Menschen mit unterschiedlicher geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung in unseren Schulen – wie (er)leben wir Vielfalt?
Am 17. Mai findet seit 2005 der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie statt. An diesem Tag soll auf die Diskriminierung und Kriminalisierung (in Deutschland ehemals §175 STGB) von Menschen hingewiesen werden, die in ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität nicht der Heteronormativität entsprechen. Er geht darauf zurück, dass die WHO erst am 17.5.1990 Homosexualität offiziell von der Liste der Krankheiten gestrichen hat.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Kreisverband Esslingen-Nürtingen und der Kirchheimer Ortsverband/die Gemeinderatsfraktion der Partei „Die LINKE“ lud am Freitag, 14. Mai 2021 um 20.00 Uhr zu einer Zoom-Veranstaltung ein zum Thema „Menschen mit unterschiedlicher geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung in unseren Schulen – wie (er)leben wir Vielfalt?“
Mehr als vier Jahre nach der Einführung der Leitperspektive „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV)“ in den baden-württembergischen Bildungsplänen interessiert die Veranstalter, wie die Leitperspektive BTV im Hinblick auf die Toleranz und Akzeptanz von geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung an den Schulen umgesetzt wird und wie sie wirkt.
Dazu wollen sie mit Schüler*innen, Lehrer*innen, Schulleitungen, Elternvertreter*innen und der interessierten Öffentlichkeit ins Gespräch kommen.
Einen wissenschaftlichen Input für das Gespräch gab Dr. Ulrich Klocke von der Humboldt-Universität zu Berlin geben. Aus der Praxis ihrer Bildungsarbeit an Schulen berichtete Carina Utz, systemische Beraterin und Geschäftsleiterin der Freiburger Bildungseinrichtung FLUSS e.V., die Bildungs- und Beratungsarbeit zu Geschlecht und sexueller Orientierung betreibt.
Weitere Informationen
Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung und Gunda-Werner-Institut (Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit)
„Bildungsplan und Gender-Wahn“? Die Debatte um den Bildungsplan in Baden-Württemberg und ihre Folgen
Schulen sind, neben Fußballstadien, besonders von Homophobie und Heterosexismus betroffene Räume. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt findet kaum Platz im Unterricht und im Schulgeschehen – abgesehen von abwertenden Schimpfworten. Besonders Kinder und Jugendliche, die sich jenseits der Heterosexualität verorten und/oder eine andere als die „klassischen“ Geschlechtsidentitäten leben, finden in Schulen meist keine sicheren Orte. Eine Antwort auf dieses Problem besteht in der Thematisierung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Diese ruft aber lautstarke Gegner*innen aus dem konservativen und rechtspopulistischen Lager auf den Plan.
Vor über vier Jahren sind neue Bildungspläne in Kraft getreten. Neu waren u.a. sechs Leitperspektiven. Sie sollen „Leitgedanken für alle Fächer“ festlegen. In der Leitperspektive „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV)“ geht es u.a. um das Thema sexuelle Orientierung und LSBTTIQ.
Zur Leitperspektive BTV ist auf der Homepage des Kultusministeriums u.a. zu lesen: „Der konstruktive Umgang mit Vielfalt stellt eine wichtige Kompetenz für die Menschen in einer zunehmend von Komplexität und Vielfalt geprägten modernen Gesellschaft dar. In der modernen Gesellschaft begegnen sich Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, Nationalität, Ethnie, Religion sowie geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung. Kernanliegen der Leitperspektive ist es, Respekt sowie die gegenseitige Achtung und Wertschätzung von Verschiedenheit zu fördern. Schule als Ort von Toleranz und Weltoffenheit soll es jungen Menschen ermöglichen, die eigene Identität zu finden und sich frei und ohne Angst vor Diskriminierung zu artikulieren. …Die Verankerung der Leitperspektive BTV im Bildungsplan wird unter anderem durch folgende Begriffe konkretisiert: „Personale und geschlechtliche Vielfalt, wertorientiertes Handeln, Selbstfindung und Akzeptanz anderer Lebensformen, Formen von Vorurteilen und Klischees, Toleranz, Solidarität, Inklusion und Antidiskriminierung.“
Im Jahr 2012 hatten Dr. Klocke und andere Wissenschaftler*innen in einer Studie zu „Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen“ u.a. geschrieben, die Berliner Polizei habe zwischen 2005 und 2010 jedes Jahr mehr „Hasskriminalität“ wegen der vermeintlichen sexuellen Orientierung des Opfers registriert. Die Ursachen der dahinterstehenden Homophobie lägen wahrscheinlich bereits im Kindes- und Jugendalter. „Schwul“ oder „Schwuchtel“ gehörten zu den beliebtesten Schimpfwörtern auf deutschen Schulhöfen. Lesbische, schwule und bisexuelle Schüler/innen sowie Schüler/innen, die sich nicht geschlechtskonform verhalten, würden häufiger Opfer von Mobbing und fühlten sich an ihrer Schule weniger sicher. Die Wahrscheinlichkeit eines Suizidversuchs sei bei ihnen 3,2-mal höher als bei heterosexuellen Jugendlichen.
2017 hatten Prof. Dr. Beate Küpper (Hochschule Niederrhein) und Dr. Ulrich Klocke – mit vielen anderen Wissenschaftler*innen – im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes die Studie „Einstellungen gegenüber lesbischen, schwulen und bisexuellen Menschen in Deutschland“ erstellt
In der Studie hatten sie u.a. 16- bis 29-Jährigen befragt, wie sie den schulischen Umgang mit sexueller Vielfalt erlebt haben. 64 Prozent der jüngeren Befragten berichteten, dass ihre Lehrkräfte nie Unterrichtsbeispiele oder Schulmaterialien verwendet hätten, in denen auch lesbische, schwule oder bisexuelle Personen vorkamen. Zudem berichteten 25 Prozent, dass ihre Lehrkräfte nie deutlich gemacht hätten, dass sie die abwertende Verwendung von Worten wie „Schwuchtel“, „Homo“, „Tunte“ oder „Lesbe“ nicht „okay“ fänden. Nur 41 Prozent berichteten, dass die Lehrkräfte meistens oder jedes Mal interveniert haben. Neben der Thematisierung sexueller Vielfalt durch Lehrkräfte wäre es auch ein Zeichen für eine offene und akzeptierende Schulatmosphäre, wenn Lehrkräfte und Mitschülerinnen zu ihrer nicht-heterosexuellen Identität stehen könnten, z.B. indem sie eine gleichgeschlechtliche Beziehung nicht verheimlichten. Leider zeigten die Ergebnisse, dass die Schulen von einer akzeptierenden Atmosphäre weit entfernt sind. 74 Prozent berichteten, dass es in ihrer gesamten Schulzeit keine einzige Lehrkraft gegeben habe, die mit der eigenen lesbischen, schwulen oder bisexuellen Orientierung offen umgegangen sei. 50 Prozent wussten noch nicht einmal von Mitschülerinnen oder Mitschülern zu berichten, die offen damit umgegangen seien.