Interview von Jürgen Salz 02. Januar 2022
Pockenimpfung: Als Deutschland die Impfpflicht einführte
Impfgegner leisteten erbitterten Widerstand – doch am Ende passierte das Gesetz den Reichstag. 1874 führte Otto von Bismarck die Pflicht zur Pockenimpfung ein – Deutschland wurde zum Vorbild in Europa. Eine Blaupause für Olaf Scholz? Ein Interview mit dem Historiker Bernd Gutberlet über erstaunliche Parallelen und frühe Fake News.
WirtschaftsWoche: Herr Gutberlet, Sie haben ein Buch über die Geschichte der Seuchen, insbesondere in Deutschland, geschrieben. Was können wir Corona-Geplagten aus der Historie lernen?
Bernd Ingmar Gutberlet: Ich wollte zeigen, dass es uns heute bei allem Schrecken und Horror, den das Coronavirus verbreitet, besser geht als früheren Generationen mit Pest oder Cholera, Tuberkulose oder Spanischer Grippe. Es ist gerade jetzt sehr aufschlussreich zu sehen, wie die Menschheit in früheren Jahrhunderten mit solchen Herausforderungen zurechtkam. Es gibt zahlreiche Parallelen, Ähnlichkeiten und Muster zur heutigen Zeit, natürlich auch Unterschiede.
Etwa beim Thema Impfpflicht, die gab es in Deutschland auch schon mal. Der Reichstag unter Bismarck beschloss 1874 die Pflicht zur Pockenimpfung. Was hat das Gesetz gebracht?
In den wenigen Jahren zuvor starben in Deutschland etwa 150.000 Menschen an den Pocken. Nach der Einführung der Impfpflicht wurde Deutschland eine weitgehend pockenfreie Zone mit einer Todesrate von unter 0,005 Prozent. Und ein Vorbild in Europa. Frankreich erließ erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Impfpflicht; unter anderem war Napoleon ein Gegner des Impfzwangs. In Deutschland stieg die Impfquote nach 1874 von etwa zwei Drittel auf zeitweise neunzig Prozent.
Gab es einen konkreten Auslöser für die Einführung der Impfpflicht?
Die Reichsgründung 1871 ermöglichte überhaupt erst eine nationale Impfpflicht. Zuvor existierten in einzelnen deutschen Staaten bereits Impfpflichten: zuerst 1805 im Fürstentum Hohenlohe-Langenburg; 1807 in den Flächenländern Bayern und Hessen-Darmstadt. In Preußen und im Königreich Westphalen gab es indirekte Impfpflichten – ohne Pockenimpfung kam niemand an eine Schule oder Universität. Oder eine für bestimmte Gruppen – Soldaten und Waisenkinder mussten geimpft werden. So ganz neu war das Thema also nicht. Der konkrete Auslöser war dann der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Unter den deutschen Soldaten, die weitgehend geimpft waren, lag die Zahl der Pockentoten relativ niedrig – im Gegensatz zur französischen Armee, die schlechter geschützt war. Durch die französischen Kriegsgefangenen verbreiteten sich die Pocken dann allerdings rasant in der weniger gut geschützten deutschen Zivilbevölkerung. Das führte dazu, dass Reichskanzler Otto von Bismarck im Februar 1874 das Impfgesetz im Reichstag einbrachte.
Was passierte mit denen, die sich verweigerten?
Der Staat verhängte Bußgelder, die aber in den jeweiligen Ländern unterschiedlich hoch ausfielen. Impfgegner mussten mit Gefängnisstrafen rechnen.
Wer hat denn die Einhaltung überwacht?
Im Deutschen Reich staatliche Behörden und Polizei. In der Frühzeit der Pockenimpfung Anfang des 19. Jahrhunderts waren es vor allem Lehrer und Pfarrer, die damals als Autoritätspersonen galten und die Impfung propagierten. Die sollten in ihren Gemeinden darauf achten, wer geimpft ist und wer nicht – und sprachen die Leute auch darauf an. Oft haben die Lehrer und Pfarrer die Lanzette dann auch selbst angesetzt. Die Preußen ließen die Pfarrer von der Kanzel predigen, dass die Impfung ein Geschenk Gottes sei.
Woher kam der Impfstoff? Wer war das Biontech des 19. Jahrhunderts?
Es gab ja noch keine Pharmaindustrie. Der Impfstoff wurde aus den Lymphen von Kühen gewonnen, die von den für Menschen ungefährlichen Kuhpocken infiziert waren. In Berlin gab es den Arzt Johann Immanuel Bremer, der aufs Land hinausfuhr, um von infizierten Kühen den Impfstoff zu gewinnen. Das staatliche Preußische Impfinstitut bereitete den Impfstoff dann auf, führte Statistiken und Dokumentationen, ließ Plakate und Informationsschriften drucken und verlieh Impfurkunden und -medaillen.
Was können nun Olaf Scholz und Karl Lauterbach aus den damaligen Erfahrungen lernen?
Die Situation damals und heute lässt sich ja schwer vergleichen. Die Pockenimpfung war die erste Impfung, die es weltweit jemals gab. Es gab noch kein Gesundheitswesen im heutigen Sinne, die Medikalisierung der Gesellschaft begann gerade erst. Bislang waren Mediziner für die Oberschicht da. Wissenschaftliche Standards und erprobte Verfahren bei Impfungen existierten noch nicht. Die Vorbehalte der Impfgegner waren also berechtigter als heute.
Gab es seinerzeit viele Impfgegner?
Durchaus, vor allem waren sie lautstark. Die ersten traten bereits um 1800 auf – kurz nachdem der britische Arzt Edward Jenner die ersten Pockenimpfungen vorgenommen hatte. Die Gegner argumentierten etwa, dass nichts Tierisches verimpft werden dürfe. Sie sprachen sich dagegen aus, das Selbstbestimmungsrecht der Menschen zu verletzen. Darunter fanden sich Naturmediziner, Tierversuchsgegner, Anhänger des Vegetarismus und Philosophen der Aufklärung. Sie misstrauten der Mehrheitsmeinung, der Wissenschaft und den Ärzten, denen sie Geldschneiderei und Profilierungssucht vorwarfen. Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Impfgegner zu, sogar eine eigene Zeitschrift gaben sie heraus – „Der Impfgegner“. Immerhin sorgte ihr Furor dafür, dass es strengere Vorgaben für Impfärzte gab und sich die Impfstoffqualität nach und nach verbesserte. Damit wurden Impfschäden seltener.
Woher kamen die Impfgegner?
Besonders viele fanden sich in Württemberg und Sachsen. In Sachsen gab es viele Anhänger der Alternativmedizin, das könnte eine Erklärung sein. Der Widerstand äußerte sich dort etwa darin, dass viele Sachsen versuchten, mit ärztlichen Bescheinigungen die Impfung zu umgehen.
Wer waren die führenden Köpfe bei den Impfgegnern?
Einer der ersten Kritiker war der damals schon sehr betagte Philosoph Immanuel Kant. Er argumentierte, die Pocken seien wie der Krieg ein Instrument der Natur gegen Überbevölkerung; ein menschliches Eingreifen sei inakzeptabel. Allerdings hat sich Kant nur am Rande mit dem Thema beschäftigt. Später waren es Leute wie der Stuttgarter Arzt Carl Georg Gottlob Nittinger, der jahrzehntelang mit sehr harten Bandagen gegen die Pockenepidemie kämpfte. Der Baden-Badener Bariton Carl Griebel wetterte gar gegen eine „Diktatur über Gesundheit“ und fabulierte von einer jüdischen Weltverschwörung. Antisemitismus war schon damals mit dabei in der Impfgegnerbewegung.
Bis heute scheint sich da nicht so viel geändert zu haben. War die Härte der Auseinandersetzung typisch?
Ganz klar. Auch ohne soziale Medien haben die Gegner seinerzeit Fake News verbreitet. Der publizistische Aufwand war beträchtlich. Da wurden Statistiken so zurecht gebogen, wie es passte. Menschen, die eines natürlichen Todes starben, wurden zu Impftoten erklärt. Oft war der Widerstand auch politisch dominiert: Das preußisch dominierte Kaiserreich hatte viele Gegner. Die Debatte im Reichstag war jedenfalls sehr erregt.
Wie knapp fiel denn am Ende die Entscheidung im Reichstag aus?
Trotz der Aktivitäten der Impfgegner erhielt das Gesetz dann doch mühelos die Mehrheit quer durch die Fraktionen, weil die Zahl der Pockentoten so hoch war. Viele Kritiker des Impfgesetzes saßen in der Reichstagsfraktion der katholischen Zentrumspartei. Die beiden liberalen Parteien unterstützen den Impfzwang. Sozialdemokraten und Konservative verfolgten keine einheitliche Parteilinie.
PS: Die allgemeine Impfpflicht gegen Pocken bestand in Deutschland bis 1975. Im Jahr 1959 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass die Impfpflicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Bernd Ingmar Gutberlet, Jahrgang 1966, ist Historiker und Autor zahlreicher Bücher. Im Herbst 2021 erschien sein Werk „Heimsuchung. Seuchen und Pandemien: Vom Schrecken zum Fortschritt“ (342 Seiten, Europa-Verlag). Daneben arbeitet Gutberlet als Stadtführer in Berlin.
Mehr zum Thema: Pandemien bringen Tod, Krankheit, Leid. Die Seuchen früherer Jahrhunderte induzierten aber auch höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Sie schufen eine neue Klasse von Medikamenten. Und sorgten für eine bessere Kanalisation in den Städten. Drei bedeutende Beispiele – und eine entscheidende Frage: Kann Corona etwas Positives bewirken?