Quelle: Rechercheverbund CORRECTIV und der Bayerische Rundfunk (BR)
Das unsichtbare Kind
Stefan ist sein echter Vorname, aber sein Nachname soll ungenannt bleiben. Der Missbrauch, der seine Kindheit bestimmte, soll nicht mit seinem heutigen Leben verbunden werden.
Die Geschichte, die er CORRECTIV und dem Bayerischen Rundfunk (BR) erzählt, legt offen, wie das System Missbrauch in der Kirche oft funktioniert, weil es in solchen Fällen nicht nur den einen Straftäter gibt, sondern viele Beteiligte auf allen Hierarchieebenen, die kaschieren, schweigen, Hinweise unterdrücken und die Taten so erst möglich machen.
Der Mann, der Stefan jahrelang missbraucht haben soll, hat 35 Jahre lang als Priester gearbeitet: Peter H., einer der notorischsten Missbrauchstäter in der katholischen Kirche. Wie aus Kirchenakten hervorgeht, soll H. mindestens 23 Jungen zwischen acht und 16 Jahren sexuell missbraucht haben.
Nun verleihen die Aussagen von Stefan dem Fall noch eine neue Tragweite: Zum ersten Mal geht ein Opfer aus der bayerischen Gemeinde Garching an der Alz an die Öffentlichkeit, wo H. ab Ende der 80er Jahre als Pfarrer tätig war. Bislang waren nur weiter zurückliegende Straftaten bekannt. Jetzt zeigt sich: Peter H. hat bis mindestens weit in die 90er Jahre völlig unbehelligt agiert – trotz einer rechtskräftigen Verurteilung 1986 und praktisch unter den Augen des Erzbistums München und Freising.
Recherchen von CORRECTIV und dem BR weisen außerdem nach, dass hohe Würdenträger nicht nur untätig blieben, sondern sich offenbar aktiv daran beteiligten, H. zu decken, sodass dieser immer neue Kinder missbrauchen konnte, und das bis heute straflos.
Der Fall Peter H. hat Schlagzeilen gemacht, auch international: 2010 deckte die New York Times auf, dass die Kirchen über Straftaten H.s Bescheid wusste und ihn trotzdem weiter als Pfarrer einsetzte. Für Empörung sorgten vor allem die Verstrickungen der Kirchenväter bis hoch zu Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI. Eine Recherche von CORRECTIV und ZDF-Frontal wies 2020 weitere Verbindungen zu Ratzinger auf.
Garching gehört zum Erzbistum München und Freising, wo Ratzinger bis zu seinem Wechsel in den Vatikan an der Spitze stand. Später stellte sich Pfarrer H. in Garching jahrelang einen Weihbischof als Aufpasser an die Seite, den eine enge Freundschaft mit Ratzinger verband – dieser unterband den Missbrauch nicht, sondern deckte den Täter.
Gegenüber CORRECTIV und BR lässt Ratzinger über seinen Privatsekretär George Gänswein „klarstellen, dass Papst emeritus Benedikt XVI. nicht über die gegen Pfarrer H erhobenen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs informiert war”. Aber es gibt Hinweise, die dieser Darstellung zu widersprechen scheinen.