Nukleare Abschreckung Theorie, Grenzen und Kritik

https://www.bpb.de/themen/militaer/deutsche-verteidigungspolitik/508040/nukleare-abschreckung/

Verteidigungspolitik Frank Sauer 06.05.2022

Nukleare Abschreckung Theorie, Grenzen und Kritik

Die Gefahr durch Nuklearwaffen in Europa ist wieder brandaktuell: Im Krieg gegen die Ukraine setzt Russland auf nukleare Drohungen. Aber funktioniert „nukleare Abschreckung“ – und wenn ja, wie?

Die nuklearen Arsenale Russlands und der USA schrumpften nach dem Ende des Ost-West-Konflikts drastisch. Trotzdem bleiben bis heute mehr als genug atomare Sprengköpfe, um eine zivilisationsgefährdende Katastrophe zu verursachen. Aktuelle Klimamodelle unterstützen die aus den 1980er-Jahren stammende Befürchtung eines „nuklearen Winters“: Ein umfassender nuklearer Schlagabtausch würde nicht nur Millionen von Menschenleben fordern – er würde so viel Staub in die Atmosphäre wirbeln, dass durch Dunkelheit und Kälte Pflanzenwachstum auf Jahre hin unmöglich würde. Die allermeisten Menschen und größeren Lebewesen würden dies nicht überleben.

Die Bedrohung durch einen Einsatz nuklearer Waffen bleibt unverändert. Aber im Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit spielten Nuklearwaffen in den letzten Jahrzehnten trotzdem kaum eine Rolle. Mit der Zerstörung der europäischen Sicherheitsarchitektur durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind sie nun zurück in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Abschreckung, so hört man nun wieder, solle den Einsatz von Nuklearwaffen verhindern. Aber funktioniert „nukleare Abschreckung“ zuverlässig – und wenn ja, wie?

Auf den ersten Blick ist die Antwort ganz einfach. Denn das Konzept der Abschreckung begegnet uns überall. Im Tierreich finden sich zahllose Beispiele dafür, wie Beutetiere durch Androhung von Gefahr mittels Farben oder Formen Angriffe von Fressfeinden abzuschrecken versuchen. Auch wir Menschen setzen in unserem Zusammenleben auf Abschreckung: So droht in modernen demokratischen Gesellschaften der Rechtsstaat mit Strafe, um Gesetzesbrüche zu verhindern.

Es geht bei Abschreckung also um die Androhung von Strafe, um das Verhalten des Gegenübers zu beeinflussen. Abschreckung ist demzufolge nicht Verteidigung. Vielmehr soll Abschreckung den Gegner vom Angriff abhalten, so dass eine Verteidigung gar nicht erst notwendig wird. Dreh- und Angelpunkt für funktionierende Abschreckung ist die Fähigkeit zu und die glaubwürdige Androhung von Bestrafung (oder Vergeltung). Dieser Mechanismus kommt bei der nuklearen Abschreckung in besonderem Maße zum Tragen – denn es brauchen nur einige wenige Nuklearwaffen ihr Ziel zu erreichen, um dem Gegner immensen Schaden zuzufügen. Eine wirksame Verteidigung gegen Nuklearwaffen ist kaum möglich.

Grundlagen nuklearer Abschreckung

Ohne die entsprechenden Kapazitäten kann keine Drohung mit nuklearer Vergeltung (Zweitschlag) aufrechterhalten werden. Sie soll den potenziellen Aggressor vor dem Überfall mit Nuklearwaffen (Erstschlag) abschrecken. Dies erfordert die Fähigkeit:

  1. zur stabilen, kosteneffizienten Aufrechterhaltung des Zweitschlag-Arsenals samt Maßnahmen gegen Fehlalarme und unbefugten Zugriff;
  2. einen gegnerischen Erstschlag frühzeitig erkennen zu können;
  3. die Entscheidung zum Zweitschlag zu fällen und an die ausführenden Stellen zu kommunizieren;
  4. zum Erreichen des gegnerischen Territoriums mit Trägersystemen, wie Flugzeugen oder Raketen;
  5. zur Überwindung gegnerischer Abwehrmechanismen;
  6. zur Zerstörung von Zielen trotz Verteidigungs- und Schutzmaßnahmen.

Die Kriterien 4 bis 6 erledigten sich spätestens ab den 1960er-Jahren mit der Einführung von mit Wasserstoffbomben bestückten Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen. Raketenabwehr ist so aufwendig und teuer, dass der Angreifer stets im Vorteil ist, denn einige Raketen werden immer ihr Ziel erreichen. Wasserstoffbomben entfalten zudem die tausendfache Sprengkraft der Bomben, die 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten.

Kriterien 1 und 2 werden in der Regel durch mobile Raketenträgersysteme oder U-Boote erfüllt, die die eigenen Vergeltungskapazitäten gegen einen Entwaffnungsschlag und die vollständige Ausschaltung schützen.  Nuklearwaffenstaaten gehen dabei unterschiedlich vor: Während die USA und Russland besonderen Aufwand mittels einer sogenannten Triade betreiben, indem sie ihr Nuklearwaffenarsenal auf landgestützte Interkontinentalraketen, luftgestützte Trägersysteme wie Bomber mit Marschflugkörpern sowie U-Boote mit Interkontinentalraketen verteilen, belassen es andere Länder, wie Frankreich, bei Marschflugkörpern und U-Booten oder, im Falle Großbritanniens, nur bei U-Booten.

Neben dem Vorhalten von Waffen und Trägersystemen muss für funktionierende Abschreckung der Wille zum Zweitschlag glaubhaft signalisiert werden. Die Theorie der nuklearen Abschreckung versucht die Probleme rund um das Senden und Empfangen solcher „glaubwürdigen Signale“ mittels spieltheoretischer Modelle auszuloten. Staaten werden dabei als rationale Akteure verstanden, die zwischen Kosten und Nutzen abwägen.

Die Abschreckungstheorie kennt dabei zwei idealtypische Möglichkeiten, um die Glaubwürdigkeit der Vergeltungsdrohung zu gewährleisten: Die Eskalation von Risiken und die Eskalation von Gewalt. Ziel in beiden Fällen ist Eskalationsdominanz, also dem Gegner glaubhaft zu signalisieren, dass man bereit ist, stets den einen entscheidenden Schritt weiterzugehen und er daraufhin einlenkt.

Das Modell der Risikoeskalation

Nach dem Risikoeskalationsmodell werden Krisen – nicht zwingend, aber durchaus auch in Form begrenzter, konventioneller (also nicht mit nuklearen Waffen geführter) Kriege – zu Wettkämpfen darum, wer durch die Eskalation der Krise das Risiko für den Beginn eines nuklearen Schlagabtauschs am höchsten treibt, ohne diesen Ausbruch tatsächlich auszulösen.

Der spieltheoretische Gedanke hinter dem Risikoeskalationsmodell ist der des „Chicken Game“, der Mutprobe zweier Autofahrer, die mit hohem Tempo aufeinander zurasen. Das Chicken Game veranschaulicht die Interessenlage in einer Konfliktsituation zwischen zwei Akteuren, in der zwar niemand einen Rückzieher machen will, gleichzeitig aber auch beide den tödlichen Zusammenprall nicht herbeiführen wollen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass derjenige der beiden gewinnt, der für den anderen deutlich sichtbar sein Lenkrad aus dem fahrenden Auto wirft. Denn selbst wenn er wollte, könnte er den Kurs nun nicht mehr ändern. Er erhöht damit das Risiko eines Zusammenpralls und zwingt gleichzeitig seinen Gegner zum Einlenken. Er hat die Risikoeskalationsdominanz.

Übertragen auf die nukleare Abschreckung zwischen Staaten führt die Anwendung dieses Prinzips dazu, dass bei einer Konfrontation widersinnig und gefährlich anmutende Praktiken erfolgversprechend erscheinen können. Um den Gegner zum Einlenken zu bringen, muss er nach dieser Logik etwa glauben gemacht werden, dass sich auf Seiten seines Gegenübers im Krisen- oder Kriegsfall das Risiko eines Fehlalarms oder eines versehentlich ausgelösten Erstschlags gefährlich erhöhen oder dass sich das Staatsoberhaupt tatsächlich in selbstmörderischer Manier für einen nuklearen Erstschlag entscheiden könnte.

Sobald aber mittels zuverlässiger Vergeltungsfähigkeit die gegenseitige Zerstörung gesichert (also der Zustand MAD, Mutual Assured Destruction, erreicht) ist, gilt: Wer als erstes schießt, ist als zweites tot. Damit wird nicht nur die Frage irrelevant, wer den nuklearen Erst- und wer den Zweitschlag ausführt. Nach einigen Wiederholungen verliert der „Mad Man“ mit dem Finger auf dem roten Knopf an Glaubwürdigkeit – insbesondere in Situationen, in denen keine existenziellen Interessen auf dem Spiel stehen. Mit anderen Worten: Die fortwährende Drohung mit der nuklearen Apokalypse verfängt irgendwann nicht mehr. Unter anderem deswegen wurde das Modell der Gewalteskalation entwickelt.

Das Modell der Gewalteskalation

In diesem Alternativmodell wird den nahezu unverwundbaren Arsenalen auf beiden Seiten Rechnung getragen, indem die Möglichkeit der gegenseitigen Vernichtung als gegeben, aber nicht länger als Teil der Drohung betrachtet wird. Soll die Kosten-Nutzen-Kalkulation des Gegners unter dieser Maßgabe noch manipuliert werden, so muss man mit etwas anderem drohen.

Das zweite Modell setzt dazu auf das Führen begrenzter Kriege und die Eskalation von Gewalt. Dazu wird ein Spektrum kontrolliert eskalierbarer Gewaltoptionen angenommen. Dem Gegner sollen Schritt für Schritt immer weiter steigende Schäden und Verluste aufgebürdet werden, die ihm das Erreichen seiner ursprünglichen Kriegsziele als zu kostenintensiv erscheinen lassen. Im Mittelpunkt steht die Demonstration von Entschlossenheit angesichts der Zerstörungen, die man selbst zu tragen hat. Seine Abschreckungswirkung erzielt dieses Modell also nicht im Risiko der totalen Vernichtung, sondern in den Kosten, die es dem Gegner in Aussicht stellt.

Auch das auf den ersten Blick schlüssigere Modell der Gewalteskalation hat seine Tücken. Erstens verlässt man sich darauf, dass der Gegner mit dem Rücken zur Wand letztlich doch nicht zu Nuklearwaffen greift. Zweitens beruht das Modell auf der Annahme eines geteilten Verständnisses der Eskalationsleiter – ganz so, als ob in der Praxis beide Seiten stets genau wüssten, auf welcher Stufe der jeweils andere gerade steht. Drittens muss dem Gegner Gewalt angetan werden. Die resultierenden Zerstörungen lassen sich jedoch – anders als Risiken – nicht wieder „deeskalieren“. Die Summe der Gewalt auf beiden Seiten bleibt also bestehen, auch wenn einer der beiden schließlich nachgibt. Die Gewalteskalation transportiert so zwar eine abschreckende Drohung, gleichzeitig unterminiert sie womöglich die Bereitschaft zum Frieden.

Kritik an der Theorie der nuklearen Abschreckung

An der Theorie der nuklearen Abschreckung lässt sich aber noch grundlegendere Kritik formulieren. Eine Fundamentalkritik an der Abschreckungstheorie bezieht sich auf die vereinfachende Annahme der rational im Sinne einer Kosten-Nutzen-Kalkulation handelnden Akteure. Historische Fallstudien legen nahe, dass diese theoretische Annahme sich mit dem Verhalten realer Entscheidungsträger*innen nicht deckt. So gut wie nie wählten diese in Krisen absichtlich und in kalkulierter Weise Handlungsoptionen, mit denen übermäßiger Druck auf ihr Gegenüber ausgeübt worden wäre. Vorsicht, Besonnenheit und Angst sind weit häufiger anzutreffen als die Bereitschaft zur gezielten Risiko- oder Gewalteskalation. Die intensiv erforschte Kuba-Krise gilt dafür in der Fachliteratur als ein besonders nachdrücklicher historischer Beleg.

Auch eine Reihe anderer vereinfachender Annahmen lassen sich hinterfragen. So schlüpfen etwa durch die groben Maschen des Chicken Game nicht nur die Nuancen des politischen Geschäfts. Ganz entscheidende Aspekte, wie etwa der Einfluss dritter Akteure, Belohnungen aufgrund bewältigter Krisen oder auch die Möglichkeit eines Kompromisses bleiben außen vor. Darüber hinaus kann in der Praxis nicht unterstellt werden, dass Signale wie im Modell tatsächlich empfangen und korrekt interpretiert werden. Die Gefahr von Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen zwischen Nuklearmächten wiegt in der Abschreckungspraxis enorm schwer.

Die Psyche von Entscheidungsträgern, ihre Wertvorstellungen und kulturellen Hintergründe ebenso wie die innere Verfasstheit von Staaten und Entscheidungsprozesse in Regierungsapparaten kommen in der Theorie der nuklearen Abschreckung gar nicht vor. Ihren schärfsten Kritikern gilt die Abschreckungstheorie daher als ebenso theoretisch elegant wie praktisch irrelevant.

Abgerundet wird die Kritik durch einen letzten, fundamentalen Zweifel. Da seit Hiroshima und Nagasaki kein Nuklearwaffeneinsatz mehr stattgefunden hat, lässt sich streng genommen kein Kausalzusammenhang zur Abschreckung herstellen. Der seit 1945 anhaltende Nicht-Gebrauch von Nuklearwaffen ist eben genau das, ein Nicht-Ereignis. Und Ursachen sind dort, wo keine klar beobachtbaren Effekte sichtbar werden, eben bestenfalls näherungsweise, im strengen Sinne gar nicht, festzumachen. Blieb der Nuklearkrieg bisher also wirklich wegen oder vielleicht eher trotz der nuklearen Abschreckung aus?

Nukleare Abschreckung: Eine Einordnung

Trotz der fundamentalen Kritik an der Theorie der Abschreckung und den Zweifeln an ihrer genauen Wirkung in der Praxis wäre es übertrieben, nuklearer Abschreckung gänzlich die Bedeutung abzusprechen.

Denn es ist, wenngleich nicht erwiesen, so doch zumindest plausibel, dass sie das Verhalten und Entscheidungen von Staaten beeinflusst. Die Vermutung, dass nukleare Abschreckung zwar praktisch relevant, aber theoretisch nicht zufriedenstellend erfasst ist, treibt die Forschung weiter an.

Statt nukleare Abschreckung als einen modellhaften, reproduzierbaren Mechanismus zwischen automatenhaft-rational funktionierenden Staaten zu verstehen und zu beschreiben, bekommen die Staatskunst und das Handeln und Empfinden von politischen und militärischen Entscheidungsträger*innen mehr Gewicht. Die Zweifel an der Berechenbarkeit der US-Nuklearpolitik während der Präsidentschaft Donald Trumps sind dafür genauso beispielhaft wie die aktuellen Versuche, die persönliche Risiko- und Eskalationsbereitschaft des russischen Präsidenten Wladimir Putin einzuschätzen. Die von Rationalitätsannahmen verdrängte Bedeutung von Emotionen systematisch zu berücksichtigen ist nur ein Beispiel für solche neueren wissenschaftlichen Ansätze – denn Furcht ist ganz offensichtlich der Dreh- und Angelpunkt der Ab-schreck-ung. Damit kehrt die Forschung auch zu den Wurzeln der akademischen Beschäftigung mit nuklearer Abschreckung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, als über nukleare Abschreckung noch weniger Interner Link: rationalistisch und szientistisch nachgedacht wurde.

Nukleare Abschreckung und der Krieg in der Ukraine

Ordnet man den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in das oben entwickelte theoretische Gerüst ein, so lassen sich einige Aspekte besser systematisieren. Zugleich begegnen uns die bereits bekannten Blindstellen und Fallstricke der Abschreckung wieder.

Russlands wiederholte nukleare Drohungen sind leicht als Risikoeskalation zu erkennen. Das Warnen vor dem Überschreiten der nuklearen Schwelle soll den Westen zum Einlenken bei Wirtschaftssanktionen sowie der Unterstützung der Ukraine zwingen. Russlands Bedrohungspotenzial ist dabei beträchtlich. Schon seit Jahren sind etwa Iskander-Raketen in der russischen Enklave Kaliningrad stationiert. Sie können mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückt werden, reichen bis nach Berlin, und ihre Flugzeit beträgt nur wenige Minuten. Ob Wladimir Putin die rote Linie zu einem Nuklearwaffeneinsatz aber wirklich überschreiten würde – gegen welche Ziele, in der Ukraine oder gar in Europa, unter welchen Umständen – bleibt Spekulation. Er müsste mit exorbitanten Kosten für sich und sein Land rechnen. Und das oben beschriebene Problem des Glaubwürdigkeitsverlusts nach der x-ten Drohung stellt sich auch für ihn.

Um die Risikoeskalation nicht zu befördern, verzichten die westlichen Staaten bisher auf jegliche gleichrangige Reaktion. Die USA verschieben eigene Raketentests und verurteilen das russische Säbelrasseln als unverantwortlich, und in Europa bleiben Fingerzeige auf Externer Link: die nukleare Teilhabe oder eigene nukleare Fähigkeiten bislang aus. Die Gefahren durch Fehlwahrnehmung oder ein unabsichtliches Auslösen eines Nuklearschlags stehen allen Entscheidungsträger*innen zweifelsohne klar vor Augen.

Zeitgleich eskalieren sowohl Russland als auch die dank westlicher Hilfe mit Waffen, Gerät und Munition gestärkte Ukraine Gewalt. Die Kriegsparteien ringen mit konventionellen Mitteln um die Eskalationsdominanz. Die Verlautbarungen aus Moskau lassen hier erwarten, dass Verhandlungen um eine Waffenruhe wohl erst dann Aussicht auf Erfolg haben werden, wenn das angreifende Russland sich von weiterer Eskalation keine Gewinne mehr verspricht.

Die komplexe Gleichzeitigkeit von Risiko- und Gewalteskalation zeigt bereits, dass die idealtypischen Modelle in der Analyse nur bedingt weiterhelfen. In der Realität sind sie selten klar zu trennen und treten fast immer miteinander verquickt auf. Des Weiteren unterstreicht der russische Krieg gegen die Ukraine nachdrücklich, dass Nuklearwaffen politische – keine militärischen – Waffen sind. Denn aus militärischer Sicht existieren weder in der Ukraine noch irgendwo sonst auf der Welt legitime Ziele für Nuklearwaffen. Ihre explosive Wirkung ist immer zu massiv, die Folgen ihres Gebrauchs immer zu dramatisch, eine Vereinbarkeit mit dem Kriegsvölkerrecht immer unmöglich.

Selbst aus der Sicht eines Wladimir Putins wäre der Einsatz einer Nuklearwaffe das Überschreiten einer international wohlverstandenen Grenze, ein gezielter Tabubruch. Deswegen werden gegenwärtig auch Szenarien diskutiert, in denen Russland eine Nuklearwaffe über der Ostsee oder dem Schwarzen Meer – also gleichsam „nur“ zu Demonstrationszwecken – zünden könnte.

Zu guter Letzt bleiben die oben diskutierten Schwierigkeiten des Gewalteskalationsmodells. Können die Ukraine und der Westen verlässlich genug einschätzen, auf welcher Eskalationsstufe Russland – mithin Putin persönlich – sich im Ukrainekrieg selbst sieht? Historische Beispiele legen nahe, dass unterlegene Gegner Nuklearmächte durchaus mit konventionellen Mitteln zurückschlagen können, ohne damit unweigerlich eine nukleare Reaktion auszulösen. So haben die USA letztlich weder im Korea- noch im Vietnamkrieg zu Nuklearwaffen gegriffen, ebenso wenig die Sowjetunion im Afghanistankrieg. Auch ein hart sanktioniertes und in der Ukraine militärisch scheiterndes Russland greift also nicht zwangsläufig zu Nuklearwaffen. Aber weil Abschreckung eben keine nach Naturgesetzen funktionierende politische Physik ist, sondern von Menschen gemacht werden muss und folglich immer auch scheitern kann, bleibt das Restrisiko, das Nuklearwaffen per se problematisch macht.

Abschreckung und Rüstungskontrolle

Schon die frühsten Schriften zur nuklearen Abschreckung erkannten sie als paradoxes Unterfangen: Indem man mit ihr alles darauf ausrichtet, die Welt jederzeit in die Luft sprengen zu können, soll man eben jenes niemals tun müssen.

Es scheint dringend geboten, politisch so zu handeln, dass man nie gänzlich und ausschließlich auf nukleare Abschreckung angewiesen ist. Rüstungskontrolle ist daher seit Jahrzehnten, insbesondere nach dem Schock der Kuba-Krise, gleichsam die Kehrseite der Abschreckung. Sie soll Vertrauen aufbauen und Schritt für Schritt das im „Gleichgewicht des Schreckens“ angelegte Vernichtungsrisiko reduzieren. Die Erosion einiger bedeutender Rüstungskontrollverträge in den letzten zehn Jahren ist deswegen Anlass zu großer Sorge – für Europa ist dabei insbesondere das Ende des INF-Vertrags bedauerlich. Dieser hatte in Europa über 30 Jahre lang die Gefahr durch nukleare Mittelstreckenraketen entschärft.

Strategien aus dem Kalten Krieg taugen nur bedingt zum Umgang mit dem wieder erstarkenden nuklearen Risiko. Denn die Sicherheitslandschaft in Europa und auf der Welt ist komplizierter geworden. Die Zahl der Nuklearwaffenstaaten hat zugenommen. Konventionelle Hightech-Waffen, die Möglichkeit zu militärischen Operationen im Cyberraum und eine manipulationsanfällige globale Informationslandschaft verkomplizieren die Beziehungen zwischen Nuklearwaffenstaaten zusätzlich.

Einen Meilenstein konnte die nukleare Rüstungskontrolle zuletzt verbuchen: Am 22. Januar 2021 trat der Atomwaffenverbotsvertrag (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) in Kraft, der Nuklearwaffen, genau wie Bio- und Chemiewaffen, verbieten und ihre Zahl weltweit auf Null reduzieren will. Doch kein Nuklearwaffenstaat hat unterzeichnet oder wird dies in absehbarer Zukunft tun. Das erstrebenswerte Ziel einer atomwaffenfreien Welt rückt aktuell eher in die Ferne. Wir werden mit nuklearer Abschreckung gezwungenermaßen noch eine Weile leben müssen.

Quellen / Literatur

  • Brodie, Bernard (Hrsg.). 1946. The Absolute Weapon: Atomic Power and World Order. New York, NY.
  • Blight, James G. 1990. The Shattered Crystal Ball: Fear and Learning in the Cuban Missile Crisis. Savage, MA.
  • Jervis, Robert. 1984. The Illogic of American Nuclear Strategy. Ithaca, NY.
  • Lebow, Richard Ned/Gross Stein, Janice. 1994. We All Lost the Cold War, Princeton, NJ.
  • Sauer, Frank. 2015. Atomic Anxiety: Deterrence, Taboo and the Non-Use of U.S. Nuclear Weapons. London.
  • Schelling, Thomas C. 1979 [1960]. The Strategy of Conflict. Cambridge, MA.

Informationen zu den weilweiten Nukleararsenalen bieten u.a.:

 

Aufrüstung der Bundeswehr – Bedarfsorientierte Sicherheitspolitik für friedliche und nachhaltige Entwicklung

Quelle: Blog 17.ziele.de 

Aufrüstung der Bundeswehr

Bedarfsorientierte Sicherheitspolitik für friedliche und nachhaltige Entwicklung

Mit dem Beschluss der Bundesregierung im Jahr 2022 ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Ausrüstung der Bundeswehr zur Verfügung zu stellen und in den folgenden Jahren mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Verteidigung zu investieren stellt sich die Frage, welche Konsequenzen dies in anderen Bereichen haben wird. Worin die Gefahren einer solchen Politik mit Blick auf eine nachhaltige Entwicklung der deutschen und der internationalen Gemeinschaft liegen, erfahren Sie in diesem Blogbeitrag.

Angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine ist es ein politisch nachvollziehbarer Schritt, die Fähigkeiten zur Verteidigung zu erhöhen und dies auch gegenüber Russland, den NATO-Partnern, wie auch der deutschen Bevölkerung zu signalisieren. Deutschland investiert jedoch bereits viel Geld in sein Militär. Innerhalb der letzten 20 Jahre hat es seine Militärausgaben auf über 50 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020 verdoppelt und liegt damit in absoluten Zahlen sogar knapp vor der Nuklearmacht Frankreich.2 Wenn die Bundeswehr zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrags zu schlecht ausgestattet ist, kann dies nicht in erster Linie am Geld liegen. Die angekündigte Erhöhung der Mittel wird dieses Problem folglich auch nicht unbedingt lösen.

Vielmehr sollte eine Fokussierung auf das Aufgabenprofil der Bundeswehr und das dafür nötige Fähigkeitsspektrum den Ausgangspunkt für eine klare Bedarfsplanung in Abstimmung mit den Bündnispartnern bilden. Das gilt insbesondere deshalb, weil die Erhöhungen im angedachten Ausmaß eine Reihe von Problemen aufwerfen, die bislang wenig Beachtung gefunden haben.

Friedenssicherung durch Rüstungskontrolle

Es besteht die Gefahr, dass eine massive Erhöhung der Militärausgaben (von Deutschland und weiteren NATO-Staaten) das globale Aufrüsten, das wir schon seit Jahren beobachten, weiter vorantreibt. Diese Rüstungsdynamik steht dem SDG 16 (Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen) entgegen: Die Eindämmung des internationalen Waffenhandels trägt zur Prävention von Konflikten bei – die Basis, um friedliche und inklusive Gesellschaften nachhaltig zu fördern.3

Auch wenn es mit der gegenwärtigen russischen Führung keine gemeinsame Vertrauensbasis für Abrüstung gibt, müssen wir heute die rüstungskontrollpolitischen Konzepte für morgen entwickeln, um den Trend des Anstiegs der weltweiten Militärausgaben wieder zu stoppen und umzukehren. Um die militärische Sicherheit für alle Parteien mittel- bis langfristig zu erhöhen, muss zwingend das klassische sicherheitspolitische Instrument der Rüstungskontrolle zur Anwendung kommen. Denn auch die Beziehungen zwischen sicherheitspolitischen Rivalen sind nie rein konfrontativer Natur. Es gibt immer auch gemeinsame Interessen. Im Zeitalter nuklearer Waffen ist dies insbesondere die Vermeidung eines Nuklearkrieges. Der Ausbruch eines solchen Krieges wäre eine Katastrophe für die Menschheit und würde sämtliche Nachhaltigkeitsbemühungen in allen betroffenen Gebieten langfristig zerstören.

Die Förderung von Nachhaltigkeit bedeutet Investitionen in Milliardenhöhe

Aktuelle Probleme wie der Klimawandel oder die Corona-Pandemie haben zudem gezeigt, dass menschliche Sicherheit mehrdimensional verstanden werden muss und nur kollaborativ mit anderen Staaten erreicht werden kann. Wie Finanzminister Christian Lindner ausführte, sind die Mittel des Sondervermögens kein Vermögen im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine Leihe aus der Zukunft. Eine Leihe, die mittel- und langfristig schnell eine schwere Bürde werden kann, da wichtige Investitionen in erneuerbare Energien, für das Gesundheitssystem und zur Katastrophenvorsorge automatisch geringer ausfallen werden.

Mit der Verengung des Sicherheitsverständnisses und dem damit einhergehende Fokus auf Investitionen ins Militär besteht dementsprechend die Gefahr, dass damit Ressourcen gebunden werden, die wir dringend für die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft brauchen. Mit Blick auf die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele SDG 3 (Gesundheit und Wohlergehen), SDG 7 (Bezahlbare und erneuerbare Energien) und SDG 13 (Maßnahmen zum Klimaschutz) bleiben die Herausforderungen groß:

Bis 2030 fehlt voraussichtlich einem Drittel der Weltbevölkerung eine essenzielle Gesundheitsversorgung, die Lage hat sich durch die Corona-Pandemie noch verschärft.4 Deutschland engagiert sich vor allem in Afrika und Asien für die Gesundheitsversorgung und stellt jährlich über eine Milliarde Euro zur Verfügung und ist damit einer der größten Mittelgeber in diesem Bereich.5

Mit Blick auf das SDG 13 ist die internationale Gemeinschaft „immer noch weit von dem Ziel des Übereinkommens von Paris entfernt, die Erderwärmung auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen und bis 2050 weltweit CO2-Neutralität zu erreichen.“6 Im Rahmen der Weltklimakonferenz (COP 26) in Glasgow 2021 zeigte sich, dass die derzeitigen Klimaschutzbeiträge der Unterzeichnerstaaten des Pariser Abkommens bei Weitem nicht ausreichen, um das 1,5 °C-Ziel zu erreichen und die globale Erwärmung bei Umsetzung der aktuellen Pläne sogar bei 2,7 °C liegen würde.7 Auch der Ausbau erneuerbarer Energien verläuft weltweit nicht schnell genug, um die Klimaziele zu erreichen.8 Umfangreiche Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen, die Gewinnung erneuerbare Energien und die Dekarbonisierung der Wirtschaft  sind folglich unabdingbar – sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene.

Laut einer KfW-Studie aus 2021 kostet allein Deutschland die bis 2045 angestrebte Klimaneutralität rund 5 Billionen Euro – jährlich müssten durchschnittlich 191 Milliarden Euro (5,2% des BIP) in Klimaschutzmaßnahmen investiert werden.9 Die Bundesregierung hat angekündigt, bis 2026 insgesamt rund 200 Milliarden Euro in den Klimaschutz zu investieren.10 Es ist jedoch fraglich, ob die geplanten Mittel ausreichen, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.

Vor diesem Hintergrund stellt die bedingungslose Festlegung auf eine Untergrenze für Militärausgaben, wie sie das Zwei Prozent-Ziel darstellt, eine Gefahr für nachhaltige Entwicklung – nicht nur in Deutschland – dar. Stattdessen ist eine bedarfsorientierte Planung geboten, die zumindest mittelfristig von einem Bemühen um Rüstungskontrolle flankiert wird und Spielräume für Investitionen zur Erreichung der SDGs lässt.

1 Der vorliegende Blogbeitrag basiert auf einer Greenpeace-Kurzstudie von Dr. Markus Bayer und Dr. Max Mutschler.

Sie ist unter dem Originaltitel „Aufrüstung der Bundeswehr. Bedarfsorientierte Sicherheitspolitik oder Zwei-Prozent-Fetischismus“ erschienen und abrufbar unter: https://www.greenpeace.de/publikationen/neu_s03891_gp_aufruestung_kurzstudie_03_22.pdf

2 Einen genaueren Überblick zu den Zahlen finden Sie in der vollständigen Kurzstudie: https://www.greenpeace.de/publikationen/neu_s03891_gp_aufruestung_kurzstudie_03_22.pdf

3 Vgl. https://www.bmz.de/de/agenda-2030/sdg-16#anc=Was

4 Vgl. https://www.bmz.de/de/agenda-2030/sdg-3

5 Vgl. https://www.bmz.de/de/agenda-2030/sdg-3

6 Ziele für nachhaltige Entwicklung. Bericht 2021, S. 52, abrufbar unter: https://www.bmz.de/de/agenda-2030/sdg-13#anc=Zahlen

7 Vgl. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/unep-bericht-klimaschutz-plaene-co2-ausstoss-100.html

8 Vgl. https://www.energiezukunft.eu/wirtschaft/mehr-erneuerbare-braucht-die-welt/

9 Vgl. https://www.kfw.de/%C3%9Cber-die-KfW/Newsroom/Aktuelles/Pressemitteilungen-Details_673344.html

10 https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/200-milliarden-fuer-klima-und-energiesicherheit-bis-2026,SzKnUpO

Humanitäre Krisen: Grüße aus dem Jemen, aus Äthiopien und aus Somalia

Quelle: https://www.zeit.de/politik/familie/2022-05/humanitaere-krisen-ukraine-krieg-berichterstattung-5vor8 –  Andrea Böhm 5. Mai 2022

Humanitäre Krisen: Grüße aus dem Jemen

Die Journalistin Andrea Böhm ist im April zwei Wochen durch die Ukraine gereist und war schockiert von den Gräbern der „notdürftig verscharrter Opfer“ und den zerstörten Wohnhäusern. Sie war beeindruckt von der ukrainischen Zivilgesellschaft, „die seit Kriegsbeginn umkämpfte Städte versorgt und Evakuierungen organisiert“. Sie spürte aber auch ein „Unbehagen“ angesichts der „Trauben von Fotografen und Reporterinnen“ in Butscha und Irpin, mit der „Welle von Titelgeschichten, Sondersendungen und Schlagzeilen über diesen Krieg“. Sie selbst beschäftig sich eher mit Ländern in Afrika und Nahost. Mit jedem weiteren Tag in „Kiew, Butscha, Irpin oder Tschernihiw“ wurde ihr klarer, „welche existenziellen Krisen in diesen vermeintlich fernen Regionen nun vollends von unserem medialen Radarschirm verdrängt werden“.

Sie weist zurecht darauf hin, dass der momentan brutalste Krieg nicht in der Ukraine stattfindet, sondern in Äthiopien. Nach Schätzungen von Experten sind dort seit Ausbruch der Kämpfe zwischen Rebellen und Regierung im November 2020 500.000 Menschen getötet worden – durch Waffengewalt, absichtlich herbeigeführten Hunger oder weil die medizinische Versorgung zusammengebrochen ist.

Sie schreibt weiter: „Die größten humanitären Krisen der Welt spielen sich in diesen Monaten nicht in Osteuropa ab, sondern in Ländern wie dem Jemen oder Somalia. Im Jemen brauchen 23 Millionen Menschen, fast drei Viertel der Bevölkerung, Nothilfe, um zu überleben. In Somalia hält die längste Dürre seit Jahrzehnten an und gefährdet das Überleben von Hunderttausenden“.

Selbstkritisch reflektiert sie die „Falle“, die sie oft „am Krisenjournalismus“ zweifeln lässt: die  „Aufmerksamkeitsökonomie“, „der sich nicht nur meine Zunft, sondern auch Hilfsorganisationen unterwerfen“. Schlagzeilen wie Spendengelder seien begrenzte Ressourcen, um die mit möglichst dramatischer Sprache und emotionalisierenden Bildern konkurriert werde. Sie könne die Schlagworte selbst nicht mehr hören, die sie selbst benutze: „schlimmster Krieg“, „größte humanitäre Katastrophe“. Diese Schlagworte würden sich immer schneller abnutzen, je „schneller sich die Katastrophen häufen“

Sie empfiehlt uns Leser*innen: „Lernen Sie, die Komplexität zu lieben.“ Wenn wir begreifen würden, dass (fast) alles mit (fast) allem zusammenhängt, würde uns zum Beispiel auffallen, „dass die westlichen Staaten zwar ihre Abhängigkeit von russischen fossilen Energien zu kappen versuchen, damit aber auch einen weltweiten Run auf Erdgas und Erdöl aus anderen Quellen auslösen. Und dass Moskau sein Erdöl und Erdgas jetzt zu niedrigeren Preisen an Länder verkauft, die sich nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligen. China zum Beispiel“.

Sie beendet die Kolumne mit zwei positiven Nachrichten:  Im Jemen ist seit Anfang April ein Waffenstillstand in Kraft, der erste landesweite seit sechs Jahren. Dazu haben die UN maßgeblich beigetragen. In Äthiopien hält zwar die tödliche Belagerung der aufständischen Region Tigray durch Regierungstruppen und mit ihnen verbündete Milizen weiter an. Doch beide Seiten sind derzeit wenigstens in Gesprächen. Dazu dürften – so Andrea Böhm – die verhängten und angedrohten neue US-Sanktionen beigetragen haben.

Asow, Bandera und Co.: Was steckt hinter Putins Narrativ von „Nazis“ in der Ukraine?

https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2022/05/05/asow-bandera-und-co-was-steckt-hinter-putins-narrativ-von-nazis-in-der-ukraine/

Hintergrund von Uschi Jonas 05. Mai 2022

Asow, Bandera und Co.: Was steckt hinter Putins Narrativ von „Nazis“ in der Ukraine?

Wladimir Putin rechtfertigt seinen Einmarsch in die Ukraine damit, das Land von Faschisten befreien zu wollen – immer wieder fällt in der russischen Propaganda der Name Asow. Wir haben mit ukrainischen und internationalen Experten über den Einfluss rechtsextremer Gruppen in der Ukraine gesprochen.

Auszug:

Es bleibt schwierig, Asow und seine Mitglieder einheitlich einzuordnen. Von außen lässt sich beobachten, dass Asow 2015 das Neonazi-Symbol der Schwarzen Sonne aus seinem Logo entfernte. Mit der Wolfsangel bleibt aber dennoch ein Symbol im Wappen des Regiments bestehen, das zur Symbolik der SS gehörte. Nicht erst seit der russischen Invasion Ende Februar 2022 gibt es zudem Berichte darüber, dass Asow versucht, europaweit Kämpfer zu rekrutieren und dabei auch gezielt Neonazis anspricht und an der Waffe ausbildet. Schon seit Jahren existieren beispielsweise Verbindungen zwischen Asow und Mitgliedern der deutschen Neonazi-Kleinspartei „Der III. Weg“. Laut der Amadeu-Antonio-Stiftung soll die Partei Ausrüstung an „nationalistische Einheiten“ geliefert haben, es wird vermutet, dass Mitglieder an die Front in die Ukraine gereist sein könnten.

Welche Rolle spielt das Asow-Regiment aktuell im Krieg?

Fest steht: Asow hat einen relevanten Stellenwert im ukrainischen Militär. Das Regiment werde, sagt Bürgerrechtlerin Khromykh, als eine der modernsten und fähigsten Militäreinheiten des Landes angesehen. Vor allem auch deswegen, weil die Mitglieder viel Kampferfahrung hätten. Auch wenn Asow mit nur ein paar tausend Soldaten unter den insgesamt rund 500.000 Soldaten im ukrainischen Militär eine Minderheit darstelle, seien sie militärisch wichtig, schildert auch die Sprecherin der Amadeu-Antonio-Stiftung. Denn sie schulten andere im Kampf, verteilten Waffen an Zivilisten und seien zentral in strategische Prozesse eingebunden. Was das konkret bedeutet, lässt sich schwer prüfen. Das Regiment verteidigte wochenlang Mariupol am Asowschen Meer gegen die Angriffe Russlands.

Andere rechtsextreme und patriotische Gruppierungen in der Ukraine

Es gibt noch weitere, kleine außerparlamentarische Gruppierungen, die als nationalistisch, rechtskonservativ oder rechtsextrem eingeordnet werden. Zum Beispiel „Tradition und Ordnung“, „C14/Gesellschaft der Zukunft“, „Katechon“, die „Schwes­tern­schaft der hei­li­gen Olga“ oder „Centuria“. Sie organisieren Demonstrationen, Fackelmärsche und machen mit Gewaltaktionen auf sich aufmerksam. Khromykh sagt, „Tradition und Ordnung“ sei beispielsweise eine recht junge, patriotische Gruppierung. „Sie unterstützten aber im letzten Jahr unerwartet den berüchtigtsten russischen Lobbyisten und Geldgeber vieler pro-russischer Projekte, Viktor Medvedchuk“. „C14“ hingegen sei eine der ältesten noch aktiven rechtsradikalen Gruppen des Landes. Ihre Mitglieder würden immer wieder durch Belästigung und Diskriminierung von Roma auffällig.

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges sei es ruhig um die Gruppierungen geworden: „Keine Gruppierung, die als radikal angesehen werden könnte, hat zur Zeit irgendeinen Einfluss auf die Legislative, die Judikative oder die Exekutive“, sagt Khromykh. Und die ​​Politikwissenschaftlerin Zhurzhenko sagt, die beiden Gruppen seien klein und generell einer breiteren Öffentlichkeit in der Ukraine kaum bekannt.

Ein weiterer Baustein der Propaganda: Stepan Bandera

Eine weitere Bewegung mit dem die russische Regierung ihren Krieg rechtfertigen will sind Stepan Bandera und seine Anhänger. Bandera wurde zur Symbolfigur des Nationalismus in der Ukraine. Er war einer der Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die seit den 1930er Jahren für die Unabhängigkeit des Landes kämpfte. Bandera, 1959 vom KGB ermordet, wird von Experten als Faschist bezeichnet.

Vor dem 2. Weltkrieg sagte er laut der Bundeszentrale für politische Bildung, dass „Tausende Menschenleben geopfert werden müssen“, damit die Ukraine ein unabhängiger Staat werden könne. Um das zu erreichen waren für ihn auch Gewalt und Terror als Mittel legitim; das Land sollte außerdem von Juden, Polen, Russen und anderen „Feinden“ der Organisation „gesäubert“ werden.

Im Juli 1941 wurde er von Nazi-Deutschland verhaftet, die OUN half Deutschland dennoch bei der Ermordung von Juden in der Westukraine. Banderas Erbe ist in der Ukraine umstritten. Das Zentrum für Liberale Moderne schildert, dass auch heute noch „natio­nal­ge­sinnte Ukrai­ner“ teilweise als Bandera-Anhän­ger beschimpft würden, gleichzeitig andere die „abwer­tend gemeinte Bezeich­nung als Ehren­na­men“ für sich übernehmen würden. Vor allem im Westen des Landes werde er teilweise als Nationalheld gefeiert, jedes Jahr würden Nationalisten mit Märschen den Geburtstag Banderas feiern.

Auch gibt es im Land zahlreiche Denkmäler für Bandera, Straßen sind nach ihm benannt und der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, legte 2015 Blumen an seinem Grab nieder. 

Im Osten des Landes sähen hingegen viele Menschen Bandera als Nazi-Kollaborateur, schildert der schwedische Historiker Per Anders Rudling der ARD. Er bezeichnet das Bild von Bandera in der Ukraine als „verklärt“. Man könne ihn und seine Bewegung als faschistisch und „stark am Holocaust beteiligt“ bezeichnen. Andere Experten geben zu bedenken, dass dem Kult um die Person Banderas ein zu hoher Stellenwert zugeschrieben werde. In den vergangenen Jahren werde der Kult um ihn im Land zunehmend hinterfragt, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung.

Der Einfluss rechtsextremer Gruppen ist in der Ukraine in den vergangenen Jahren gesunken

Der Einfluss rechtsextremer Gruppierungen sei in den vergangenen Jahren insgesamt eher gesunken, sagt die Sprecherin der Amadeu-Antonio-Stiftung: „2014 gab es noch mehr rechtsextreme Unterwanderung, vor allem im Militär, die aber auch versuchten, nach politischer Macht zu greifen“. Inzwischen stellten die Rechtsextremen in der Gesellschaft der Ukraine aber eine deutliche Minderheit dar.

Zu einer etwas anderen Einschätzung kam im Jahr 2020 noch die NGO Freedom House in einem Spezialbericht. Dort heißt es, der Krieg im Osten des Landes habe eine neue gesellschaftliche Legitimität für rechtsextreme Gruppen geschaffen. Viele junge Menschen hätten sich rechten paramilitärischen Gruppen zugewandt, da sie in der Mitgliedschaft die Möglichkeit gesehen hätten, „das ukrainische Heimatland gegen vermeintliche innere Feinde zu verteidigen“.

Nationalistisch eingestellt sein bedeute in der Ukraine vor allem, die Unabhängigkeit des eigenen Landes zu bewahren, und sei eher Patriotismus als ein ausschließender Nationalismus, sagt Osteuropa-Experte Härtel. Auch die Tatsache, dass Militarismus im Land zugenommen habe, müsse man immer vor dem Hintergrund des Krieges von 2014 einordnen. Deshalb findet es der Osteuropa-Experte eher überraschend, dass Radikale in der Ukraine keine stärkere Rolle spielten.

Im Bericht von Freedom House heißt es weiter, Petro Poroschenko, ukrainischer Präsident von 2014 bis 2019, habe mit Slogans wie „Armee, Sprache, Glaube!“ Patriotismus in der Gesellschaft befeuert. Die Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten im April 2019 habe jedoch einen Wendepunkt markiert. Bereits in den ersten Monaten nach seinem Amtsantritt seien weniger Aktivitäten der extremen Rechten beobachtet worden, was sich beispielsweise am Rückgang gewalttätiger Vorfälle messen lasse, so Freedom House. Für die Menschen in der Ukraine zählt aktuell wohl vor allem, dass das Asow-Regiment helfe, Städte wie Mariupol erneut gegen den russischen Angriff zu verteidigen, sagt Politikwissenschaftlerin Zhurzhenko.

Redigatur: Matthias Bau, Tania Röttger

Wurde die „Moskwa“ mit Hilfe amerikanischer Geheimdienstinformationen versenkt?

Quelle: FAZ-online https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wurde-ein-russisches-schiff-mit-hilfe-washingtons-versenkt-18011511.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Amerikanische Geheimdienste: Wurde ein russisches Schiff mit Hilfe aus Washington versenkt?

Sofia Dreisbach, Politische Korrespondentin der F.A.Z für Nordamerika mit Sitz in Washington berichtet in einem online-Artikel vom 6.5.2022 über Geheimdienstinformationen der Vereinigten Staaten, die den ukrainischen Streitkräften laut amerikanischen Medienberichten bei der Versenkung des russischen Raketenkreuzers „Moskwa“ geholfen haben sollen. Der Sender NBC – unter Berufung auf Regierungsbeamte -, dass Kiew die Vereinigten Staaten um Informationen über ein im Schwarzen Meer kreuzendes Schiff gebeten habe. Die amerikanischen Geheimdienste hätten das Schiff daraufhin als „Moskwa“ identifiziert und seine Position weitergegeben. Man habe jedoch nicht gewusst, dass die Ukraine das Schiff angreifen werde. Schon vor der Nachricht über die „Moskwa“ hatte die „New York Times“ berichtet, amerikanische Geheimdienste hätten die Ukraine mit Informationen versorgt, die unter anderem dazu genutzt worden seien, zwölf russische Generäle zu lokalisieren und zu töten. Laut Deisbach dementierte Pentagon-Sprecher John Kirby dies am 5. Mai 2022. Kirby räumte aber ein, Kiew kombiniere Informationen, „die wir und andere Partner zur Verfügung stellen“ mit eigenen Informationen. Dann treffe es seine eigenen Entscheidungen. Es würden jedoch durchaus „nützliche Informationen zeitnah“ zur Verfügung gestellt. Was genau das bedeutet, führte Kirby nicht weiter aus.

Dreisbach führt im Artikel weiter aus: „Für die amerikanische Regierung sind diese Berichte heikel. Seit Kriegsbeginn hebt sie hervor, dass die Vereinigten Staaten nur Hilfe leisteten, die der Ukraine bei ihrer Verteidigung hilft. … . Jetzt wird befürchtet, Russland könne es als Rechtfertigung für direkte Vergeltungsmaßnahmen nutzen, dass Washington Informationen bereitstellt, die bei Angriffen verwendet werden. Das Nachrichtenportal „Axios“ berichtete – so Dreisbach – am Freitag, EU-Beamte hätten vor einer „unangemessenen Kommunikation“ über Geheimdienstinformationen gewarnt. Das könne eine „unerwartete Reaktion“ hervorrufen. Man müsse, zitiert „Axios“, Vorsicht walten lassen bei dem, was man tue und sage, „für die Sicherheit der Militäroperationen vor Ort“ und weil man keinen Krieg mit Russland wolle.