Pazifist heißt: Jemand, der Frieden macht“ Von Gesa von Leesen Datum: 24.07.2024
Das Bedürfnis, über den Ukrainekrieg zu reden, ist groß, vor allem in der Generation Friedenskette, die an diesem Montagabend den Saal des Stuttgarter Kulturzentrums Merlin füllt. Deutlich mehr als hundert Menschen sind gekommen. In den 1980er-Jahren hatten sie erlebt, wie stark eine Friedensbewegung werden kann – Stichworte Nato-Doppelbeschluss, Demo im Bonner Hofgarten, Menschenkette im Südwesten. Wer bei seinen friedlichen Überzeugungen geblieben ist, steht heute ziemlich alleine da, denn nach verbreiteter Meinung in Politik und großen Medien helfen der Ukraine nur Waffen und gegen Russland nur Aufrüstung in Europa.
Ähnlich allein sind die Vier auf dem Podium: Der grüne baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann ist mit seiner pazifistischen Überzeugung in seiner Partei ein ziemlicher Einzelkämpfer. Der Leiter der Reutlinger Volkshochschule Ulrich Bausch sucht Verbündete in seiner SPD. Die Theologin Susanne Büttner bedauert, dass Stimmen, die für Verhandlungen werben, nicht gerade prominent sind. Und der Friedensforscher Thomas Nielebock antwortete auf die Frage von Moderator Stefan Siller, ob er mit seiner Forderung, nach einer Verhandlungslösung zu suchen, in der Friedensforschungs-Szene eine Ausnahme sei, knapp und klar mit einem „Ja.“
Die vier haben ein Papier verfasst: „Wege zum Frieden“. Nach mehr als zwei Jahren des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, in denen der Westen Waffen geliefert habe, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen, müsse man doch feststellen, dass „die bisherige Strategie gescheitert ist“, sagt Ulrich Bausch. Also: umdenken!
Alle ärgert, dass die Bundesregierung einseitig auf militärische Mittel setzt, dass die grüne Außenministerin Annalena Baerbock jüngst von einer „Raketenlücke“ redete und so die Stationierung von US-amerikanischen Raketen auf deutschem Boden begründet. Breit diskutiert wird darüber nicht, nicht im Bundestag und wenig in den großen Medien. Für Winfried Hermann ist das besonders bitter, trat er doch 1982 bei den Grünen ein, gerade weil diese die Debatten der damals großen Friedensbewegung übernommen hatten. Mittlerweile habe sich das „Mindset“ der Partei geändert, doch mitmachen will der 72-Jährige dabei nicht. „Wir brauchen einen anderen gesellschaftlichen Diskurs.“Hermann erntet eifrige Zustimmung unter den Besucher:innen. Genauso die Ausführungen von Ulrich Bausch, der – wie bei jeder friedensbewegten Veranstaltung üblich – ausführlichst die Vorgeschichte des Angriffskriegs erläutert. In erster Linie geht es ihm um Fehler des Westens, besonders der USA. Er nennt die Nato-Osterweiterung und die Rolle der US-Rüstungsindustrie sowie der Debatte in den USA (Kontext berichtete).
Theologin Büttner bringt die Verhandlungen von Russland und der Ukraine im März 2022, kurz nach Beginn des Überfalls vor, die angeblich fertig und unterschriftsreif waren, aber vom damaligen britischen Premier Boris Johnson gestoppt worden seien – „wenn ich richtig gelesen habe“. Dass dies eine fragwürdige Interpretation der damaligen Ereignisse ist, hat unter anderem der Soziologe und ehemalige Linken-Politiker Paul Schäfer in einem detaillierten Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik im April 2023 herausgearbeitet.
Keine unbeirrbaren Wahrheiten
Der streitbare VHS-Leiter Bausch (Kontext berichtete) hat vor rund einem Monat bereits einen Verhandlungsaufruf gemeinsam mit anderen Südwest-Sozialdemokrat:innen veröffentlicht, der relativ ungehört verhallte – jedenfalls in der SPD. Dennoch ist er überzeugt: „In der SPD verzweifeln viele. Sie haben den Einruck, erst wurde die soziale Frage aufgegeben, jetzt auch die Friedenstradition.“ Dabei sei doch sichtbar, dass Putin nicht geschwächt wurde, weder innen- noch außenpolitisch, dass Aufrüstungsorgien weltweit Geld binden, das woanders fehle.
Für den emeritierten Friedensforscher Thomas Nielebock von der Uni Tübingen ist die Gefahr eines Atomkrieges ein wichtiger Antrieb, sich zu Wort zu melden. Die aktuelle Situation hält er „für gefährlicher als die Kubakrise 1962“, die damals glücklicherweise deeskaliert und friedlich beigelegt werden konnte.
Wie er hält Susanne Büttner, Dekanin und Seelsorgerin im Frauengefängnis Schwäbisch Gmünd, es für extrem wichtig, überhaupt über friedliche Lösungen für den Ukrainekrieg zu diskutieren. Zur „pragmatischen Pazifistin“ sei sie durch die Zeitenwende-Rede von Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Februar 2022 geworden. „Dieser frenetische Beifall danach!“, erzählt sie noch immer entrüstet. Und ergänzt, damit keine Missverständnisse aufkommen: „Ich finde Putin überhaupt nicht nett.“ Als Studentin habe sie Geld für Waffen für El Salvador gesammelt. Als sie dann allerdings ein Jahr vor Ort gewesen war, habe sie festgestellt: „Das hat kein einziges Problem gelöst.“ Da sei sie geheilt gewesen von der Idee, mit Waffen Konflikte zu beenden. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ gelte für sie „absolut“.
Moderator Stefan Siller bohrt nach: Könnten die Diskutant:innen denn verstehen, dass nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine die erste Reaktion war, dem Land dabei zu helfen, sich mit Waffen zu wehren? Klar, Verständnis haben alle. „Diese Reaktion sitzt tief“, sagt Nielebock. Aber im Atomzeitalter sei es wichtig, innezuhalten und nachzudenken. Politiker Hermann ergänzt: Auch er sei erschüttert gewesen. „Natürlich will man da handeln. Aber Politik darf nicht aus dem Bauch heraus gemacht werden. Erst muss man überlegen: Was passiert, wenn ich das oder das mache.“ Hermann betonte, dass die Ukraine selbstverständlich und vom Völkerrecht gedeckt, das Recht habe, sich zu verteidigen. Für ihn resultiere allerdings daraus nicht, Angriffswaffen zu liefern. Das lehne er ab.
Blauhelme an die Front
Bei allen Fehlern in der Vergangenheit, was könne denn heute getan werden, will Siller wissen. Nielebock hat konkrete Punkte. Zunächst müsse die UNO eine Studie erstellen über weitere Kriegsfolgen – territoriale, finanzielle, gesellschaftliche. Dann müsse im UN-Sicherheitsrat ein Beschluss gefasst werden, Blauhelme an die Frontlinie in der Ukraine zu schicken. Und ein Verhandlungsangebot an Putin müsse so gestaltet sein, dass „beide Seiten vor ihrem Publikum gewinnen“. Und auch wenn in Verhandlungen beide Seiten mit zunächst angeblich unverhandelbaren Positionen hineingingen, solle man nicht erschrecken, das sei normal. Hauptsache, man rede miteinander. Um dieses Reden voranzubringen, kann Nielebock sich auch „einseitige Vorleistungen“ vorstellen: Zum Beispiel könnte der Westen erklären, „wir verzichten auf den Ersteinsatz von Atomwaffen und ziehen Raketen ab“. Verbunden mit der Drohung, das rückgängig zu machen, wenn die russische Seite sich nicht an Abmachungen halte. Und den Status der bislang von Russland besetzten ukrainischen Gebiete würde er zunächst offen lassen.
Bausch konkretisiert: Es dürfe keinen Verzicht auf diese Gebiete geben, es sollten Autonomiegebiete werden. Ob das funktioniere, wisse man natürlich nicht, aber wenigstens müsse man es versuchen „und testen, ob Putin es ehrlich meint“, wenn dieser behaupte, er sei verhandlungsbereit.
Ideen gibt es also – genauso wie Unsicherheit. Theologin Büttner befürchtet, dass der Plan nicht gelingt, und biegt ab in die Innenpolitik hierzulande. „Wir sollen jetzt ‚kriegstüchtig‘ werden. Als Theologen müssen wir sagen: Dazu sind wir nicht bereit.“ Das gibt Applaus.
Nielebock untermauert, was Kriegstüchtigkeit bedeutet: Brücken und Straßen von Ost nach West würden bevorzugt saniert, im Medizingrundstudium werde die Chirurgie wichtiger. Und er verweist darauf, dass vergangene Woche der Bayerische Landtag das Gesetz zur Förderung der Bundeswehr beschlossen habe, das Universitäten anweist, mit der Bundeswehr zusammenzuarbeiten, und das Zivilklauseln verbietet (die allerdings aktuell keine bayerische Uni hat). Zudem heißt es in dem Gesetz: „Die Schulen arbeiten mit den Jugendoffizierinnen und Jugendoffizieren der Bundeswehr im Rahmen der politischen Bildung zusammen.“
Als Mitglied der Servicestelle Friedensbildung in Schulen fordert Nielenbock: „Wir müssen uns wehren gegen eine Pädagogik der Verteidigung.“ Er betont, es gebe gewaltfreie und erfolgreiche Formen von Verteidigung, mahnt aber auch: „Die Friedensbewegung muss bei ihren Überlegungen immer die Sicherheit der Ukrainerinnen und Ukrainer berücksichtigen.“ Die Ukraine brauche Sicherheitsgarantien. Denn wenn akzeptiert würde, dass eine andere Macht, Grenzen einfach verändern könne, wären die Folgen furchtbar: „Dann hat man Wilden Westen“.
Hermann erklärt zum Abschluss, man wolle mit der Initiative nicht zu hoch greifen. Vielleicht gebe es friedliche Strategien, die zu einem Ende des Ukrainekrieges führen – welche, wüssten sie aber auch nicht. Und er warnt davor, ständig nur Bekenntnisse abzugeben. Damit öffne man die gesellschaftliche Debatte eher nicht. Auch findet er es wichtig, in der Friedensbewegung ernsthaft darüber nachzudenken, welche Folgen es hat, wenn man sich nicht wehrt. „Ich bin nicht sicher, ob das funktioniert.“ Aber es sei auch nicht klar, ob funktioniere, was die andere Seite sagt und tut mit ihren Aufrüstungsplänen und Waffenlieferungen. „Ich sehe die Zivilisation bedroht“, sagt Hermann. „Also müssen wir zivile Wege ins Spiel bringen. ‚Pazifist‘ heißt übersetzt: Jemand, der Frieden macht.“
Wer Kontakt zur Gruppe sucht, kann sie anmailen: aufbruch-zum-frieden@e.mail.de
Die Kontext-Veranstaltung im Merlin wurde mitgeschnitten – hier geht’s zur Audioaufzeichnung und hier zur Videoaufzeichnung.