Berliner Zeitung – 5.10.2020 – 07:48, Robert Menasse*
Europa in der Krise : Unser Dach droht einzustürzen
Was hatte Europa? Werte. In jeder Sonntagsrede. Aber in Wirklichkeit? Keine gemeinsame Migrations- und Flüchtlingspolitik. Auch jetzt bei Covid-19 versagt Europa. Ein Warnruf von Robert Menasse.
Sehr geehrte Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen!**
Wie geht es Ihnen? Mir geht es seit einiger Zeit ungefähr so:
Da liegt ein Spatz auf dem Boden – und Sie wissen: Spatzen gelten als sehr freche, vorlaute Vögel – und dieser freche Spatz liegt also auf dem Rücken und streckt seine kleinen Beinchen in die Höhe. Kommt ein Kater vorbei, ein schwarzer, gefürchteter Jäger, und er ist verblüfft, dass da so leichte Beute vor ihm liegt, geradezu wie für ihn angerichtet. Aber statt den Vogel sofort zu fressen, fragt er in maliziösem Erstaunen: Sag einmal, Du kleiner Spatz, Du bist doch ein Tier der Lüfte, was liegst Du da auf dem Boden und streckst Deine Beinchen in die Höhe?
Und der Spatz antwortet: Du mit deinem nach unten und auf das Naheliegende gerichteten Jagdinstinkt merkst es vielleicht nicht, aber ich spüre genau: der Himmel droht auf die Welt herunterzufallen.
Da muss der Kater so sehr lachen – das Bild davon hätte Millionen Likes auf Facebook bekommen – und als er sich beruhigt hat, fragt er: Und du glaubst im Ernst, dass Du, wenn Du Deine Beinchen in die Höhe streckst, damit das Dach des Himmels stützen kannst?
Da sagt der Spatz: Nein, das glaube ich nicht. Aber ich tu, was ich kann.
Was zeigt uns dieses Bild? Die Lächerlichkeit eines zu großen Anspruchs? Die Lächerlichkeit einer aussichtslos erscheinenden Anstrengung? Die Lächerlichkeit eines Engagements, das sozusagen nicht in der Natur der eigenen Möglichkeiten liegt? Nein. Es zeigt die Traurigkeit der Einsamkeit, wenn es um die Reaktion auf eine große Gefahr geht, um eine Bedrohung, die alle trifft. Auch den Kater, der aber vorher noch seinen Profit macht, indem er den Spatz frisst.
Ja, meine Damen und Herren, der Boden, auf dem wir leben, wankt, und das Dach droht einzustürzen. Und ich wundere mich, wie wenig in die Höhe gestreckte Beine ich sehe, und wie wenige es gibt, die im Gebälk nachschauen, was da morsch ist oder auch nur bereit sind, das Morsche morsch zu nennen. Jeder von uns kann hoch fliegen, aber was tun wir auf dem gemeinsamen Boden der Tatsachen? Wir können gelehrt in unseren Akademien diskutieren, sogar darüber, dass da oder dort Menschen diese Möglichkeit geraubt wird, aber was tun wir dagegen? Aufrufe unterschreiben? Aber erfüllt sich unsere Verantwortung wirklich schon darin, dass wir Unterschriftsteller werden? Wir sind kreativ und innovativ, bis hin zur Ausgestaltung von Eitelkeiten und Schwermut. Aber was ist mit unserem Sensorium für allgemeine Bedrohungen und Gefahr?
Wir leben schon die längste Zeit in einem multiplen Krisenmodus, und wir können doch sehen, welch beängstigende Konsequenzen dies hat. Können wir uns wirklich nicht vorstellen, was das Wiedererstarken von Nationalismus und fremdenfeindlichen Ideologien bedeutet, nur 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs? Die Renationalisierung Europas ist nicht Ausweg aus den Krisen, sondern Ursache und Brandbeschleuniger.
Denken Sie an die Finanzkrise. Wir haben in Europa eine gemeinsame Währung. Aber die EU-Mitgliedstaaten verhinderten, dass die gemeinsame Währung von einer gemeinsamen Finanz- und Budgetpolitik begleitet wird. Das ist natürlich widersinnig. Aber der Grund war: die Mitgliedstaaten wollten ihre Finanzpolitik, so hilflos sie sich auf einem gemeinsamen Markt und mit gemeinsamer Währung auch erweisen muss, in nationaler Souveränität behalten. Es gab nicht einmal eine Europäische Bankenaufsichtsbehörde.
Das war eine gemeingefährliche Situation. Die Finanzkrise begann 2007, Lehmann Brothers krachte 2008, im Jahr 2009 wurde die internationale Finanzkrise endgültig zur Euro-Krise. Und erst seit 2011 haben wir eine Europäische Bankenaufsichtsbehörde. Durch den Brexit, von Londoner Nationalisten mutwillig und verantwortungslos herbeigeführt, musste sich die endlich gegründete Bankenaufsicht dann hauptsächlich mit ihrer Übersiedlung von London nach Paris beschäftigen. Aber immer noch glaubte eine große Anzahl von Menschen, dass in Krisensituationen vor allem der Nationalstaat verteidigt werden muss, und, was besonders schäbig ist, überall sprangen Politiker auf die Bühne, die die Stimmen vor allem dieser Menschen einsammeln wollten, und sie in ihrem nationalen Furor bestärkten.
Der Rest der Rede kann hier gelesen werden
*Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren. Für seinen Roman „Die Hauptstadt“, der als erster Roman über die Europäische Union gilt, wurde er 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
**Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat diese Rede am 8. Oktober 2019 bei der Auftaktveranstaltung der Konferenz „Europäische Allianz der Akademien“ in der Akademie der Künste gehalten.
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