Vor 30 Jahren begann der Bosnienkrieg

Vor 30 Jahren begann der Bosnienkrieg

Nicht nur die Situation in der Ukraine beunruhigt Be­woh­ne­r*in­nen der Föderation Bosnien und Herzegowina“. Auch die Nachrichten aus der serbischen Teilrepublik Bosniens und Herzegowinas, der Republika Srpska und aus deren Hauptstadt Banja Luka sind beunruhigend. Milorad Dodik, der „starke Mann“ der bosnischen Serben, macht keinen Hehl aus seiner Sympathie für den russischen Diktator. Dodik will den serbischen Teilstaat von Bosnien und Herzegowina abtrennen, was die Bevölkerungsmehrheit des Landes nicht hinnehmen könnte. Es kommt hinzu, dass auch der kroatische Nationalistenführer Dragan Čović sich mit Dodik verbündet hat und sich ebenfalls als Putin-Unterstützer outet. Die Grenzen zwischen der serbischen Teilrepublik, der sogenannten „Republika Srpska“, und der „Föderation Bosnien und Herzegowina“ wurden im November 1995 im Friedensvertrag von Dayton, Ohio festgelegt. Beide Seiten kontrollieren seither rund 49 Prozent der Fläche des Landes, 2 Prozent macht die Sonderzone Brčko aus.

Ein Blick zurück

Am 2. März 1992 stimmten zwei Drittel der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas bei der Volksabstimmung für die Unabhängigkeit. Die serbische Führung aber wollte die Unabhängigkeit verhindern. Am 6. April sollte das Land von der EU diplomatisch anerkannt werden. Am 5. April 1992 demonstrierten Hunderttausende in Sarajewo und anderen Städten für den Frieden. Sollte Bosnien und Herzegowina sich für unabhängig erklären, dann werde das Land im Blut versinken, hatte Radovan Karadžić, der politische Führer der bosnischen Serben und Vorsitzende der Serbischen Demokratischen Partei (SDS), gedroht.

Diese Drohung machten die Serben ab dem 5. April wahr. Anfangs gelang es ihnen, die Jugoslawische Volksarmee unter ihre Kontrolle zu bringen. Zunächst gingen sie im Osten des Landes gegen die muslimische Mehrheitsbevölkerung in die Offensive. Ratko Mladić’ Truppen nahmen das Tal der Drina ein. Die westbosnischen Städte Banja Luka und Prijedor fielen ohne Kampf in serbische Hand.  Dort wurden „Krisenstäbe“ tätig, die Nicht­serben zwangen, weiße Binden zu tragen, um sie schließlich in Konzentrationslagern zu internieren. Allein in Prijedor starben im Sommer 1992 über 3.200 Menschen in den Lagern Omarska und Keraterm.

Die serbischen Truppen besetzten im Herbst 1992 über 66 Prozent des Territoriums von Bosnien und Herzegowina. Zehntausende Menschen verloren dabei ihr Leben. 2 Millionen von 4,5 Millionen Einwohnern flohen in die noch von der bosnischen Armee gehaltenen Gebiete oder ins Ausland. Allein Deutschland hat damals mehr als 300.000 Menschen aufgenommen.

Die kroatische Seite fing im Mai 1993 an, das verbliebene Restbosnien anzugreifen und Gebiete für ihren Parastaat Herceg-Bosna zu erobern. Die kroatisch-bosnische Armee HVO schoss mit Artillerie auf die von Muslimen bewohnte historische Altstadt von Mostar. Sie zerstörten die berühmte Alte Brücke, das Wahrzeichen der Stadt, das zudem die Verbindung der Kulturen symbolisiert.

Das von der bosnischen Regierung gehaltene Territorium bestand im Sommer 1993 nur noch aus von Feinden eingekreisten Enklaven. Doch langsam konsolidierte sich der Widerstand. Die bosnische Armee organisierte sich trotz aller Widrigkeiten. Die kroatische HVO wurde Stück für Stück aus Zentralbosnien vertrieben, kroatisch dominierte Städte wie Vitez und Kiseljak wurden von bosnischen Truppen umzingelt.

Den USA gelang es, den kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman zu einer Umkehr seiner Strategie zu bewegen. Im März 1994 wurde das Washingtoner Abkommen beschlossen, die Blockade Zentralbosniens wurde beendet. Die bosniakisch und kroatisch kontrollierten Gebiete wurden in diesem Abkommen in der Föderation Bosnien und Herzegowina zusammengefasst, der kroatische Parastaat Herceg-Bosna aufgelöst.

Nach dem Genozid von Srebrenica im Juli 1995 sollte nach dem Willen der USA und auch Europas endlich Frieden geschaffen werden. Die Nato trat auf den Plan. Serbische Artillerie-Stellungen um Sarajevo wurden beschossen. Kroatische und bosnische Truppen rückten vor, die Serben verloren im August 1995 binnen zehn Tagen alle Eroberungen in Kroatien und mussten sich nach Bosnien zurückziehen. Im September 1995 dann gelang es bosnischen und kroatischen Truppen, die Serben auch in Bosnien zu schlagen. Doch sie kontrollierten immer noch 50 Prozent des Landes.

Den im November 1995 in Dayton, Ohio ausgehandelten Friedensvertrag konnten die serbischen Nationalisten durchaus als Sieg ansehen. Ihre Strategie, Bosnien und Herzegowina und damit die gemeinsame multinationale Gesellschaft zu zerschlagen, wurde von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert. Er wird von ihren Nachfolgern in der serbischen Führung fortgeführt.

Mehr Informationen:

https://taz.de/Vor-30-Jahren-begann-der-Bosnienkrieg/!5842991/

https://www.blaetter.de/ausgabe/2021/november/brennpunkt-balkan-oder-schoene-neue-imperiale-welt

Bosnien-Herzegowina: Neuer Krieg auf dem Balkan?

731.285 Aufrufe – 22.01.2022

Knapp 30 Jahre nach dem verheerenden Krieg im Land, droht in Bosnien-Herzegowina ein neuer Konflikt – der auf alten Auseinandersetzungen beruht. Der serbische Teil des Landes möchte unabhängig werden, und das mit aller Macht. Aber: Warum? Und warum könnte das zu einem neuen Krieg auf dem Balkan führen? Darum geht es in diesem Video.

Wer die Bomben zahlt

Quelle:  Krautreporter
 

 

 

Wer die Bomben zahlt

31. März 2022
 
Jeder Krieg kostet Milliarden. Wo kommt das Geld dafür her? Das wollte unsere Community wissen. Deswegen habe ich die Antwort recherchiert.

 

 

Im Mai 1967 ereignete sich im Heiligen Land ein kleines Wunder. In den Steuerverwaltungen des jungen israelischen Staates trafen jeden Morgen neue, sehr erstaunliche Meldungen ein, die sich nur auf eine Art interpretieren ließen: Die Leute wollten ihre Steuern zahlen. Sofort. Mehr als sie eigentlich müssten. Und Jahre im Voraus. Manche verzichteten sogar auf Rückzahlungen, die ihnen zugestanden hätten. Jahrelang hatte sich die Bevölkerung Israels gegen Steuererhöhungen gewehrt – und plötzlich konnten sie nicht schnell genug ihre Steuern zahlen.

Was war passiert? In den ersten Monaten des Jahres 1967 wussten die Israelis mit immer größerer Sicherheit, dass es bald Krieg geben würde. Das Land war umzingelt von Feinden, die auf Rache sannen für die Gebietsverluste in früheren Konflikten. Viele Israelis glaubten, dass es in dem kommenden Krieg um alles oder nichts gehen könnte: Würde Israel gewinnen, wäre die Zukunft des Landes gesichert. Verlöre es aber, würde es ausgelöscht werden. So dachten die Menschen. Sie wollten ihren jungen Staat, erst vor einigen Jahren aufgebaut, nicht seiner Finanzmittel berauben. Deswegen zahlten sie freiwillig mehr.

Das Verhalten der israelischen Bürger ist nachvollziehbar, sobald man den geschichtlichen Hintergrund kennt. Bemerkenswert bleibt es trotzdem. Allerdings kann ich Ihnen versprechen, dass das nicht die sonderbarste Geschichte ist, über die ich bei dieser Recherche zur Finanzierung von Kriegen gestolpert bin. Ich stieß auf einen griechischen Finanzminister, der seine Bürger aufforderte, Geldscheine zu zerschneiden, auf Kambodscha, das seine nationale Währung abschaffte und trotzdem Krieg führte, auf Nordkorea, das seine Soldaten unter anderem durch den Export von Pilzen bezahlte und auf die Ukraine, die komplett neue Wege ging.

Wir werden noch sehen: Zum Kriegführen ist immer Geld da. Wirklich immer.

Schulden, Steuern, Inflation – ein Staat finanziert Kriege wie alles andere auch. Oder?

Dass ich mich überhaupt mit diesem Thema beschäftigen konnte, habe ich Ulrich Retter zu verdanken. Ulrich ist 55 Jahre alt, arbeitet in der IT eines großen Handelskonzerns und kommt aus dem Kraichgau, einer Region zwischen Heidelberg und Stuttgart. Er stellte uns vor ein paar Monaten hier folgende Frage: „Wie finanzieren bestimmte Staaten (Syrien, Türkei, Israel, Nordkorea) ihre Militär-/Kriegsausgaben?“ Diese Frage fand unsere Community so interessant, dass sie uns Autoren in einer Abstimmung beauftragt hat, die Antworten zu recherchieren. Gemeinsam mit den Lesern habe ich mich auf die Suche gemacht.

Dabei ist die Frage, wie Kriege finanziert werden, eigentlich ganz einfach: genauso wie Schulen, Straßen und die Polizei. Mit Steuern, mit Schulden, durch Zölle, vielleicht auch durch Inflation. Also mit genau den gleichen Methoden, die ein Staat auch im Frieden benutzt, um bei Kasse zu bleiben und seinen Verpflichtungen nachzukommen. Sicher, der eine Staat hat höhere Einkommenssteuern als der andere, der wiederum mehr Schulden aufnimmt. Aber generell ändert sich nichts an dem System. Das hatte ich mit der Community besprochen, und dann war ich ratlos. Denn das ist ja für jeden schnell zu ermitteln; wozu also noch ein Artikel?

Allerdings wollte Ulrich gar nicht auf das große Ganze hinaus. Ihn hat explizit eine andere Sache beschäftigt: Wie können Staaten Krieg führen, die eigentlich doch kein Geld haben? Nordkorea? Syrien? Länder in Afrika? Woraus bezahlen sie die Kugeln für ihre Gewehre und den Sold für ihre Soldaten? Das wiederum war eine Frage, die ich auf Anhieb sehr spannend fand. Denn könnten Sie beispielsweise beantworten, woher der nordkoreanische Diktator Kim Jong-Un die Milliarden nimmt, um Atomwaffen zu bauen?

Ich startete meine Recherche. Je tiefer ich vordrang, um meine neuen Fragen beantworten zu können, desto mehr faszinierende Facetten entdeckte ich an der alten. Denn es gibt Unterschiede, wie Staaten Kriege finanzieren. Und manchmal sagt die Wahl ihrer Geldquellen erstaunlich viel über ihre Gesellschaft aus.

Aber beginnen wir von vorn.

Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass es bei jedem Krieg einen gibt, der ihn finanziert. Dass da draußen in der prächtigen Villa eines Industriellen oder im Handelsraum einer Investmentbank Milliardensummen in Richtung der Regierung geschoben werden, damit diese ihren Krieg führt. Denn in allen Kriegen, die in den vergangenen 200 Jahren geführt wurden, zapften die Kriegsparteien verschiedene Geldquellen an. Das zeigt die groß angelegte Untersuchung der US-amerikanischen Politologin Rosetta Capella, die sie im vergangenen Jahr veröffentlicht hat. Sie hat 39 Kriege mit 31 Kriegsparteien aus 200 Jahren ausgewertet, und sie fand heraus, dass sich die Finanzierungsmethoden während des Krieges ändern können: Beispielsweise erhoben die USA keine Einkommenssteuer zu Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges, an dessen Ende machte sie aber einen bedeutenden Teil des Staats- und Militärhaushaltes aus.

Heute bilden Steuern die Grundlage jedes Staates. Sie bilden aber auch ein nettes kleines Werkzeug, um herauszufinden, wie eine Regierung Krieg führen will: mit der großen, nationalen Kraftanstrengung oder leise, fast versteckt?

Die Antwort auf die Frage „Wer finanziert Kriege wie?“ gibt es hier

Frank Bsirske gibt Widerworte zum Aufrüstungs-Konsens

Grobes Foul“ von Kanzler Scholz – Frank Bsirske gibt Widerworte zum Aufrüstungs-Konsens –

Beim Sozialpolitischen Aschermittwoch in Regensburg kritisiert der frühere ver.di-Vorsitzende und Grünen-Abgeordnete Frank Bsirske die geplante Erhöhung der Militärausgaben scharf. Das Vorgehen von Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnet Frank Bsirske als „grobes Foul“ und spricht von Diskussionsbedarf innerhalb der Ampel-Koalition.

„Nackte Propaganda.“ So bezeichnet Frank Bsirske schließlich, der Live-Stream ist da schon aus, Aussagen, die Heeresinspekteur Alfons Mais kürzlich auf Twitter verbreitet hatte und denen zufolge die Bundeswehr „mehr oder weniger blank“ dastehe. Und wieder gibt es Applaus von den knapp 70 Anwesenden. Volles Haus unter Corona-Bedingungen im Leeren Beutel.

Bsirske, Jahrgang 1952, 18 Jahre Bundesvorsitzender der Gewerkschaft ver.di und heute für die Grünen im Bundestag, ist am Mittwoch zum Sozialpolitischen Aschermittwoch nach Regensburg gekommen, um über „umkämpftes Terrain“ zu reden. Soziale Fragen, Verteilungsgerechtigkeit, Klimawandel – so wie man es bei der Veranstaltung erwartet, die seit fast 20 Jahren federführend von den Sozialen Initiativen organisiert wird und heuer neben ÖDP und Grünen auch von der SPD unterstützt wird. All das hat er als erfahrener Rhetoriker vorbereitet, um es pointiert, zugespitzt und etwas bissig auf den Punkt zu bringen – so wie es sich für eine Rede beim Aschermittwoch eben gehört.

Keine Alternative zur Aufrüstung?

Doch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat auch vor Bsirskes Rede nicht Halt gemacht – und auch die politischen Pläne der Bundesregierung in diesem Zusammenhang sind, folgt man Bsirske, „umkämpftes Terrain“ innerhalb der Ampel-Koalition.

Dabei macht der Bundestagsabgeordnete keine Konzessionen an Wladimir Putin. Den Krieg bezeichnet Bsirske als „Verbrechen“ und eine „eklatante Verletzung des Völkerrechts“. „Die dafür ins Feld geführten Begründungen sprechen der Wahrheit Hohn und sind an Zynismus und Absurdität kaum zu überbieten.“ Die harten Sanktionen gegen Russland seien richtig. Auch wenn diese den Krieg kurzfristig nicht stoppen könnten, würden sie „mittel- und langfristig eine nachhaltige Wirkung entfalten“.

Sorgen macht Bsirske, seit 35 Jahren Grünen-Mitglied, aber ungeachtet all dessen die Verschärfung der sicherheitspolitischen Debatte. Wenn Stimmen wie der Militärhistoriker Sönke Neitzel einen „strukturellen Pazifismus“ in Deutschland beklage und für eine „Wiederbelebung militärischer Tugenden“ eintrete, Transatlantiker Sigmar Gabriel gegenüber dem Handelsblatt erkläre, dass US-Präsident Donald Trump Europa „ohne mit der Wimper zu zucken an Russland verkauft“ hätte und das Blatt schließlich daraus folgere, dass es keine Alternative zur Aufrüstung gebe, um zu verhindern, das in weiteren Staaten dasselbe passiere wie in der Ukraine, dann müsse man das kritisch hinterfragen.

„Krasses Missverhältnis“ der Militärausgaben von Russland und NATO

„Was Putin derzeit in der Ukraine erlebt, lädt nicht dazu ein, in den baltischen Staaten weiterzumachen“, so Bsirske. „Putin mag den Krieg in der Ukraine militärisch gewinnen, den Frieden gewinnt er nicht.“ Auf Dauer werde diese auf Krieg und Volksgefängnis gründende Herrschaft nicht tragen. Wirtschaftlich werde diese auf Fremdherrschaft und Vassalenterritorium gründende Idee für Russland noch viel mehr Last sein als es die osteuropäischen Staaten für die Sowjetunion waren. Das sei weder attraktiv noch habe es Aussicht auf Bestand, ist Bsirske überzeugt.

Wenn man jetzt über einen kräftigen Schub in Sachen Aufrüstung nachdenke, dann lohne sich ein Blick auf die Relationen bei den Rüstungsausgaben. Hier bestehe bereits jetzt ein derart krasses Missverhältnis, dass man sich frage, „was es eigentlich soll, dieses Missverhältnis noch krasser zu gestalten“.

Laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI lagen die russischen Militärausgaben im vergangenen Jahr bei 61,7 Milliarden US-Dollar. „Allein Deutschland würde Russland in den absoluten Rüstungsausgaben übertreffen“, wenn das Zwei-Prozent-Ziel der NATO künftig eingehalten werde, so Bsirske. Der Militärhaushalt stiege dann auf über 70 Milliarden US-Dollar. Ohnehin stehe den russischen Zahlen die USA mit Ausgaben von 778 Milliarden US-Dollar gegenüber. Die gesamten Militärausgaben der NATO-Staaten belaufen sich auf über eine Billion Dollar. „Und jetzt wird uns gesagt, das reicht alles nicht. Ich finde das nicht einleuchtend.“

Bundeswehr „blank“ trotz 50 Milliarden? „Ein Offenbarungseid.“

Die Bundeswehr habe ein Ausrüstungs-, aber kein Aufrüstungsdefizit. Der deutsche Rüstungshaushalt sei seit 2015 um mehr als ein Drittel gestiegen – von rund 32 Milliarden Euro auf mittlerweile rund 50 Milliarden im Jahr 2022. Wenn die Bundeswehr trotz dieser Ausgaben „blank“ oder „nackt“ dastehe, 50 Milliarden Euro also nicht reichen würden, dann müsse man fragen, „was da eigentlich falsch läuft anstatt noch zusätzliches Geld hinterher zu werfen“. Es stelle sich auch die Frage nach der politischen Verantwortung. Wenn die Bundeswehr trotz des bestehenden Etats nackt sei, dann sei das ein „Desaster für diejenigen, die die politische Verantwortung hatten“. Es sei ein „Offenbarungseid“ für die Kontrolle der Politik der unionsgeführten Verteidigungsministerien der letzten Jahrzehnte.

Da gebe es „echten Diskussionsbedarf“ – nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Ampel. Bsirske ist sich dabei sicher, dass viele Abgeordnete der Grünen-Fraktion diese Position teilen. Insbesondere vor dem Hintergrund der Erklärung von Bundesfinanzminister Christian Lindner, dass künftig alle öffentlichen Ausgaben auf den Prüfstand gestellt werden müssten.

„Grobes Foul“ des Bundeskanzlers

Die Ankündigung von Olaf Scholz, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO künftig nicht nur einzuhalten, sondern sogar noch zu übertreffen und zusätzlich ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen sei nach seinem Kenntnisstand weder mit der Grüne-, noch mit der SPD-Fraktion abgesprochen gewesen. „Das ist ein grobes Foul, das Folgen haben sollte“, sagt Bsirske später in der Fragerunde.

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Jetzt gehe es um die Ausgestaltung des angekündigten Sondervermögens und den zugrunde gelegten Sicherheitsbegriff. Dazu gehöre dann nämlich auch Energieunabhängigkeit – und damit müsse ein erheblicher Anteil in die Beschleunigung der Energiewende gesteckt werden. Auch stelle sich die Frage, wie mit Regelung in der Koalitionsvereinbarung umgegangen werde, derzufolge eine Erhöhung der Rüstungsausgaben auch dieselbe Erhöhung der Ausgaben für Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit zur Folge haben müsse.

„Und wenn so viel von Zeitwende die Rede ist und davon, dass Tabus gebrochen werden müssen, sollte dann nicht über eine Vermögensabgabe nachgedacht werden müssen – zum Beispiel eine Abgabe von 19 Prozent für Milliardäre.“ In Bsirskes Augen ist ein solcher Schritt alles andere als undenkbar – von April 2019 bis Juli 2020 sei das Vermögen von Milliardären um just diesen Prozentsatz gestiegen. Und zusätzliche Einnahmen seien ohnehin dringend notwendig. Angesichts des Preisanstiegs bei Energie, insbesondere Erdgas müsse es einen Preisdeckel für einen bestimmten Grundverbrauch geben, für den der Staat die Versorger entschädigen müsse. Dazu müsse man die starken Schultern in der Gesellschaft heranziehen.

Corona: ein „Brandbeschleuniger für Ungleichheit“

Die Corona-Krise habe wie ein Vergrößerungsglas gezeigt, dass es besonders die ärmeren Schichten treffe. „Je prekärer die Lage, desto höher die Infektionsrate.“ Corona sei ein „Brandbeschleuniger für Ungleichheit“ gewesen. Und die anfänglich schnellen Reaktionen der schwarz-roten Regierung zur Abfederung von Einkommensverlusten sei einem zunehmenden Verlust von politischem Vertrauen gewichen. Ein Flickenteppich an Regelungen, Beschaffungsprobleme bei Masken und Tests, persönliche Bereicherung durch einige Unionspolitiker – da sei zum politischen auch noch moralisches Versagen hinzugekommen.

Und schließlich geht Bsirske zum gewerkschaftlichen Teil seiner Rede über. Die Corona-Krise habe gezeigt, wie wichtig sichere, tarifliche abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse auf der einen und ein Staat, der sich um Daseinsvorsorge kümmere, auf der anderen Seite seien. Bsirske fordert eine nachhaltige Aufwertung des Pflegeberufs – Lohnerhöhungen und generell bessere Arbeitsbedingungen. Insgesamt müsse die Krankenpflege auf ein anderes, ein gemeinnütziges System umgestellt werden.

„Klimakrise bedroht Menschheit als Gattung“

Als „fundamentalste Herausforderung“ allerdings sieht Bsirske die Klimakrise. Hier sei die „Menschheit als Gattung“ bedroht. Es brauche einen raschen Umbau der Wirtschaft. Dieser werde nicht ohne Folgen für Arbeitsplätze und Beschäftigte bleiben. Es gebe aber auch große Chancen für Zukunftstechnologien und neue Arbeitsplätze. Gefordert seien dabei Arbeitgeber und Gewerkschaften, vor allem aber ein aktiver Staat. „Der schafft die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und nicht der Markt.“ Es brauche Planungssicherheit für Unternehmen und erhebliche Eigeninvestitionen des Staates. Als Beispiel nennt Bsirske den kommunalen Investitionsbedarf, der laut KfW bundesweit bei 147 Milliarden Euro liegt, aber auch die niedrigen Pro-Kopf-Investitionen in die Schiene, die in Deutschland derzeit bei 80 Euro pro Jahr liegen – in Österreich betragen sie mehr als das Drei-, in der Schweiz mehr als das Vierfache.

Um hier mehr ausgeben zu können, müssten die Schuldenbremse und das Ziel einer schwarzen Null gekippt werden, fordert Bsirske. Alles andere sei „ideologisch motivierte Unvernunft“. Auf Dauer gehe das nur durch eine Änderung des Grundgesetzes – doch dafür fehlt im Bundestag bislang die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit.

„Demokratien sind stärker, wenn die Ungleichheit geringer ist.“

Das Ziel in weniger als 30 Jahren eine „klimagerechte Gesellschaft“ zu werden sei eine große Herausforderung, sagt Bsirske gegen Ende seiner Rede. Und solche Veränderungen würden auch Verunsicherung auslösen. Deshalb müssten diese Veränderungen Hand in Hand gehen mit sozialem Ausgleich – mindestens einer Beibehaltung des Rentenniveaus, einem Zurückdrängen prekärer Arbeitsverhältnisse, Schaffung von bezahlbarem Wohnraum und einem anderen Steuersystem, weg von einem Deutschland, das derzeit eine Steueroase für reiche Erben und Vermögensmillionäre und -milliardäre“ sei. Das alles sei nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage. „Demokratien sind stärker, wenn die Ungleichheit geringer ist.“

Die Anwesenden quittieren diese Forderungen und Positionen mit viel Applaus – doch ebenso wie sie weiß auch Bsirske: Weder für diese Pläne noch für seine Forderungen in Zusammenhang mit der Erhöhung der Rüstungsausgaben gibt es im Bundestag eine politische Mehrheit. Und das liegt nicht nur an den „schmerzhaften Konzessionen an die FDP“, die man, so Bsirske, bei der Ampel habe machen müssen, sondern auch an der SPD – und an seiner eigenen Partei.

Linke, Krieg und Frieden: Haltelinien, Konzepte, Fragen – Anmerkungen zum Ukraine-Krieg

Quelle: Journalismus von Links

Von Paul Schäfer – 10.3.22

Das Ziel muss ein stabiler Frieden sein

Linke, Krieg und Frieden: Haltelinien, Konzepte, Fragen – Anmerkungen zum Ukraine-Krieg

Das Entsetzen ist groß über den Krieg Putins, das Leid, das er in der Region, aber auch weltweit verursacht: Wo soll das enden? Und erschrocken sind wir auch: Wie schnell die Bundesregierung, die Mehrzahl der Medien und nahezu alle Parteien auf die Logik der Konfrontation und der Hochrüstung einschwenken.

Die neue Lage ist: Wir haben die programmatischen Ansprachen Putins als Propaganda für das heimische Publikum angesehen. Von »historischen Gebieten« war die Rede, die als natürliche Einflussbereiche reklamiert wurden; der Ukraine wurde gar das Existenzrecht abgesprochen. Nun wissen wir: Es war ernst gemeint.

Welche Kriegsziele verfolgt das Putin-Regime?

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird. Die Losung, die Ukraine »entmilitarisieren« und »entnazifizieren« zu wollen, besagt: Der generalstabsmäßig geplante russische Angriff ist der Versuch, in der Ukraine ein willfähriges System zu etablieren (»regime change«), das den russischen Ambitionen, die Ukraine dem eigenen Herrschaftsbereich zu unterstellen, entgegenkommt.

Wie ist diese Invasion strategisch einzuordnen?

Mit dem Angriffskrieg wird die Absicht untermauert, den postsowjetischen Raum (von Belarus bis Zentralasien) als unverrückbares russisches Einflussgebiet zu befestigen. Die Russische Föderation ist damit zu einer revisionistischen, neozaristischen Macht geworden, die sich über die Grundsätze und Festlegungen der UN-Charta (Artikel 1 »Selbstbestimmung der Völker« und Artikel 2 »Gewaltverbot«), der KSZE-Konferenz 1975 (»Unverletzbarkeit der Grenzen«, der Charta von Paris 1991 (»gemeinsames Haus Europa«), des Budapester Abkommens von 1994 (Entnuklearisierung der Ukraine gegen die Zusage, die Souveränität Kiews zu wahren) hinwegsetzt und eine Neuordnung dieses Großraums auch mit Gewaltmitteln festschreiben will.

Was ist das Besondere der gegenwärtigen Lage?

Im linken Lager wird auf Kriege der USA in Vietnam, in vielen Teilen der Welt, auf den Nato-Krieg im Kosovo, die US-geführte Invasion im Irak, auf frühere Völkerrechtsbrüche verwiesen. Das ist richtig. Dennoch: Putin ist der »Imperialist des Tages«. Und wir sollten aufpassen, dass diese Bezüge nicht als Relativierung des gegenwärtigen Angriffskrieges aufgefasst werden.

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg sollten wir die unterschiedlichen Dimensionen beachten: Als 1999 inmitten des Krieges um Kosovo ein russisches Regiment einen Teil des Flughafens in Pristina besetzte, wurde dies von allen Seiten als symbolischen Akt nach dem Motto »Wir sind auch noch da« verstanden. Heute stehen wir am Rande einer militärischen Konfrontation zwischen Nato und Russland, die den Weltfrieden bedroht. Dies erinnert an die zugespitzte Lage während der Kuba-Krise 1962. Präsident Putin hat anderen Staaten, die »sich von der Seite einmischen«, indirekt, aber unmissverständlich mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht (»Konsequenzen, die sie noch nie in der Geschichte erlebt haben«) und seine strategischen Abschreckungskräfte, zu denen die Nuklearwaffen, gehören in Alarmbereitschaft versetzt. Wie besorgt die Weltgemeinschaft ist, hat die präzedenzlose Ablehnung des Krieges durch 141 Mitglieder der UN-Generalversammlung gezeigt.

Wie wurde Paulus zum Saulus oder: Wie ist es so weit gekommen?

2001 wurde Wladimir Putin im Deutschen Bundestag für seine auf Kooperation ausgerichtete Rede mit »standing ovations« bedacht. Bei der Sicherheitskonferenz in München 2007 empörte er sich, dass man auf seine Angebote für eine neue europäische Friedensordnung nicht eingegangen sei und Russland permanent demütige. Der erfahrene US-Diplomat George Kennan hat 1997 mit seiner düsteren Prognose, die Nato-Osterweiterung würde in Russland nationalistische und militaristische Tendenzen begünstigen, leider recht gehabt. Dieser Prozess wurde durch die Aufkündigung wichtiger Rüstungskontrollabkommen (zum Beispiel Raketenabwehrvertrag 2002 durch die USA) weiter angeheizt.

Aber den Wandlungsprozess im Kreml ausschließlich damit zu begründen, greift zu kurz. Erinnern wir uns: Die Duma-Wahl 2011 war von heftigen Protesten im Land begleitet. Erstmals hatte sich in nennenswertem Umfang eine wirkliche Opposition zu Wort gemeldet, die das Putin-Regime dazu veranlasste, Wahlfälschungen zu begehen und hart gegen jegliche Opposition vorzugehen. Dazu verbündete sich die Putin-Partei mit der extremen Rechten im Lande, die konsequent die Rolle des faschistoiden Mobs gegen zivilgesellschaftliche Bewegungen einnahm.

Eine Schlussfolgerung daraus: Es geht dem Putin-Lager um den eigenen Machterhalt. Dazu greift man auf eine Methode zurück, die wir von Despoten kennen: der Feind, das sind »auswärtige Agenten und Mächte«. Dass es um reaktionäre Regimeinteressen geht, haben zuletzt auch die Interventionen in Belarus und Kasachstan gezeigt. In diesem Rahmen sind die engen Bindungen der Putin-Partei mit einer zusehends globalisierten extremen Rechten nicht zu übersehen.

Es ist schon erstaunlich, dass auch in linken Betrachtungen Russlands der militärisch-industrielle Komplex so gut wie nicht vorkommt. Dabei spielt der militärische Sektor neben den fossilen Energiekonzernen eine tragende Rolle bei den Staatseinnahmen des Landes. Und für das Putin-Regime sind Waffenexporte von strategischer Bedeutung zur Mehrung internationalen Einflusses. Der Machtkomplex aus Rohstoff- und Rüstungskonzernen ist die Machtbasis Putins. Wenn diese Annahme richtig ist, wären dann nicht andere Schlüsse zu ziehen als heute üblich? Partnerschaften zur Umstellung auf erneuerbare Energien und Abrüstungsvereinbarungen wären dann die Konsequenz. Wenn nicht heute, so morgen!

Wie verhält es sich mit den russischen Sicherheitsinteressen?

Betrachten wir es nüchtern: Russland ist nicht existenziell bedroht. Schon allein dadurch, dass niemand die Absicht hat, in Russland militärisch einzufallen. Auch die Generalität und die politische Führung in Moskau wissen das. Und selbst ein Nato-Beitritt der Ukraine, der den Aufbau zusätzlicher militärischer Infrastruktur nach sich ziehen würde, bedroht Russland nicht existenziell. Der Preis eines konventionellen Krieges wäre für beide Seiten nicht bezahlbar und würde wahrscheinlich auch eine nukleare Konfrontation als letzte Eskalationsstufe einschließen. Russlands Rückversicherung liegt – ob es uns gefällt oder nicht – in seinem nuklearen Waffenpotenzial, genauer: in der Sicherung seiner Zweitschlagfähigkeit. Daher waren und sind die Sorgen Russlands nach der Ankündigung Raketenabwehrsysteme auch in Rumänien oder Polen zu stationieren, vollauf berechtigt. Aber dafür fängt man keinen Krieg in der Ukraine an, sondern forciert Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen und wendet sich an die Weltöffentlichkeit.

Und nur zur Erinnerung: Der Ausgangspunkt des gewaltförmigen Streits um die Ukraine war nicht der Beitritt des Landes zur Nato – der war nach 2008 auf Eis gelegt. Es ging um das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union! Dass sich die nach dem Maidan-Aufstand ins Amt gekommene ukrainische Führung für die EU entscheiden wollte, hat die Annexion der Krim und die militärisch abgestützte Separation im Donbass ausgelöst. Die eigentliche Bedeutung von Pufferzonen: Freiheitlich-demokratische Reformen in Osteuropa sieht man als Gefährdung des eigenen, autokratischen Systems, die man nicht toleriert.

Müssen linke Geschichtsbilder revidiert werden?

Ja. Sahra Wagenknecht hat auf einem ihrer Podcasts beispielhaft dargelegt, wie Geschichtslegenden auf der linken Seite aussehen. Ihr Plädoyer für eine russlandfreundliche Politik begründet sie aus der Geschichte: Russland sei immer wieder »vom Westen« angegriffen worden, und dies habe sich in das kollektive Gedächtnis der Russen eingegraben. Letzteres hat gewiss Richtiges. Sie räumt knapp ein, dass es auch Phasen russischer Dominanz im Rahmen des Warschauer Vertrages gegeben habe. In diesem Weltbild kommen die rollenden Panzer in Ost-Berlin 1953, in Budapest 1956 und Prag 1968 offenbar nicht vor.

Auch der Hitler-Stalin-Pakt, der zur Inbesitznahme und Auslöschung Polens führte, wird in linken Erzählungen als Akt schierer Verteidigung gedeutet, um Zeit und Raum gegen die Nazis zu gewinnen. Katyn? Schrecklich, aber dem Furor des Krieges geschuldet. Dass es dabei um die vorsätzliche und systematische »Liquidierung« der polnischen Führungselite ging, um den Pufferstaat Polen in unseliger russischer Tradition vom Erdball zu tilgen, wird dabei negiert. Die Sorge unserer östlichen Nachbarn vor einem russischen Imperialismus hat sich in deren kollektives Gedächtnis eingegraben (wie auch in Finnland, das ebenfalls überfallen wurde).

Das eigentliche Trauma, das heute die russische Führung prägt, ist der Verlust an Weltgeltung (= Supermacht auf Augenhöhe mit den USA). Auch hier ist Putin wörtlich zu nehmen. Der Satz vom Untergang der UdSSR als größter geopolitischer (sic!) Tragödie des 20. Jahrhunderts ist so einfach zu entschlüsseln. Diese Großmachtambitionen stehen in krassem Missverhältnis zur Wirklichkeit. Russland verfügt über ein Bruttoinlandsprodukt wie Italien. Es stützt sich vorwiegend auf Energiequellen, die keine Zukunft mehr haben. Der Versuch, dies durch militärische Macht auszugleichen ist aussichtslos und dennoch brandgefährlich. Gerade deshalb müssen Wege gefunden werden, wie das »unverrückbare Russland« (Egon Bahr) einen respektierten Platz in der Staatengemeinschaft wiederfinden kann.

Was ist in dieser Situation aus der Entspannungspolitik der 70er Jahre zu lernen?

Willy Brandt und Egon Bahr haben ihre »neue Ostpolitik« trotz Mauerbau 1961 und CSSR-Einmarsch 1968 eingeleitet. Aus der Tatsache, dass ein Atomkrieg niemals gewinn- und daher nicht führbar sei, leiteten sie das Konzept »gemeinsamer Sicherheit« ab. Die nukleare Eskalationsgefahr sollte gebannt werden; die Anerkennung des territorialen Status quo sollte helfen, Vertrauen zwischen West und Ost aufzubauen und den Weg für konkrete Schritte der Abrüstung freimachen. Last not least: Der Eiserne Vorhang sollte durchlässig gemacht werden, nicht zuletzt aus humanitären Gründen. Es war zugleich erklärte Absicht, dadurch Spielräume für demokratische Prozesse zu vergrößern.

Was unsere Ausgangslage heute so schwierig macht: Russlands Versuch, ein postsowjetisches Regime wieder zu errichten, ist damit verbunden, die erreichten demokratischen Spielräumen in den Nachbarländern (wie immer man das dortige Oligarchentum, die Korruption etc. beurteilen mag) zu eliminieren. Auf diese neue Situation brauchen wir eine Antwort. Wir werden am Ende des Tages wieder bei den Grundsätzen der Entspannungspolitik und konkreten Vorschlägen zur De-Eskalation, der Rüstungskontrolle, für eine atomwaffenfreie Welt landen. Durchzusetzen ist dies gegen den autoritären Nationalismus unserer Tage.

Solidarität mit der Ukraine – auch mit Waffenlieferungen?

Die Ukraine hat gemäß Artikel 51 der Uno-Charta das verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Und die ukrainische Bevölkerung scheint bereit zu sein, dies auch durchzufechten. Ob dazu Waffenlieferungen hilfreich und unumgänglich sind, ist sorgfältig abzuwägen.

Wir sollten diese Frage vom Umgang mit dem »normalen« Rüstungsexportgeschäft abkoppeln. Diesbezüglich gelten alle Forderungen nach einer besonders restriktiven Politik weiter uneingeschränkt. Das Argument, dass aus historischen Gründen zur Abstinenz verpflichtet sei, sticht nicht. Man kann es auch umdrehen. Die Ukraine, die auch Opfer des deutschen Vernichtungskrieges war, die jetzt zum zweiten Male angegriffen wird, ist in ihrem Existenzkampf zu unterstützen.

Bis zum 24. 2. gab es gewichtige Einwände: Was ist mit den irregulären, schwer kontrollierbaren Milizen auf dem Kriegsschauplatz, die sich der Waffen bemächtigen könnten? Könnte die ukrainische Führung, gestützt auf effiziente Geräte wie bewaffneten Kampfdrohnen (die im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt kriegsentscheidend waren), versucht sein – trotz der Georgien-Erfahrung -, eine gewaltsame Entscheidung im Donbass zu suchen?

Jetzt stellt sich die Frage, ob eine militärische Unterstützung nur noch zu einem mörderischen Abnutzungskrieg beiträgt, wie er sich womöglich abzeichnet. Zu bedenken ist auch, dass die Nato mit ihren Waffenlieferungen immer mehr in das Kriegsgeschehen hineingezogen wird. Ist eine solche Eskalation des Krieges vertretbar? Aber ist es andererseits nicht richtig, den Preis für die russische Aggression durch bewaffneten Widerstand möglichst weit hochzutreiben? Wie sonst soll Moskau zum Umdenken gebracht werden? Und welche Demoralisierung löste es aus, wenn die Ukraine im Bombenhagel allein gelassen würde?

Ich gestehe: Ich bin ratlos. Statt Antworten aus dem Bauch heraus brauchen wir hier kollektives Nachdenken.

Ziviler Widerstand als Alternative?

Die Ukraine hat sich zum militärischen Widerstand gegen die Aggression von außen entschieden. Dass damit entsetzliche Opfer verbunden sind, ist unvermeidlich. Wäre es da nicht besser, von vornherein die Waffen niederzulegen und zu kapitulieren? Die pazifistische Haltung verlangt genau dies. Sie verbindet dies mit dem Vorschlag, Besatzungsmächten mit zivilen Mitteln entgegenzutreten. Dies wird gerne als rettungslos naiv, weltfremd abgetan. Und wenn das Kriegsgetöse tobt, erscheint diese Idee besonders abseitig. Wir sollten dem widersprechen. Ziviler Widerstand ist angesichts der Zerstörungspotenziale moderner Streitkräfte durchaus in Betracht zu ziehen. Und verfügen wir nicht heute durch öffentliche und soziale Medien, durch eine vernetzte Zivilgesellschaft über neue Möglichkeiten ziviler Gegenwehr? Die globale Delegitimierung brutaler Herrschaft ist eine scharfe Waffe. Wir tun gut daran, in der Tradition Mahatma Gandhis Gewaltfreiheit als Alternative zum Kriegsfuror zu verteidigen.

Andererseits: Die epochale Abschüttelung des kolonialen Jochs Mitte des vorigen Jahrhunderts wäre ohne Gewalt nicht möglich gewesen. Und die Vorstellung, man hätte die Weltherrschaftspläne Hitler-Deutschlands mit der weißen Fahne durchkreuzen können, fällt schwer. Was bedeutet es, wenn die Kriegsherren mit ihren Gewaltaktionen durchkommen und ihre expansiven Ziele erreichen? Der Appetit kommt beim Essen. In Extremsituation werden wir bewaffnete Gegengewalt akzeptieren müssen und zugleich an einer Welt arbeiten, in denen ein Friede mit friedlichen Mitteln eine Chance hat.

Was ist mit Sanktionen zu erreichen?

Ein Sanktionspaket wie jetzt gegen Russland beschlossen, hat es in dieser Form wohl noch nie gegeben (Ausnahme: Nordkorea/Iran/Irak). Und es ist erkennbar, dass diese Maßnahmen kurzfristig wirken. Richtig ist aber auch, dass die Abschnürung Russlands von der globalen Wirtschaftszusammenarbeit die gesamte Bevölkerung des Landes empfindlich treffen wird. Das gilt wahrscheinlich auch für uns. Trotzdem herrscht allenthalben die Einsicht vor, dass man der russischen Aggression nicht nur mit Appellen begegnen kann. Die Bereitschaft, auf wirtschaftliche Sanktionen zu setzen, ist groß – auch unter Linken. Und war die Embargopolitik gegenüber dem Apartheid-Regime in Südafrika nicht erfolgreich? Die Ukrainer*innen würden diese Politik mittragen. Unter dem Strich führt kein Weg an der Logik vorbei, dass der Preis, den das Putin-Regime für seine Aggression zu zahlen hat, sehr hoch sein und die Vorteile der Besatzung überwiegen muss.

Aber Vorsicht: Die vielfältigen Interdependenzen in der Welt aufsprengen zu wollen, kann nicht gut gehen. Nach den Negativerfahrungen mit nicht eingehaltenen Versprechungen aus dem Iran-Nuklearabkommen bleibt zudem die strikte Forderung: Sanktionen sind konditioniert zu verhängen und müssen sukzessive aufgehoben, durch weitreichende Kooperationsangebote ersetzt werden, wenn ein Friedensprozess in Gang kommt.

Wie gehen wir mit der Aufrüstungsoffensive der Bundesregierung um?

Ein zusätzliches 100-Milliarden-Rüstungsprogramm lehnen wir ab; das pauschale Zwei-Prozent-Aufrüstungsziel ist unsinnig. Immerhin zeigt das in Aussicht gestellte, 100 Milliarden Euro umfassende Sondervermögen, dass die Schuldenbremse ausgedient hat und sehr viel Geld vorhanden ist. Es könnte durch Vermögensabgaben noch aufgestockt werden. Der Kampf um die Verteilung dieser Mittel hat begonnen. Wir werden uns dafür stark machen, dass erhebliche Mittel für die zivile Konfliktbearbeitung, für eine nachhaltige Entwicklungspolitik, für die ökologische Transformation und die soziale Abfederung der ökonomischen Folgen der Sanktionspolitik aufgewandt werden. Das ist wirkliche Sicherheitsvorsorge. Unser Ceterum Censeo bleibt, alle ad-hoc-Maßnahmen mit grundsätzlichen Perspektiven eines stabilen Friedens in Europa zu verknüpfen.

Was den Mittelabfluss an die Streitkräfte angeht, gilt es zuvörderst zu klären, wo das ganze Geld bleibt, das die Bundeswehr Jahr für Jahr zu verbrennen scheint – wenn die Aussage stimmt, dass die Truppe nicht einsatzbereit sein sollte.

In diesem Rahmen sollten wir neu über eine Bundeswehr als Verteidigungsarmee nachdenken. Dabei können wir an eine Debatte aus den 80er Jahren unter der Überschrift »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit« anknüpfen. Nur ein Hinweis: Das kleine Finnland etwa hat sehr wenig Panzer, mit denen man eine raumgreifende Offensive durchführen könnte, aber eine »schlagkräftige« Artillerie. Es ist bei modernem Kriegsgerät zugegebenermaßen sehr schwierig, zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zu unterscheiden. Wie ein anderes Streitkräftedispositiv aussehen würde, wie hoch die Kosten einer möglichen Umrüstung sind, wissen wir nicht genau. Ein solches Konzept kann nicht ohne militärischen Sachverstand entwickelt werden. Dazu wird Die Linke ihre Einstellung gegenüber der Bundeswehr ändern müssen – ohne ihren Anspruch auf eine Welt ohne Armeen aufzugeben.

Noch eine gedankliche Provokation zum Schluss: Die baltischen Staaten, Polen, alle osteuropäischen Nachbarn halten die Nato auf absehbare Zeit für ihre Risikoversicherung. Das gilt nach dem russischen Angriffskrieg umso mehr. Jetzt orientieren sich auch unsere nördlichen Nachbarn Finnland und Schweden auf diesen Schutzschirm. Sind wir da gut beraten, wenn wir den Austritt Deutschlands aus den militärischen Strukturen der Allianz fordern? Andererseits: Wozu solle es gut sein, dass sich an der Nahtstelle der Konfrontation immer zerstörerische Waffensysteme und immer mehr Soldaten gegenüberstehen? Über Initiativen zur De-Eskalation und Abrüstung wird man zu gegebener Zeit sprechen müssen – im Bündnis.

Paul Schäfer war von 2005 bis 2013 verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Er engagiert sich nach wie vor in der Linkspartei, ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« und gehört dem Willy Brandt-Kreis an. Auf seiner Webseite www.paulschaefer.info widmet er sich friedens- und sicherheitspolitischen Themen sowie globalen Fragen und Alternativen. 2014, als die Ukraine-Krise ein erstes Mal eskalierte, gab er im VSA-Verlag das Buch »In einer aus den Fugen geratenden Welt. Linke Außenpolitik: Eröffnung einer überfälligen Debatte« heraus. In dem hier veröffentlichten Text führt er diese Debatte unter dem Eindruck des russischen Krieges gegen die Ukraine fort.