Marktlogik und Katastrophenmedizin

Quelle: Le Monde diplomatique (Deutsche Ausgabe) vom 09.04.2020, Renaud Lambert und Pierre Rimbert

Marktlogik und Katastrophenmedizin

Die Austeritätspolitik der letzten Jahrzehnte hat uns Krankenhäuser beschert, in denen Ärzte heute wie im Krieg entscheiden müssen, wer leben darf und wer sterben muss. Doch in der Corona-Pandemie schwindet die Macht der Marktideologen. Nur kollektiv und staatlich koordiniertes Handeln kann einen Ausweg bieten.

Bei einem Zaubertrick besteht die Kunst darin, die Aufmerksamkeit des Publikums abzulenken, damit es nicht merkt, was tatsächlich vor seinen Augen geschieht. Bei der Corona-Epidemie liegt die Magie in einem Diagramm mit zwei Kurven, das auf Fernsehkanälen in der ganzen Welt zu sehen ist. Die x-Achse gibt die Zeit an, die y-Achse die Zahl der schweren Erkrankungen.

Die erste Kurve geht steil nach oben, sie zeigt den Verlauf der Epidemie, wenn nichts unternommen wird. Diese Kurve überschreitet sehr schnell die horizontale Linie, mit der die maximale Aufnahmefähigkeit der Krankenhäuser angegeben ist. Die zweite Kurve zeigt die Entwicklung, wenn Maßnahmen wie Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung des Virus begrenzen. Sie ist leicht gewölbt, wie ein Schildkrötenpanzer, und bleibt unter der horizontalen Kapazitätsgrenze.

Das in den Medien allgegenwärtige Diagramm macht deutlich, wie dringend notwendig es ist, den Rhythmus der Ansteckungen zu verlangsamen, um die Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Wenn jetzt Journalisten in der ganzen Welt dieses Schaubild weiterverbreiten, wird ein wesentliches Element oft vergessen: die unauffällige Gerade, die die Zahl der Betten darstellt, die für Schwerkranke zur Verfügung stehen. Diese „kritische Schwelle“ wird quasi als gottgegeben akzeptiert. Dabei ist sie das Ergebnis politischer Entscheidungen.

Wenn man heute „die Kurve abflachen“ muss, liegt das auch daran, dass die seit vielen Jahren herrschende Austeritätspolitik die Messlatte gesenkt und das Gesundheitswesen seiner Aufnahmefähigkeit beraubt hat. 1980 gab es in Frankreich elf Krankenhausbetten pro tausend Einwohner, davon sind heute noch sechs übrig. Macrons Gesundheitsministerin hat im September 2019 vorgeschlagen, sie „bed managers“ zu überlassen, die das rare Gut zuteilen sollten.

Krankenhäuser sind keine Autofabriken

In den USA sank die Zahl von 7,9 Betten 1970 auf 2,8 im Jahr 2016.1 Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es in Italien 1980 für „schwere Fälle“ 922 Betten pro 100.000 Einwohner. 30 Jahre später waren es nur noch 275. Überall galt nur eine Devise: Kosten senken. Das Krankenhaus sollte wie eine Autofabrik im Just-in-time-Modus funktionieren. Das Resultat ist, dass die Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimation und Intensivtherapie (Siaarti) die Arbeit der Notärzte heute als „Katastrophenmedizin“ bezeichnet. Sie warnt, angesichts der fehlenden Ressourcen „könnte es nötig werden, eine Altersgrenze für den Zugang zur Intensivversorgung festzulegen“.2 Auch im Nordosten von Frankreich spricht man mittlerweile in ähnlicher Weise von „Kriegsmedizin“.

Die Coronakrise hat also nicht nur mit der Gefährlichkeit der Krankheit Covid-19 zu tun, sondern auch mit dem organisierten Niedergang des Gesundheitssystems. Doch statt diese Tatsache kritisch zu hinterfragen, laden die großen Medien – seit jeher die Echokammern der Sparpolitik – Leser und Zuschauer zu einer atemberaubenden philosophischen Diskussion ein: Wie entscheiden wir, wen wir retten und wen wir sterben lassen?

Diesmal wird es jedoch schwierig werden, die politische Frage hinter einem ethischen Dilemma zu verstecken. Denn die Corona-Epidemie führt allen vor Augen, dass unsere Wirtschaftsorganisation noch weit absurder ist, als man vermutet hatte: Während die Airlines ihre leeren Flugzeuge fliegen ließen, um ihre Slots zu behalten, erklärte ein Virologe, wie neoliberale Politik die Grundlagenforschung über das Coronavirus behindert hat.3

Offenbar muss man manchmal die Normalität verlassen, um zu begreifen, wie unnormal sie ist. Marshall Burke, Dozent am Zentrum für Ernährungssicherheit und Umwelt der Universität Stanford, twitterte dazu folgendes Paradox: „Die Reduktion der Luftverschmutzung aufgrund von Covid-19 in China hat vermutlich zwanzigmal so viele Leben gerettet, wie durch den ­Virus bisher verloren gingen. Das heißt nicht, dass Pandemien gut sind, aber es zeigt, wie gesundheitsschädlich unsere Wirtschaftssysteme sind, auch ohne Coronavirus.“4

Der Höhepunkt der Absurditäten in der Corona-Krise liegt dabei nicht einmal darin, dass es durch die Verlagerung von Produktionsketten einen Mangel an Medikamenten geben könnte, und auch nicht in der Verbohrtheit, mit der die Finanzmärkte Italien bestraften, als die Regierung die ersten Maßnahmen ergriff. Nein, den Höhepunkt finden wir in den Krankenhäusern selbst: Die Mitte der 2000er Jahre in Frankreich eingeführte „Gebührenberechnung nach Tätigkeit“ (tarification à l’activité, T2A) kalkuliert die Finanzierung der Einrichtungen anhand des Behandlungsaufwands für jeden einzelnen Patienten. Die Leistungen werden wie im Supermarkt einzeln abgerechnet.

Würde nun dieses aus den USA importierte Prinzip der Pflege als Ware während der aktuellen Krise angewendet, wären die Krankenhäuser, die die Schwerkranken aufnehmen, bald ruiniert. Denn der kritische Verlauf von Covid-19 erfordert vor allem eine Beatmung, die Zeit kostet, aber in der Tariftabelle weniger einbringt als diverse Untersuchungen und Eingriffe, die wegen der Epidemie verschoben wurden. Einbußen der Kliniken durch die Pandemie bestätigte etwa der deutsche Virusforscher Christian Drosten in seinem populären Podcast. Drosten sagte am 30. März im NDR: „Wir haben Betten freigeräumt. Das macht natürlich auch im Krankenhaus massive finanzielle Verluste. Auch die Medizin ist ein Wirtschaftszweig, und die Verluste sind extrem, die da jeden Tag entstehen.“

Für kurze Zeit schien es so, als sprenge das Virus die sozialen Grenzen. Seine Ausbreitung führte zu Maßnahmen, die wir uns jedenfalls in Friedenszeiten nie hätten vorstellen können. War nicht der Wall-Street-Banker plötzlich ebenso bedroht wie der chinesische Wanderarbeiter?

Sehr schnell aber wurde deutlich, dass auch in der Krise vor allem das Geld den Unterschied macht. Auf der einen Seite machen die Gutbetuchten es sich in ihren Villen mit dem Homeoffice-Laptop neben dem Pool gemütlich. Und auf der anderen Seite sind die bislang Unsichtbaren des Alltags, Pfleger, Reinigungskräfte, Kassiererinnen im Supermarkt und Lieferanten, einem Risiko ausgesetzt, das den Begüterten erspart bleibt. Eltern sitzen im Homeoffice in ihrer kleinen Wohnung, durch die das Geschrei der Kinder schallt, Wohnungslose würden gern in einem Zuhause bleiben.

Der Historiker Jean Delumeau, Autor einer Geschichte der „Angst im Abendland“, stieß in seiner Untersuchung über „typische kollektive Verhaltensweisen in Pestzeiten“5 auf eine Konstante: „Wenn die Gefahr der Ansteckung auftaucht, versucht man zunächst, die Augen davor zu verschließen.“ Und Heinrich Heine notierte nach der offiziellen Ankündigung der Choleraepidemie 1832 in Paris: „Die Pariser tummelten sich umso lustiger auf den Boulevards“, als „das Wetter sonnig und lieblich war“.6 Als Nächstes flohen dann die Reichen aufs Land, und die Regierung ordnete für die Stadt Quarantäne an. „Die Unsicherheit entsteht nicht nur aus dem Auftreten der Krankheit“, erklärt Delumeau, „sondern ebenso aus einer Auflösung des Alltags und der gewohnten Umgebung. Alles ist anders geworden.“ Genau diese Erfahrung machen heute die Einwohner von Wuhan, Rom, Madrid oder Paris.

Die großen Pestepidemien zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert wurden oft als Zeichen des Jüngsten Gerichts, des Zorns eines rächenden Gottes gedeutet. Damals wandten sich die Menschen entweder der Religion zu und flehten um Gnade oder sie suchten Schuldige in der Nachbarschaft. Juden und Frauen waren beliebte Sündenböcke. Im Europa des 21. Jahrhunderts trifft die Corona-Epidemie säkularisierte Gesellschaften, die seit der Finanzkrise von 2008 bei Themen wie Klimaverschlechterung, Politik, Finanzen, Demografie oder Migration in unterschiedlichem Ausmaß unter einem Gefühl des Kontrollverlusts leiden.

In dieser Endzeitstimmung, in der wieder Bilder der brennenden Kathedrale von Notre-Dame kursieren und über den kommenden Zusammenbruch geredet wird, richten sich alle Blicke auf die Regierung. Der Staat hat das Problem durch die langjährige Zerstörung des Gesundheitssystems verschärft – und ist dennoch die einzige Instanz, die eine Antwort auf die Epidemie finden kann. Aber wie weit kann man dabei gehen?

Noch im Februar löste die mehrwöchige Isolierung von 56 Millionen Einwohnern der chinesischen Provinz Hubei, die Stilllegung der Fabriken oder die Ermahnung der Bürger durch Drohnen mit Kameras und Megafonen in Europa spöttische Reaktionen aus oder Kritik an der eisernen Faust der Kommunistischen Partei.

Man bezahlt Feuerwehrleute nicht nur, wenn es brennt

„Aus der chinesischen Erfahrung lassen sich keine Lehren hinsichtlich der möglichen Dauer der Epidemie ziehen“, erklärte die Zeitschrift L’Express noch am 5. März. Sie sei dort durch „drastische Quarantänemaßnahmen verlangsamt worden, die in unseren Demokratien wahrscheinlich nicht anwendbar sind“. Doch kurze Zeit später war klar: Im Kampf gegen das Virus, das sich nicht um die Überlegenheit „unserer“ Werte schert, kommt man nicht umhin, zentralisierten Entscheidungen den Vorrang zu geben gegenüber den Freiheiten des Wirtschaftsliberalismus.

WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus betonte, es sei möglich, die Epidemie zu besiegen, aber nur mit einem kollektiven, koordinierten und umfassenden Herangehen und unter Einsatz aller Kräfte.7 Kollektiv und staatlich koordiniert: Das ist das Gegenteil von Markt. In wenigen Tagen vollführen die bis dato unangreifbaren Experten, die uns die Welt erklären, eine 180-Grad-Wendung: „Alles ist anders geworden.“ Begriffe wie Souveränität, Grenze, Einschränkung und sogar staatliche Hilfen, die seit einem halben Jahrhundert im öffentlichen Diskurs stets in die populistische Ecke gestellt oder als „nordkoreanisch“ bezeichnet wurden, erscheinen plötzlich als Lösungen in einer bis dato vom Kult der Geld- und Warenströme und von der Sparpolitik regierten Welt.

Von Panik getrieben, entdecken selbst die Mediengurus plötzlich, was sie eifrig ignoriert hatten: „Kann man nicht auch sagen, dass uns diese Krise im Grunde auffordert, ganz neu über Aspekte der Globalisierung, unsere Abhängigkeit von China, Freihandel und Flugverkehr nachzudenken?“, fragte am 9. März auf France Inter der Journalist Nicolas Demorand, der sein Mikrofon seit Jahren den Kritikern des Protektionismus überlässt.

Die Marktlogik muss den Verstand schon gründlich deformiert haben, wenn die Mächtigen erst nach dem Ausbruch einer mörderischen Pandemie den einfachen Wahrheiten Gehör schenken, die Mediziner seit Jahrzehnten wiederholen: „Ja, wir brauchen eine staatliche Krankenhausstruktur, die ständig verfügbare Betten hat“, betonen die Mediziner André Grimaldi, Anne Gervais Hasenknopf und Olivier Milleron.8 „Das neue Coronavirus hat das Verdienst, uns an Selbstverständlichkeiten zu erinnern: Man bezahlt die Feuerwehrleute nicht nur, wenn es brennt. Man möchte, dass sie in ihrer Wache bereitstehen, auch wenn sie nur ihre Fahrzeuge polieren, während sie auf den Alarm warten.“

Von der Krise im Jahr 1929 bis zur neoliberalen Offensive in den 1970ern hat sich der Kapitalismus erhalten und erneuert, indem er seine Institutionen, oft widerwillig, der Verpflichtung unterwarf, vorauszusehen, was ohne Warnung hereinbricht: Brände, Krankheiten, Naturkatastrophen, Finanzkrisen. Um das Unvorhergesehene zu planen, musste man mit der Marktlogik brechen, die allein nach Angebot und Nachfrage einen Preis festlegt, das Unwahrscheinliche ignoriert und die Zukunft mit Formeln berechnet, in denen die Gesellschaft nicht vorkommt.

Diese Blindheit der Standardökonomie, die an den Börsen ins Extrem getrieben wird, bemerkte auch der ehemalige Broker und Statistiker Nassim Nicholas Taleb. In seinem Buch „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“, das wenige Monate vor der Finanzkrise von 2008 erschien, schrieb er über die Prognostiker: „Das Expertenproblem besteht darin, dass sie keine Ahnung von dem haben, was sie nicht wissen.“9 Taleb bezeichnete es als absurd, das Unvorhergesehene zu ignorieren in einer Welt, die durch die Vervielfachung unerwarteter Ereignisse – eben die „schwarzen Schwäne“ – geprägt sei.

Ende März 2020 kann jeder, der an seinem Fenster die Stille der eingesperrten Stadt dröhnen hört, über die Verbissenheit nachdenken, mit der sich der Staat nicht nur der Intensivbetten beraubt hat, sondern auch seiner Planungsinstrumente, die heute von ein paar globalen Versicherungs- und Rückversicherungskonzernen monopolisiert werden.10

Kann die Zäsur dieser Pandemie die Entwicklung umdrehen? Um das Mögliche und das Zufällige wieder in die Steuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge aufzunehmen, um weiter zu schauen als bis zur Kosten-Nutzen-Rechnung und eine ökologische Planung vorzunehmen, müsste man den größten Teil der Dienste verstaatlichen, die für das Leben der modernen Gesellschaft unverzichtbar sind, von der Straßenreinigung über die digitalen Netze bis zum Gesundheitswesen.

Die Sichtweise des Historikers legt nahe, dass eine Veränderung der Verhältnisse, der Entwicklung, des Nachdenkens über das kollektive Leben und die Gleichheit unter normalen Umständen unmöglich ist. „Im Laufe der Geschichte“, schreibt der österreichische Historiker Walter Scheidel, „haben vier verschiedene Arten gewaltsamer Brüche die Ungleichheit verringert: Massenmobilisierungskriege, Revolutionen, der Bankrott von Staaten und verheerende Pandemien.“11 Sind wir an diesem Punkt angelangt?

Andererseits hat das Wirtschaftssystem im Verlauf seiner Geschichte eine außergewöhnliche Fähigkeit bewiesen, die immer häufiger werdenden Stöße zu parieren, die seine Irra­tio­nalität verursacht. So setzen sich auch bei den heftigsten Erschütterungen in der Regel die Verteidiger des Status quo durch. Sie nutzen die allgemeine Fassungslosigkeit aus, um die Macht des Marktes noch weiter auszudehnen. Der Katastrophen-Kapitalismus, den Naomi Klein kurz vor der großen Rezession von 2008 analysierte, schert sich nicht um die Erschöpfung der Rohstoffe und der sozialen Sicherungssysteme, die die Krise dämpfen könnten. In einer Anwandlung von Optimismus schrieb die kanadische Journalistin: „Wir reagieren auf einen Schock nicht immer mit Regression. Manchmal wachsen wir auch angesichts einer Krise – und zwar schnell.“12 Diesen Eindruck wünschte wohl auch Präsident Macron in seiner Erklärung vom 12. März zu erwecken.

Er wolle, „das Entwicklungsmodell, dem unsere Welt seit Jahrzehnten folgt und das jetzt seine Tücken offenbart, und die Schwächen unserer Demokratie hinterfragen“, sagte Macron. Bereits heute offenbare diese Pandemie, dass ein kostenloses Gesundheitswesen ohne Unterscheidung nach Einkommen, Karriere oder Beruf sowie unser Wohlfahrtsstaat kein bloßer Kostenfaktor sei, sondern „ein unverzichtbarer Trumpf, wenn das Schicksal zuschlägt“. Die Pandemie zeige, dass es Güter und Dienstleistungen gebe, die außerhalb der Marktgesetze stehen müssten. „Es ist Wahnsinn, wenn wir unsere Ernährung, unseren Schutz, die Fähigkeit, unser Leben zu gestalten, in fremde Hände geben. Wir müssen wieder die Kontrolle übernehmen.“

Drei Tage später verschob er die Rentenreform und die Reform des Arbeitslosengelds und verkündete Maßnahmen, die bisher als unmöglich galten: die Einschränkung von Entlassungen und die Aufgabe der Haushaltsbeschränkungen. Und die Umstände könnten diesen Wandel noch verstärken: Die Obsession des Präsidenten etwa, die Ersparnisse und Beamtenpensionen an den Aktienmärkten zu investieren, wirkt vor dem Hintergrund des Absturzes der Börsenkurse nicht gerade wie ein visionärer Geniestreich.

Das Arbeitsgesetz aussetzen, die Bewegungsfreiheit einschränken, Unternehmen mit vollen Händen unterstützen und sie von Sozialabgaben freistellen, auf denen das Gesundheitssystem beruht – diese Maßnahmen allerdings stellen keinen radikalen Bruch mit der bisherigen Politik dar. Der massive Transfer von öffentlichen Geldern in den Privatsektor erinnert an die staatliche Bankenrettung von 2008. Die Rechnung kam dann in Form der Sparpolitik, von der vor allem die Angestellten und die öffentlichen Dienstleistungen betroffen waren. Weniger Krankenhausbetten, um die Banken wieder flottzumachen: das war die Devise.

Auch deshalb drängte sich bei Macrons Rede die Erinnerung an einen Septembertag des Jahres 2008 auf. Damals, kurz nach dem Crash von Lehman Bro­thers, trat der damalige Präsident Sarkozy vor die Kameras und verkündete seinen verblüfften Anhängern feierlich: „Eine bestimmte Vorstellung der Globalisierung stirbt gerade mit dem Ende eines Finanzkapitalismus, der der ganzen Wirtschaft seine Logik aufgezwungen und dazu beigetragen hat, sie zu verderben. Die Idee, dass die Märkte immer recht haben, war eine irrsinnige Idee.“13 Das hinderte ihn allerdings nicht daran, auf den Weg des gewöhnlichen Wahnsinns zurückzukehren, sobald das Unwetter vorüber war.

1 Quelle OECD.

2 „Raccomandazioni di etica clinica per l’ammissione a trattamenti intensivi e per la loro sospensione“, Siaarti, Rom, 6. März 2020.

3 Bruno Canard, „J’ai pensé que vous avions momentanément perdu la partie“, Rede am Ende der Demonstration vom 5. März 2020, nachzulesen unter academia.hypotheses.org.

4 Twitter, 9. März 2020.

5 Jean Delumeau, „Angst im Abendland, Die Geschichte kollektiver Ängste in Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts“, Reinbek (Rowohlt) 1998.

6 Heinrich Heine, „Französische Zustände“, online frei verfügbar bei Zeno.org.

7 New York Times, 11. März 2020.

8 Le Monde, 11. März 2020.

9 Nassim Nicholas Taleb, „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“, München (Hanser) 2008.

10 Razmig Keucheyan, „La Nature est un champ de bataille. Essai d’écologie politique“, Paris (La Découverte) 2014.

11 Walter Scheidel, „Nach dem Krieg sind alle gleich: Eine Geschichte der Ungleichheit“, Darmstadt (Konrad Theiss Verlag) 2018.

12 Naomi Klein, „Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“, Frankfurt a. M. (Fischer) 2009.

13 Rede in Toulon am 25. September 2008.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, Renaud Lambert

Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Beschaffung eines neuen Kampfflugzeugs als Trägersystem für Atomwaffen

Wir hatten MdB Agnieszka Brugger (Bündnis 90/Die Grünen)  Mitglied des Verteidigungsausschusses aus einem baden-württembergischen Wahlkreis am 10. April 2020 angeschrieben (und den Brief auch dem LINKEN-MdB Tobias Pflüger, ebenfalls Mitglied des Verteidiungsausschusses zur Kenntnis gegeben). Wir hatten Frau Brugger aufgefordert, im Verteidigungsausschuss gegen die Anschaffung eines neuen Kampfflugzeugtyps zu stimmen (Schreiben s. unten). Frau Brugger hat bereits am 15. April 2020 sehr ausführlich geantwortet:

Sehr geehrter Herr Dörr,

herzlichen Dank für Ihre Nachricht.

Wir Grüne stehen für Frieden, Abrüstung, kooperative Sicherheit und eine Kultur der militärischen Zurückhaltung. Atomwaffen lehnen wir strikt ab. Daher treten wir mit aller Kraft für ein atomwaffenfreies Deutschland ein.

Die Grüne Bundestagsfraktion positioniert sich klar gegen die Beschaffung eines neuen Kampfflugzeuges als Trägersystem für Atomwaffen und fordert den Ausstieg Deutschlands aus der operativen nuklearen Teilhabe der NATO.

Die deutsche Außenpolitik schadet ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und dem Engagement für das Ziel einer atomwaffenfreien Welt, wenn Kampfflugzeuge mit der Fähigkeit zum Nuklearwaffeneinsatz angeschafft werden. Wer an der Doktrin atomarer Abschreckung festhält, denkt weiter in der Logik von Blockkonfrontation und Kaltem Krieg und verleugnet die katastrophalen Folgen des Einsatzes von Atomwaffen für Mensch und Umwelt.

Dieser Weg ist falsch und geschichtsvergessen, vor allem ist er aber gefährlich. Atomwaffen bringen in der Konsequenz nicht mehr, sondern weniger Sicherheit für alle. Nur konsequente Abrüstung bedeutet am Ende mehr Frieden und Sicherheit für alle.

Ebenso haben wir Grünen uns klar gegen eine Modernisierung der US-Atomwaffen in Deutschland und der heute vorhandenen deutschen Trägersysteme positioniert.

Wir fordern den Gesamtabzug der US-Atomwaffen aus Deutschland. Unsere Positionen haben wir in unserem Antrag „Glaubhafter Einsatz für nukleare Abrüstung ‒ Nationale Handlungsspielräume nutzen“ dargelegt (Drucksache 19/976, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/009/1900976.pdf).

Die Stationierung von US-Atomwaffen in Büchel und die Befähigung deutscher Flugzeuge und Piloten zum Einsatz oder Transport von Atomwaffen sollten ebenso wie die Geheimniskrämerei der Bundesregierung um die Atomwaffen in Deutschland beendet werden.

Der 2010 von Union, SPD, FDP und GRÜNEN in einem gemeinsamen Bundestagsantrag (Drucksache 17/1159, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/011/1701159.pdf) beschlossene und von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger befürwortete Abzug der Atomwaffen aus Deutschland ist längst überfällig.

Der Zustand der internationalen Abrüstungs- und Rüstungskontrolle ist höchst besorgniserregend.

Weltweit wird wieder massiv nuklear aufgerüstet. Über sieben Jahrzehnte nach dem Einsatz von Atomwaffen in Hiroshima und Nagasaki rüsten die Atommächte ihre Arsenale für Milliardenbeträge weiter auf. Nachdem die USA und Russland nach gegenseitigen Vorwürfen der Nichteinhaltung den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) aufgekündigt haben, ist ein weiterer Pfeiler der Rüstungskontrolle und Abrüstung weggebrochen. Für die Sicherheit Europas ist die Vermeidung eines atomaren Rüstungswettlaufs unerlässlich. Die Bundesregierung muss weiter deutlich machen, dass es keine erneute Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland geben wird und sich intensiv dafür einsetzten, dass der NEW START-Vertrag (New Strategic Arms Reduction Treaty), der im Jahr 2021 auszulaufen droht, verlängert wird.

Deeskalation, Dialog, vertrauensbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle und Abrüstung sind heute notwendiger denn je.

Das bisherige Engagement der Bundesregierung reicht aus unserer Sicht vor diesem Hintergrund nicht aus.

In diesem Jahr findet die nächste Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags (NVV) statt. Der Vertrag verpflichtet teilnehmende Kernwaffenstaaten auf das Ziel vollständiger nuklearer Abrüstung. Bereits zwei Mal – 2005 und 2015 – konnten sich die Vertragsstaaten nicht auf Abschlusserklärungen verständigen. Ein erneutes Scheitern der Überprüfungskonferenz wäre verheerend. Wir erwarten, dass die Bundesregierung alles daran setzt, dass dieses Szenario nicht eintritt.

Dazu gehört auch, dass die Bundesregierung ihre Blockadehaltung gegenüber dem 2017 verabschiedeten Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen aufgibt.

Wir fordern von der Bundesregierung, dem Verbotsvertrag beizutreten und daran mitzuwirken, dass das Verhältnis zum NVV konstruktiv und verstärkend ausgestaltet wird.

Mit freundlichen Grüßen

Agnieszka Brugger


An MdB Agnieszka Brugger

Sehr geehrter Frau Brugger,

da im Verteidigungsausschuss keine MdB-Mitglied aus unserem Wahlkreis Nürtingen vertreten ist, senden wir diese Mail an Sie als baden-württembergische Bundestagsabgeordnete. Zur Kenntnis geben wir Sie an Ihren Fraktionskollegen Matthias Gastel. Mit ihm haben wir – Mitglieder von Pax Christi, DFG-VK, des Kirchheimer Forums 2030 und anderen Initiativen – im Januar 2020 hier in Kirchheim zu einem Gespräch über Themen des Friedens, der Sicherheit, der Abrüstung etc. getroffen. Ebenfalls zur Kenntnis geben wir diesem Appell an Sie Ihrem baden-württembergischen Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss, Tobias Pflüger von der LINKEN. Tobias Pflüger war am 25.2.20 bei uns als Referent in Kirchheim u. Teck zu Gast.

Unser Anliegen als Forum 2030 an Sie:

Das Verteidigungsministerium will in den kommenden Wochen eine Entscheidung zur Nachfolge für das Kampfflugzeug Tornado erwirken.

Als Mitglied des Verteidigungsausschusses spielen Sie bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle. Da der Tornado das einzige Trägersystem für die in Rheinland-Pfalz stationierten Atombomben der nuklearen Teilhabe ist, ist die Anschaffung der Kampfflugzeuge nicht nur eine finanziell weitreichende Entscheidung, sondern auch von langfristiger strategischer Relevanz für Deutschland und Europa.

Die Modernisierung des nuklearen Trägersystems, sowie die geplante Stationierung von neuen B61-12 Atombomben in Büchel würden die erste nukleare Aufrüstung in Deutschland seit Ende des Kalten Krieges darstellen.

Nukleare Aufrüstung in Deutschland ist jedoch ein fatales Zeichen an die Staatengemeinschaft. In einer Zeit, in der wichtige Rüstungskontrollverträge wie INF und START gekündigt wurden bzw. ohne klare Verlängerungsaussichten auszulaufen drohen, ist es unerlässlich, dass Deutschland positive Impulse für Abrüstung setzt!

Nuklearwaffen bedrohen die Sicherheit der Menschen in der Bundesrepublik, in Europa und der ganzen Welt. Die Atombomben in Deutschland sind zudem Waffen, die für einen völkerrechtswidrigen, nuklearen ‘Erstschlag’ geeignet sind. Sie stellen daher eine Provokation für andere Länder dar und erhöhen die Gefahr eines nuklearen Konflikts.

Ein Abbau dieser Nuklearwaffen und ein klares Bekenntnis gegen den Ersteinsatz von Nuklearwaffen wäre ein erster und wichtiger Schritt, um die gegenseitige nukleare Bedrohung abzubauen und auch einen ungewollten Atomkrieg unwahrscheinlicher zu machen.

Die Bundesregierung wollte mit dem Engagement für das Iran-Abkommen und auch mit der Libyenkonferenz im Januar dieses Jahres zeigen, dass sie einer der wichtigsten und glaubwürdigsten internationalen Akteure für zivile Konfliktprävention sei. Diese Stellung als geschätzter diplomatischer Partner könnte Deutschland unserer Meinung nach ausbauen und für eine nukleare Abrüstungsinitiative nutzen.

Am besten soll diese im Koalitionsvertrag von Union/SPD verankert werden. Dies würde der deutschen Sicherheit mehr dienen, als das Festhalten an der nuklearen Teilhabe aus Zeiten des Kalten Krieges.

Bitte stimmen Sie deshalb gegen die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge für den Nuklearwaffeneinsatz.

Sowohl der F/A-18 Jet als auch ein für Nuklearwaffen ertüchtigter Eurofighter sind eine Bürde für den europäischen Frieden und die Sicherheit der europäischen Bürger und Bürgerinnen.

Mit freundlichen Grüßen

Hans Dörr

GEW-Arbeitskreis Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Initiativen

Attac – Regionalgruppe Kirchheim und Umgebung

Sprecher Kirchheim.Forum 2030 https://kirchheim.forum2030.de/

07021/44163 – Mail: hans_doerr@gmx.de

(Unterstrich zwischen hans und doerr)

Corona-Krise: Medien und Journalisten droht ein gnadenloser Selektionsprozess

„Ein Zusammenbruch sei das für ihn, sagt Michael Rappe. Täglich beschäftige ihn die aktuelle Situation. Rappe, 57, ist freier Lokaljournalist – einer wie viele in der deutschen Presselandschaft. Bald ist er zwanzig Jahre im Beruf, eine Zeit, die er vor allem in Sporthallen und Leichtathletikstadien verbracht hat. Doch die Spezialisierung auf den Lokalsport wird Rappe jetzt zum Verhängnis: Der Spielbetrieb liegt vorerst in der Corona-Starre, wann es weitergeht, kann derzeit niemand sagen. Das Resultat für Rappe: „Rund siebzig Prozent meines Auftragsvolumens fallen gerade weg.“

Bisher hat Rappe für die „Rhein-Neckar-Zeitung“ aus Heidelberg und die benachbarte „Schwetzinger Zeitung“ fest über mehrere Sportarten berichtet. Basketball, Tischtennis, Fußball, Kegeln: Im Schnitt kamen so meist um die 15 Texte pro Woche zustande. Jetzt sind es nach seinen Angaben nur noch vier oder fünf – bei einem Zeilensatz von 80 Cent. „Die Redaktion will uns natürlich nicht hängenlassen und vergibt viele freie Geschichten wie Interviews oder Porträts“, sagt Rappe. Auf das gleiche Volumen wie im aktiven Ligenbetrieb kommt er so aber dennoch nicht. Rücklagen hat er keine, jetzt hofft er auf die Hilfspakete von Bund und Land.

Wie für viele andere Freiberufler und Selbstständige brechen für freie Journalistinnen und Journalisten gerade harte Zeiten an. Termine und Veranstaltungen fallen komplett weg, das öffentliche Leben liegt jenseits von Corona weitgehend brach. Über was also berichten? Und wie mit den finanziellen Engpässen umgehen? 

Miese Stimmung

Die Politik hat manche Unterstützungsangebote bereits umgesetzt, andere sind vorerst nur angekündigt. Aber wie reagieren die Auftraggeber, Rundfunkanstalten, Verlagshäuser, Redaktionen?

Was klar ist: Wer regelmäßig bei den Öffentlich-Rechtlichen arbeitet, hat zumindest meist so etwas wie Rechte. Dort gibt es viele arbeitnehmerähnliche Freie, die von tariflichen Lösungen profitieren könnten – auch wenn der NDR zuletzt eher mit schlechtem Beispiel voranging und den bemerkenswerten Tipp gab, man könne doch Urlaub nehmen, falls man wegen Kita- und Schulschließungen gerade nicht arbeiten könne.

Zudem sind die öffentlich-rechtlichen Anstalten von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise nicht direkt betroffen. Ganz anders sieht es bei den privatwirtschaftlichen Zeitungen und Magazinen aus. Hier herrscht hinter den Kulissen ziemlich miese Stimmung.

Wer wissen will, was die Branche derzeit umtreibt, muss einen Text von Michael Reinhard lesen. Er trägt den Titel „Wir über uns: ‚Nie war es wichtiger, die Menschen seriös zu informieren‘“ und ist in der „Main-Post“ erschienen, einer Regionalzeitungsgruppe mit Sitz in Würzburg, deren Chefredakteur Reinhard ist. Allerdings ist die Überschrift etwas irreführend, denn wer den Beitrag gelesen hat, stellt sich eher die Frage, wer bald überhaupt noch informieren soll: Werbeverluste in Höhe von 80 Prozent, Kurzarbeit bald auch für Redakteure, die Aussichten ungewiss.

Eines muss man Reinhard lassen: Er hat mehr Mut zur Transparenz als die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen. Beim Berliner „Tagesspiegel“ bittet man etwa um Verständnis, dass man keine Stellung zur aktuellen Lage und der Situation der freien Mitarbeiter nehmen könne. Die Südwestdeutsche Medienholding (u.a. „Süddeutsche Zeitung“, „Stuttgarter Zeitung“) lässt eine Anfrage ganz unbeantwortet. Und bei der Ad Alliance, einer Vermarkterallianz, der unter anderem der Magazinriese Gruner+Jahr sowie Spiegel Media, der Vermarkter der „Spiegel“-Gruppe, angehören, heißt es fast schon beschwingt: „So dynamisch, wie sich die Informationslage zum Virus selbst täglich entwickelt, so dynamisch ist auch unser Daily Business.“

Dabei kämpft die ganze Verlagslandschaft mit den gleichen Problemen. Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) hat gegenüber dem Branchendienst „Meedia“ bestätigt, dass viele seiner Mitglieder von ähnlich hohen Einnahmeverlusten durch Anzeigenstornierungen betroffen sind wie die „Main-Post“. Schon für mittelgroße Häuser kann es dabei um Millionensummen gehen, die plötzlich fehlen – und das nach erst wenigen Wochen der Corona-Krise. Zudem sei Kurzarbeit auch für Redakteure bei vielen Verlagen im Gespräch, sagt ein BDZV-Sprecher gegenüber Übermedien. Bertelsmann, Deutschlands größtes Medienunternehmen, hat die Maßnahme bereits angekündigt.

Massenaussterben

Die Branche feiert derweil ihre wiederentdeckte Relevanz in Zeiten der Krise. Indikator dafür sollen die gemeldeten Rekordzugriffe auf die Angebote im Netz und steigende Aboverkäufe sein. Doch für den Großteil der Verlage wird dieser Zuwachs an Klicks und Abonnements nicht einmal im Ansatz die drastischen Werbeverluste ausgleichen können. Zumal viele Inhalte zur Corona-Krise vor den Bezahlschranken zu finden sind. In einem vielbeachteten Text spricht der „Buzzfeed“-Medienredakteur Craig Silverman bereits von einem bevorstehenden „Massenaussterben“ in der amerikanischen Zeitungslandschaft – und „Buzzfeed“ selbst kürzt die Gehälter.

Die Lage der freien Journalisten vor diesem Hintergrund ist unterschiedlich. Neben Beispielen wie jenem von Michael Rappe gibt es viele Reporter, die sich noch relativ entspannt zeigen. Michael Wilkening ist ebenfalls freier Sportjournalist aus dem Rhein-Neckar-Raum. Er arbeitet neben diversen Regionalzeitungen auch für viele überregionale Titel. Sein Vorteil: Er betreut vor allem Profiteams wie die TSG Hoffenheim oder die Bundesliga-Handballer der Rhein-Neckar-Löwen – Themen, für die es auch deutschlandweit Abnehmer gibt. Bisher, sagt Wilkening deshalb, könne er seine Hintergründe und Interviews noch gut verkaufen. Es würden gerade viele Texte gebraucht.

„Wenn du als Freier jetzt gute Ideen hast, kannst du jeden Tag eine halbe Seite zuschreiben“, sagt auch ein Zeitungsredakteur zu Übermedien. Weil Termine komplett wegfallen, bleibe täglich Platz für große Stücke. In vielen Redaktionen versuchen Redakteure auch bewusst, ihren freien Mitarbeitern Themen zuzuschieben. Ein anderer Redakteur berichtet davon, dass ihm Freie derzeit sogar absagen, weil ihr Auftragsbuch noch voller sei als sonst. Nicht selten wird auch die Krise als Chance beschworen: Endlich sei die Abhängigkeit vom bräsigen Terminjournalismus besiegt, die von vielen Lokalredakteuren schon lange als notwendiges aber gleichzeitig auch anachronistisches Übel betrachtet wurde. Jetzt müsse man kreativ werden und querdenken; die Zeitung sei deshalb fast besser als zuvor.

Auftragsstopps

Wahr ist aber auch: Geschichten darüber, wie sich Sportler jetzt fit halten oder einzelne kulturelle Einrichtungen mit dem Shutdown umgehen, sind schnell auserzählt. Und vielerorts wird der Umfang von Ausgaben aus Kostengründen gekürzt. Wenn dann die Anzeigenverluste weiter zunehmen, wird erfahrungsgemäß zuerst an den Etats für freie Autoren gespart. Schon jetzt gibt es Autoren, die von Auftragsstopps für Freie in bestimmten Häusern sprechen – verifizieren lässt sich dieser Sachverhalt aber bisher nicht. Die Pressestellen dementieren.

Frank Hellmann ist einer, der diese Entwicklung bereits spürt. Der 53-Jährige gilt als einer der profiliertesten freien Sportjournalisten in Deutschlands – seine Texte erscheinen in Medien wie der „Süddeutschen Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“ oder auf sportschau.de. Auch er hat sein Netzwerk aktiviert und erst einmal viele hintergründige Texte und Interviews verkauft. Allerdings sagt er auch: „Mittlerweile ergibt sich das Problem, das durch Platzreduzierungen oder aus Kostenzwängen der Abdruck der Freien Autoren eingeschränkt oder sogar eingestellt wird. Dieser Trend könnte sich noch verstärken.“

Hellmann berichtet zudem von einem anderen Problem für Freiberufler: „Wir bleiben auf den Kosten für anstehende Sportereignisse sitzen.“ Denn wer eigentlich von den Olympischen Spielen oder der Fußball-Europameisterschaft berichten wollte, hat als Profi natürlich schon längst Flüge und Hotels gebucht. Nur einen Bruchteil dieser Kosten wird Hellmann nach eigener Aussage wieder zurückbekommen – übrig bleibt ein Betrag im mittleren vierstelligen Bereich.

Der entscheidende Faktor ist Zeit. Wenn die Werbeerlöse nicht bald stabilisiert oder durch andere Einnahmequellen kompensiert werden können, sieht es düster aus. Unter Umständen wird man dann einen gnadenlosen Selektionsprozess in der Medienlandschaft erleben – sowohl bei den Verlagen, als auch bei den freien Journalisten. Wer in der Lage ist, sich rasch weiterzuentwickeln, anders zu arbeiten und passende Inhalte zu erzeugen, wird vielleicht bestehen. Für andere könnte die Corona-Krise tatsächlich das Ende im Journalismus bedeuten.“


Über Übermedien

Übermedien berichtet, Überraschung: über Medien. Seit Anfang 2016 setzen wir uns hier kontinuierlich mit der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten auseinander.

Übermedien ist kritisch, unterhaltend, unabhängig; hinter uns steht kein Sender, kein Verlag, keine Partei. Wir sind auch kein Blog oder Branchendienst, sondern ein Magazin, das sich an alle richtet, die Medien nutzen – also: an alle.

Medien unterhalten und informieren uns nicht nur, Medien prägen unser Bild von der Welt. Deshalb ist es wichtig, sie kritisch zu begleiten. Andere Journalisten befassen sich mit Politik, Wirtschaft, Sport. Wir befassen uns mit Medien. Und mit den Journalisten, die für sie arbeiten.

Das Vertrauen in Medien ist stark gesunken. Es gibt viele Belege dafür, dass die Beziehung zwischen Publikum und Journalisten gestört ist. Auf der einen Seite wuchern Pauschalurteile über die vermeintliche „Lügenpresse“; die andere Seite reagiert darauf oft mit Trotz.

Etablierte Medien tun sich schwer, mit Kritik umzugehen – und andere Medien zu kritisieren. Kritik von Journalisten an Journalisten ist immer noch verpönt. Wir wollen uns frei machen von falscher Rücksichtnahme, indem wir uns von Verlagen und Sendern unabhängig machen. Wir setzen uns kritisch mit Medien auseinander – und, wenn nötig, auch mit der Kritik an ihnen.

Finanziert wird Übermedien von inzwischen rund 4.000 Abonnentinnen und Abonnenten. Sie ermöglichen unsere Arbeit. Und wir brauchen noch viele weitere Unterstützer, damit unser Angebot wachsen kann.

Abonnenten können sämtliche Beiträge sofort lesen, viele davon exklusiv. Nach sieben Tagen werden die Inhalte frei zugänglich für alle.

Übermedien wurde 2017 mit dem Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik ausgezeichnet, hat 2017 bei den „Journalisten des Jahres“ den zweiten Platz in der Kategorie „Entrepreneur des Jahres“ belegt und war 2018 für den Grimme Online Award nominiert.

Transformationen – Kapitalismus und Arbeit im Wandel – Ausgabe 55 von „kritisch-lesen“

„Die einschneidenden Transformationsprozesse geschehen weltweit: Angefangen in den 1980er Jahren mit Margaret Thatchers neoliberalem „There is no alternative!“ im Vereinigten Königreich, Hardliner Ronald Reagans arbeiter*innenfeindlichen „Reaganomics“ in den USA bis zur Treuhand in der ehemaligen DDR und im globalen Management der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008. Neoliberale Wirtschaftspolitik verdrängt und verlagert die ursprünglichen Sphären des Industrieproletariats in die Peripherie; prekäre Dienstleistungsjobs und befristete Arbeitsverhältnisse ersetzen die gewerkschaftlich mitabgesicherten „Normalarbeitsverhältnisse“. Auch mit Fleiß gibt es für die Arbeiter*innen von heute oft nicht genug zum sicheren Leben.

Und jetzt gerade, inmitten der Corona-Krise, deren ökonomische Folgen insbesondere für arme Menschen massive lebens- und existenzbedrohende Konsequenzen haben wird, zeichnet sich erneut ein Wandel ab, der auf Jahrzehnte wirken wird.

Es zeigt sich immer wieder, dass der Kapitalismus doch der beste Krisenproduzent ist. Die ohnehin mangelnde Absicherung prekarisierter Menschen bricht nun noch weiter ab, wenn sie nicht schon von Beginn an fehlte.

Die Lösung für die zu erwartende Weltwirtschaftskrise, das ist leider absehbar, wird nicht mehr soziale Absicherung sein, sondern ein verstärkt autoritärer, markthofierender Kapitalismus.

Gleichzeitig kehrten in der Corona-Krise die Arbeiter*innen in den Blick der Öffentlichkeit zurück. Nun ist die Frage in der Welt, wer eigentlich systemrelevant ist – Krankenschwestern, Kassiererinnen, Postbotinnen und all die anderen. Und es ist nicht ausgemacht, dass sie sich mit einer einmaligen Corona-Bonuszahlung werden abspeisen lassen. Darin liegt auch eine Perspektive für neue gesellschaftliche Kämpfe.

In dieser Ausgabe von kritisch-lesen.de begeben wir uns auf Spurensuche: Danach, was mit einer Gesellschaft passiert, deren Wohlstand auf einer obsolet gewordenen Industrie fußt.

  • Wie wandeln sich diese Arbeitsweisen heutzutage, etwa wenn wir über die neoliberalen und digitalen Ausprägungen des Kapitalismus diskutieren? Die Fabrik war schließlich nicht nur eine Arbeitsstätte, sondern auch ein Ort, an dem soziale Zugehörigkeit, Gemeinschaft und ganz allgemein politische und gewerkschaftliche Organisierung entstehen konnte.
  • Was geschieht mit den sozialen Gefügen, die sich darin entwickelt haben?
  • Welche Abstiegserfahrungen machen Menschen, denen dieser Halt abhanden kommt? Und wie könnte ein linkes Projekt aussehen, dass diesen Transformationsprozessen ohne falsche Nostalgie eine Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft gegenüberstellt?

Mit dem Blick auf bisherige Transformationsprozesse erhoffen wir uns Erkenntnisse für bevorstehende.“

Wilhelm Heitmeyer: „In der Krise wächst das Autoritäre“

ZEIT online – 13.4.2020

Interview: Christian Bangel

Wilhelm Heitmeyer:„In der Krise wächst das Autoritäre“

Verändert die Corona-Krise die Gesellschaft zum Guten? Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zweifelt. Wenig deute darauf hin, dass nun die harten Fragen verhandelt würden.

Wilhelm Heitmeyer, 74, ist einer der bedeutendsten deutschen Soziologen. Er war Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld von 1996 bis 2013. Unter seiner Federführung entstand die Reihe „Deutsche Zustände“, die von 2002 bis 2011 jährlich den Stand der Diskriminierung gegenüber Juden, Muslimen, Nichtweißen, Homosexuellen, Obdachlosen und anderen Gruppen untersuchte. Heitmeyer entwickelte den Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und gab der Öffentlichkeit damit ein wichtiges Erkenntnisinstrument in die Hand. Er arbeitet heute als Forschungsprofessor. Sein aktuelles Buch ist „Autoritäre Versuchungen“. Im Herbst erscheint „Rechte Bedrohungsallianzen“ bei Suhrkamp.

ZEIT ONLINE: Herr Heitmeyer, wie geht es Ihnen?

Wilhelm Heitmeyer: Ich bin zu Hause. Im Institut sind alle im Homeoffice. Mensen, Cafeteria und so weiter, das ist alles weitgehend dicht. Man kann bestenfalls seine Post abholen, und das war’s.

ZEIT ONLINE: Sie wirken recht unbeeindruckt.

Heitmeyer: Naja, das sieht nur so aus. Außerdem bin ich privilegiert. Wir wohnen in einem Randbezirk von Bielefeld in einem Haus mit einem großen Garten in einem Waldgrundstück. Da kann man es schon aushalten.

ZEIT ONLINE: Dabei heißt es immer, diese Krise sei eine, die alle gesellschaftlichen Gruppen betrifft.

Heitmeyer: Ja und nein. Eine Krise im soziologischen Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass erstens die normalen Routinen nicht mehr funktionieren und zweitens die Zustände vor dem Eintritt der Ereignisse nicht wieder herstellbar sind. Ein solches Ereignis erzeugt massive Kontrollverluste.

ZEIT ONLINE: Was auf Corona zweifellos zutrifft.

Heitmeyer: Ja. Corona ist sogar eine besondere Krise, sie macht nicht Halt vor sozialen Klassen. Es gab vor Corona auch schon 9/11, Hartz IV, die Finanzkrise, die Ankunft der Geflüchteten, die aber jeweils für ganz unterschiedliche Milieus verunsichernd wirkten und in ihren Auswirkungen zeitlich begrenzt waren. Und doch gibt es auch in der Bewältigung dieser Pandemie schon jetzt massive Klassenunterschiede. Wir in unserem Haus am Wald erleben eine völlig andere Realität als eine Familie, die zum Beispiel in Berlin-Marzahn oder in Köln-Chorweiler mit drei Kindern in beengten Verhältnissen wohnt. Die soziale Ungleichheit wirkt sich massiv aus, ja, soziale Ungleichheit zerstört Gesellschaften.

ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie von der Nach-Corona-Zeit?

Heitmeyer: Corona ist ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit. Da sind einerseits die psychischen Beschädigungen, die das Virus hinterlässt und die erst nach der Aufhebung der Kontaktbeschränkungen sichtbar sein werden. Und es sieht so aus, als würde eine tiefreichende wirtschaftliche Rezession mit weitreichender Arbeitslosigkeit auf uns zukommen. Die Folgen dürften soziale Desintegrationen und Statusverluste sein. Also weitere Kontrollverluste.

ZEIT ONLINE: Auf welche Reaktionen der Menschen müssen wir uns einstellen?

Heitmeyer: Über die gegenwärtigen Verarbeitungsformen wissen wir noch zu wenig. Aus bisheriger Forschung kennen wir einige Formen. Im Negativen sind Vertrauensentzug gegenüber der Politik oder die Einforderung von Etabliertenvorrechten möglich, nach dem Motto: Wir zuerst! Dann ist es nicht weit bis zum „Deutsche zuerst“. Herr Höcke von der AfD hat ja schon vor längerer Zeit von großen Remigrationsprojekten gesprochen, die mit „wohltemperierter Grausamkeit“ vorangetrieben werden sollen. Denkbar ist auch die Immunisierung nach der Art eines „Weiter so“, ohne dass man sich um die sozialen Folgen kümmert. Und es gibt natürlich quer über die Milieus Schuldverschiebungen, wie sie in Verschwörungstheorien erzählt werden.

Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden

ZEIT ONLINE: Kommt jetzt deren große Zeit?

Heitmeyer: Es gibt jedenfalls einen Zusammenhang zwischen Kontrollverlust und der Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Und da die Kontrollverluste dieser Tage nun wirklich breit gestreut sind, dürften sie größere Reichweite bekommen. Die Frage ist: Welchen sichtbaren Gruppen schiebt man die Schuld zu, wo der Virus doch unsichtbar ist? Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden. Im rechtsextremen Milieu ist schon einiges unterwegs.

ZEIT ONLINE: Gibt es auch ermutigende Prozesse? Was ist mit den vielen Menschen, die gerade zum Beispiel Älteren helfen?

Heitmeyer: Auch das gehört zu den möglichen Verarbeitungsformen. Es ist ja jetzt auch eine spannende Frage, ob und wie sich möglicherweise eine neue gesellschaftliche Solidarität entwickelt – oder eben auch nicht.

„Rechtspopulismus ist völlig ein irreführender Begriff“

ZEIT ONLINE: Was prognostizieren Sie?

Heitmeyer: Ich rate zur Nüchternheit. Man kann diese Solidaritäten, die jetzt häufig in beruflichen Leerlaufzeiten stattfinden, nicht einfach dauerhaft fortschreiben. Zumal, wenn die Zeit der Menschen bald wieder vollgefüllt sein wird mit Büroarbeit und anderen Tätigkeiten. Man hört und liest da zurzeit viel Gesellschaftsromantik, die schnell in große Enttäuschungen mit schlimmen Folgen einmünden kann. Ich erinnere an die anfängliche Euphorie zu Zeiten der Flüchtlingsbewegung im Herbst 2015 und das, was danach geschah.

Die harten Fragen lauten: Werden sich ökonomische Strukturen ändern oder werden die bisherigen sich weiter verhärten? Und natürlich: Werden die aktuellen Einschränkungen unserer Freiheit vollständig wieder verschwinden oder werden neue Kontrollregime auf Dauer eingerichtet, nur mit anderer Begründung?

ZEIT ONLINE: In Europa zeichnet sich als Folge der Corona-Krise eine Stärkung des Nationalen ab.

Heitmeyer: Das konnte man schon länger vor Corona sehen. Da reicht ein Blick auf die politische Landkarte. Die Kraft dieses neuen Nationalismus zeigt sich auch daran, dass die EU-Staaten unabhängig voneinander ihre Grenzen geschlossen haben. So eine Dynamik kommt zweifelhaften Vorreitern wie Orbán in Ungarn sehr gelegen. Er nutzt das jetzt zu einer fast uneingeschränkten Ausdehnung seiner Macht zur autoritären Kontrolle der Gesellschaft. Die EU finanziert eine formaldemokratisch verbrämte Diktatur in Europa.

Ich bin insgesamt nicht optimistisch

ZEIT ONLINE: Geht die Zeit der offenen Grenzen in Europa zu Ende?

Heitmeyer: Natürlich ist es ein Hoffnungsschimmer, dass diese Nationalismen auch durchbrochen werden, etwa wenn Corona-Patienten in andere Länder verlegt werden, um dort in Krankenhäusern gepflegt werden zu können. Aber dies sind keine systemischen Entscheidungen, sondern humanitäre Gesten. Ich bin insgesamt nicht optimistisch. Nicht nur zwischen Ost- und Westeuropa hat sich eine ungute Zweiteilung in den Vorstellungen von offener Gesellschaft und liberaler Demokratie entwickelt.

ZEIT ONLINE: Weil in Osteuropa ein autoritäres, nationalistisches Moment weiter verbreitet ist?

Heitmeyer: Ja. Es ist zu befürchten, dass sich dieser autoritäre Nationalradikalismus – Rechtspopulismus ist völlig ein irreführender Begriff – in den Ländern des Ostens weiter verfestigt. Bevor man darüber hinweg geht, sollte man bedenken, dass Orbán auch ein Vorbild für die deutsche Version dieses autoritär-nationalen Radikalismus ist, also die AfD.

ZEIT ONLINE: Rechtsextremismus und Rassismus sind mit Corona wahrscheinlich aus dem Fokus vieler Menschen verschwunden. Glauben Sie, diese Aufmerksamkeit, wie wir sie nach Halle und Hanau erlebten kommt noch mal wieder?

Heitmeyer: Das ist alles nur zeitweise überdeckt. Die Rechten leiden am Aufmerksamkeitsverlust. Aber die Ursachen sind ja nicht verschwunden. Natürlich hängt es auch an den Medien und daran, ob sie die anderen Dramen in der Gesellschaft vergessen.

ZEIT ONLINE: Aber im Augenblick hat man den Eindruck, dass die deutschen Rechtsradikalen sich weitgehend zurückhalten.

Heitmeyer: Die AfD ist derzeit gelähmt von der Beobachtung durch den Verfassungsschutz und ihren inneren Konflikten. Außerdem hat in Krisen immer die Regierung die Deutungsmacht. Dagegen kann die AfD selbst mit Tabubrüchen nichts ausrichten. Zumal das wahrscheinlich in der heutigen Situation auch nicht gut ankommen würde.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet die Selbstauflösung des rechtsextremen Flügels?

Heitmeyer: Es wäre völlig falsch, davon irgendeine Art von Politikveränderung in der AfD zu erwarten. Nach meiner Einschätzung wird der Flügel daraus gestärkt hervorgehen und zugleich weniger greifbar sein.

„Rechtes Eskalationskontinuum“

ZEIT ONLINE: Erleben wir also gerade nur eine Ruhepause vor dem Rechtsradikalismus?

Heitmeyer: Nur wenn man sich allein auf die AfD bezieht. Wir haben es aber im rechten Spektrum mit einem Eskalationskontinuum zu tun. Die abwertenden Einstellungsmuster in der Bevölkerung gegenüber schwachen Gruppen sind ja nicht mit der Corona-Krise einfach weg.

ZEIT ONLINE: Würden Sie das genauer erklären?

Heitmeyer: Es gibt ein rechtes Eskalationskontinuum, das aus fünf Elementen besteht. Es beginnt mit der Abwertung und Diskriminierung von Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit – also Juden, Muslime, Homosexuelle, Obdachlose, Flüchtlinge. Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung schafft Legitimation für die AfD, die das politisch in Parolen verdichtet und auf die Tagesordnung hebt. Die AfD schafft ihrerseits wiederum Legitimationen für rechtsextreme Milieus, indem sie Begriffe wie „Umvolkung“ oder „der große Austausch“ in die Welt setzt und mit Untergangsfantasien operiert. Diese systemfeindlichen Milieus operieren zum Teil schon mit Gewalt und geben wieder Legitimationen an militante Zellen, die konspirativ operieren – Gruppen wie „Revolution Chemnitz“ oder „Freital 360“. Die Gruppen werden immer kleiner und immer gewalttätiger, bis hin zu rechtsterroristischen Zellen oder Einzeltätern.

ZEIT ONLINE: Es gibt also eine Linie von der AfD zum Attentäter von Hanau?

Heitmeyer: Es ist viel problematischer durch dieses Eskalationskontinuum. Daraus entstehen – so nennen wir das – rechte Bedrohungsallianzen. Wenn man die Gefahren für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie ansatzweise in den Griff bekommen will, muss man das ganze Kontinuum im Blick haben und darf sich nicht nur auf die AfD konzentrieren.

„Wie wenig und langsam die Institutionen lernen“

ZEIT ONLINE: Legitimieren eigentlich auch Bürgerliche die Rechten, wenn sie von „Ökodiktatur“ und Ähnlichem sprechen?

Heitmeyer: Ja, diese Leute gibt es zuhauf. Dabei gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Politiker diese Begriffe durch Übernahme entschärfen können. Im Gegenteil, das dient nur der Normalisierung in der breiten Bevölkerung. Und solche Normalisierungsprozesse sind gefährlich, denn alles, was als normal gilt, kann man nicht mehr problematisieren. Das ist genau die Taktik der AfD, an der ja auch Markus Söder bei seiner letzten Landtagswahl so grandios gescheitert ist, als er versuchte, die AfD rechts zu überholen.

ZEIT ONLINE: Aber warum machen es dann Politiker immer wieder?

Heitmeyer: Sie zielen auf die rohe Bürgerlichkeit in den Mittelschichten. Hinter einer glatten Fassade und geschliffenen Worten verbirgt sich bei manchen ein Jargon der tiefen Verachtung gegenüber schwachen Gruppen. Da verschwimmen auch Grenzlinien zwischen Parteien um der geschichtsvergessenen Macht willen, wie in Thüringen. Die AfD ist auf die Destabilisierung gesellschaftlicher Institutionen ausgerichtet. Sie will ihre Leute in der Polizei, in der Bundeswehr, in der Kultur, in der politischen Bildung, in Gewerkschaften platzieren. Das sie in Thüringen so schnell die Systemebene bei der Wahl des Ministerpräsidenten erreichte, hätte ich vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten.

Geld und Applaus werden das kurzfristig nicht beheben“

ZEIT ONLINE: Wenn Sie von den Gründen für politische Radikalisierung sprechen, nennen Sie oft Anerkennungsverluste. Jetzt erleben wir, dass jeden Tag Menschen applaudiert wird, die bisher eine marginale Rolle gespielt haben.

Heitmeyer: Das ist in der Tat neu. Und der Respekt für diese Menschen ist natürlich verdient. Ich glaube aber, dass er mehr mit Angstreduktion der Klatschenden zu tun hat. Und er wird nicht flächendeckend die Anerkennungsverluste aufwiegen, die insbesondere in Ostdeutschland um sich gegriffen haben. Viele Menschen fühlen sich seit Jahrzehnten von der Politik nicht mehr wahrgenommen. Dieses Gefühl reicht tiefer. Und Geld und Applaus werden das kurzfristig nicht beheben.

ZEIT ONLINE: Ist es undenkbar, dass Corona einen ökonomischen und politischen Paradigmenwechsel auslösen wird, der die Rechtsradikalen schwächt?

Heitmeyer: Wer sollte denn der Treiber eines solchen Paradigmenwechsels sein? Aktionäre? Manager?

ZEIT ONLINE: Eine gesellschaftliche Mehrheit. Warum soll es nicht mehr Anerkennung und Zusammenhalt zwischen den sozialen Gruppen geben? Kontrollgewinne!

Heitmeyer: Das wäre wünschenswert, aber mindestens zwei Punkte sprechen dagegen. Erstens hat der globale, anonymisierte Finanzkapitalismus absolut kein Interesse an gesellschaftlicher Integration und damit an sozialen Anerkennungsprozessen. Solange sich da grundsätzlich nichts ändert, sehe ich auch keine sozialen Veränderungen kommen. Nach der Krise wird es doch eher ein brutales Aufholrennen für die verpassten Renditen geben. Dann dürften sehr schnell wieder umstandslos die Kriterien von Verwertbarkeit, Nützlichkeit und Effizienz gelten – nicht nur bei der Herstellung von Waschmaschinen, sondern auch in der Bewertung von Menschen.

ZEIT ONLINE: Aber sogar in Davos wird doch inzwischen gesagt, man muss wieder die Mittelschichten stärken, weil der Rechtsradikalismus auch den Finanzkapitalismus bedroht.

Heitmeyer: Das sind Absichtserklärungen auf Kongressen, aber ich sehe bisher keine Strukturveränderungen. Der zweite Punkt ist: Die Anerkennungsprozesse, die jetzt den Krankenschwestern und den Pflegern entgegengebracht werden, sind wunderbar. Sie sind bewundernswert und beruhigend. Aber erst das Langfristige ist strukturbildend. Und ich bezweifle, dass das lange anhalten wird. Wenn die Krise vorbei ist und Milliarden für die Stabilisierung der Wirtschaft ausgegeben sind, wird sich die Frage stellen, woher dann noch das Geld für die finanzielle Anerkennung der gerade gefeierten Helden und Heldinnen kommen soll. Ich bin sehr skeptisch. Aber ich hoffe die Skepsis irgendwann mal zu den Akten legen zu können.

„In der Krise wächst das Autoritäre“

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie?

Heitmeyer: Ich habe immer wieder erlebt, dass politische und ministerielle Institutionen kein Gedächtnis haben. Wie wenig und langsam sie lernen. Wie schnell hat man zum Beispiel die ganzen Bekundungen nach den Morden des NSU vergessen? Das ist ritualisiert worden und hat doch kaum Konsequenzen gehabt. Und man kann eine ganze Reihe von anderen Beispielen nennen. Ich würde mir wünschen, dass das anders würde, denn gerade von dieser sozialen Anerkennungsfrage, die Sie erwähnten, hängt unglaublich vieles ab für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Und ob sich autoritäre Versuchungen ausbreiten, die den Menschen die Wiederherstellung von Kontrolle durch Ausgrenzung der „anderen“ versprechen. In der Krise wächst das Autoritäre.

ZEIT ONLINE: Institutionen bestehen aus Menschen.

Heitmeyer: Natürlich, aber auch aus Regeln und Mechanismen. Die politischen und staatlichen Institutionen haben ja ein Eigenleben, das vor allem auf Bestandserhaltung ausgerichtet ist. Da ist ja nicht nur der Politiker, der sagt, dass die Krankenschwestern ab jetzt viel mehr Geld haben müssen. Vieles, was jetzt von den führenden Personen als Lehre aus der Krise genannt wird, wird von den Mechanismen der Institutionen zermahlen werden.

ZEIT ONLINE: Täuscht das, oder wirken Sie immer noch ziemlich unbeeindruckt von der Krise?

Heitmeyer: Ich bin überhaupt nicht unbeeindruckt. Aber ich sehe den großen Paradigmenwechsel nicht. Ich fürchte, diese schwärmerische Gesellschaftsromantik dürfte an den verhärteten Strukturen des Finanzkapitalismus und dem Kontrollzuwachs der politischen Institutionen zerschellen.