Bernd Stegemann: Linke Selbstzerstörung

Bernd Stegemann 10 August 2023

Quelle: Philosopie Magazin

Linke Selbstzerstörung

Die Linke droht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Hat sie sich zu sehr auf das urbane Milieu konzentriert und die Abgehängten vernachlässigt? Ein Kommentar von Bernd Stegemann, der vor fünf Jahren zusammen mit Sahra Wagenknecht die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ gründete.

Fahren zwei Linke zusammen im Zug. Sind sie am Ziel angekommen, gründen sie drei Parteien. Dieser alte Witz über linke Streitlust bringt den unseligen Hang zur Zersplitterung auf den Punkt. Was man den Narzissmus der kleinsten Differenz nennt, scheint in diesem Teil des politischen Spektrums besonders ausgeprägt. Linke Parteien zeichneten sich seit Beginn durch einen rigorosen Anspruch der reinen Lehre aus. Die kleinste Abweichung von der Parteilinie führte zum Parteiausschlussverfahren und der Hauch einer Meinungsverschiedenheit führte zum Zerwürfnis. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich aus keiner Milieublase heraus so bösartig angegriffen wurde, wie aus der linken. Der Umgangston dort ist nicht nur herzlich rau, sondern – getriggert durch die sozialen Netzwerke – von Häme, Diffamierung und Vernichtungslust geprägt.

Bei einer Veranstaltung im Karl-Liebknecht-Haus, zu der ich als Podiumsgast eingeladen war, sagte mir die Veranstalterin kurz vor Beginn, dass mein Erscheinen zu einem ernsten Krach bei der Leitung geführt habe. Und im Anschluss an die Veranstaltung kamen nicht wenige Menschen zu mir, die mit leiser Stimme sagten, dass sie eigentlich nicht hätten hier sein dürfen, da sie doch bei der Linkspartei arbeiten würden. Wie die Urchristen im alten Rom hatten sie sich unter Gefahren eingefunden und gaben sich nun gegenseitig zu erkennen.

REPRÄSENTATIONSLÜCKE

Parteien sind sicherlich kein Safespace für weiche Gemüter. Und Lagerkämpfe gibt es in allen politischen Richtungen. Der Streit zwischen den Realos und den Fundis ist bei den Grünen seit ihrer Gründung legendär. Die SPD hadert seit der Ära Schröder zwischen den Anhängern der Agenda 2010 und den alten Sozialdemokraten. Die CDU, lange von solchen inneren Kämpfen verschont, hat seit der Ära Merkel die Fraktionen der Merkel-Jünger und der Merz-Jünger. Und auch die AfD hat zwei Lager, die Anhänger des sozialpatriotischen Flügels um Björn Höcke und die Wirtschaftsliberalen um Alice Weidel. Dass die Linkspartei in zwei Lager zu zerfallen droht, ist also nicht nur eine Besonderheit linken Irrsinns, sondern auch der sich immer weiter ausdifferenzierenden politischen Landschaft geschuldet.

Alle Parteigründungen der letzten Jahrzehnte gingen aus Abspaltungen hervor. Die Kanzlerschaft von Helmut Schmidt führte zur Gründung der Grünen, die von Gerhard Schröder zur Linkspartei und die von Angela Merkel zur AfD. Dass die jetzige Lage eine weitere Abspaltung hervorruft, ist also nicht ungewöhnlich, und doch scheint es dieses Mal anders zu sein. Denn die Linkspartei spaltet sich nicht aus einem Überschuss an politischer Kraft, so wie seinerzeit die Protestenergie der 68er-Generation zu den Grünen drängte, die Agenda 2010 einen Sturm sozialer Proteste hervorrief, die die Linkspartei notwendig machte, und die Merkel-Jahre der Alternativlosigkeit für viele Unzufriedene eine Alternative am rechten Rand nötig erscheinen ließ.

Die relevante Frage für eine Parteispaltung lautet darum: Ist die Lage aktuell wieder so, dass eine relevante gesellschaftliche Kraft nach einer politischen Repräsentanz drängt? Man könnte meinen, dass das im Moment nicht zu erkennen ist. Die Protestenergien sind bei den Grünen noch gut aufgehoben. Und wenn es radikalere Forderungen gibt, wie von der Letzten Generation, dann suchen sie im Außerparlamentarischen nach Rückhalt. Eine neue Klimaschutzpartei ist nicht in Sicht. Und die im weitesten Sinne linken Kräfte in Deutschland scheinen in drei Parteien aufgehoben. Worin besteht also der andauernde Streit in der Linkspartei?

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Wagenknecht – Das Ende der LINKEN?

Do 23.11.2023 | 19:00 | Der Zweite Gedanke

Die Debatte mit Ann Kristin Schenten, Bernd Stegemann und Ines SchwerdtnerWAGENKNECHT: DAS ENDE DER LINKEN?

„Fans sind keine Genossen.“ (Ines Schwerdtner)

Vernunft und Gerechtigkeit. Dafür soll Sahra Wagenknechts Verein “Bündnis Sahra Wagenknecht” stehen. Im Januar will sie eine Partei gründen. Spätestens dann muss sie zeigen, was hinter diesen Worten steht. Die politische Landschaft hat sie allerdings schon aufgewühlt. Die Linksfraktion im Bundestag wurde liquidiert. Die Partei versucht sich nun neu zu ordnen. Im Moment verzeichnet sie sogar mehr Parteieintritte als -austritte. Trotz oder gerade wegen Wagenknecht?

Die Publizistin Ines Schwerdtner hat sich im Sommer entschieden, in die Partei “Die Linke” einzutreten und als Kandidatin für die Europawahl zu kandidieren. Damals war schon abzusehen, dass Wagenknecht die Partei verlassen wird.

Der Dramaturg Bernd Stegemann gehörte zu den Gründungsmitgliedern von Wagenknechts Bewegung “Aufstehen”. Sein Verhältnis zu ihr bezeichnet er als “freundlich distanziert”.

„Sie ist eine charismatische Politikerin. Sie wird gemocht und gewählt und gewollt, weil die Leute sie toll finden. Das ist eine ganz besondere Qualität. Sie hat das, was man bei Schauspielern eine bestimmte Präsenz nennen würde. Ich habe sie auch manchmal beobachtet bei öffentlichen Auftritten, da kann sie halt etwas, was nicht viele Profipolitiker können: Sie kann einen unglaublich starken Fokus setzen auf sich selber. Also in dem Moment, wo sie auf einem Marktplatz eine Bühne betritt, ist nur noch eine Realität da. Das ist Sahra Wagenknecht, und das ist eine wahnsinnige Begabung.Bernd Stegemann.“

„Fans sind keine Genossen. Das ist eben der Unterschied. Natürlich braucht man Figuren, zu denen man aufblickt und die man toll findet und so weiter. Die auch Projektionsflächen sind, keine Frage. Aber eine sozialistische Partei sollte sich meiner Meinung nach eben dadurch ausdrücken, dass sie wirklich mehrere Menschen hat, die so ein Projekt und auch eine Partei tragen. Sie darf sich nicht auf eine Hoffnungsträgerin verlassen. Das ist wirklich ganz, ganz gefährlich.Ines Schwerdtner.“

Bernd Stegemann, geboren 1967 in Münster, ist Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und war über zwanzig Jahre Dramaturg an verschiedenen Theatern. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur Kunst des Theaters und Dramaturgie des öffentlichen Sprechens, u.a. „Die Kritik des Theaters“ (Theater der Zeit, 2013), „Lob des Realismus“ (Theater der Zeit, 2015), „Das Gespenst des Populismus“ (Theater der Zeit, 2017,) „Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik“ (Matthes & Seitz, 2018), „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ (Klett-Cotta, 2021) sowie zuletzt „Identitätspolitik“ (Matthes & Seitz, 2023). Stegemann gehörte zu den Gründungsmitgliedern von „Aufstehen“, der ehemaligen Sammlungsbewegung von Sahra Wagenknecht.

Ines Schwerdtner, geboren 1989 in Werdau (Sachsen), arbeitete als Publizistin und war bis zum Sommer 2023 Chefredakteurin des sozialistischen Magazins „Jacobin“. Am 25. August 2023 erklärte sie ihren Eintritt in die Linke. Sie kandidiert für den Landesverband Sachsen-Anhalt bei der Wahl zum Europaparlament. 2022 gehörte sie zu den Initiatorinnen der Kampagne „Genug ist Genug“, die sich als Reaktion auf steigende Preise in der Energiekrise entstand. Ines Schwerdtner bezeichnet sich als Sozialistin.

Wie umgehen mit der AfD?

Es diskutierten: PD Dr. Volker Best (Regierungslehre), PD Dr. Jens Hacke (Politische Theorie), Prof. Dr. Andreas Petrik (Politikdidaktik), Prof. Dr. Johannes Varwick (Internationale Beziehungen) Moderation: PD Dr. Jana Windwehr Prof. Dr. Johannes Varwick

https://varwick.politik.uni-halle.de/ http://johannes-varwick.de/   / johannesvarwick  

Kapitel 0:00 Einführung 6:00 Ablauf 7:58 Statement Dr. Volker Best 12:55 Statement Dr. Jens Hacke 19:35 Statement Prof. Dr. Andreas Petrik 25:00 Statement Prof. Dr. Johannes Varwick 32:48 Panel-Fragerunde 1 49:02 Panel-Fragerunde 2 54:20 Panel-Fragerunde 3 01:04:40 Publikumsfragen 01:53:15 „2030 ist die AfD…?“ 01:55:00 Abspann

Wettlauf mit der Zeit – Nur die USA können den Friedensprozess vorantreiben

Quelle: IPG-Journal 04.12.2023 | Anatol Lieven

Wie Biden für Frieden in der Ukraine eintreten kann

Wettlauf mit der Zeit

Angesichts des Kriegsverlaufs wird ein Waffenstillstand für die Ukraine immer dringlicher. Doch nur die USA können den Friedensprozess vorantreiben.

Die ukrainische Offensive im Sommer und Herbst 2023 ist gescheitert. Es gab nur minimale Geländegewinne – bei enormen menschlichen Verlusten – und die durchschlagenden ukrainischen Erfolge von 2022 konnten nicht wiederholt werden. Der Oberkommandant der ukrainischen Armee, General Walerij Saluschnyj, räumte zuletzt ein, der Konflikt sei in eine Pattsituation geraten und inzwischen ein Stellungskrieg.

Zeitgleich rollt die nächste russische Gegenoffensive. Zwar kommen Moskaus Streitkräfte ebenfalls nur sehr langsam voran, doch die Zeit ist ein weiterer Feind für die Ukraine: Russland hat etwa das Vierfache der Bevölkerung der Ukraine sowie das Vierzehnfache ihres Bruttoinlandsprodukts. Das verschafft Moskau enorme Vorteile in diesem zu einem Zermürbungskrieg mutierten Konflikt. Die gravierenden Probleme in der US-amerikanischen und europäischen Rüstungsindustrie haben darüber hinaus dazu geführt, dass Russland weitaus mehr Granaten und Munition produziert, als die Ukraine vom Westen erhält.

Die Erfolge der Ukraine in den ersten Monaten des Krieges waren auf den Mut und die Entschlossenheit der ukrainischen Soldaten, einige besonders wirksame westliche Waffen und eine extrem schlechte russische Planung zurückzuführen. Außerdem konnte die Ukraine mehr Männer mobilisieren als Russland, weil Präsident Wladimir Putin zögerte, die Rekrutierung zu forcieren. Dieser einstige Vorteil hat sich nun aber ins Gegenteil verkehrt.

Wie die jüngsten politischen Entwicklungen im US-Kongress und in Europa zeigen, gibt es zudem keine Garantie dafür, dass die westliche Hilfe weiterhin in einem Umfang geleistet wird, der es der Ukraine ermöglicht, den Kampf erfolgreich fortzusetzen. Angesichts dieser Voraussetzungen gibt es keine realistische Aussicht, dass die Ukraine ihre derzeitige Position auf dem Schlachtfeld wesentlich verbessern können wird. Der Westen kann gegebenenfalls mehr Waffen liefern, aber er kann keine zusätzlichen ukrainischen Soldaten schaffen. Die Ukraine hat immer größere Schwierigkeiten bei der Rekrutierung, während Russland seine Reserven abruft und die Verteidigungslinien in der Süd- und Ostukraine ständig verstärkt.

Die Stimmen im Westen, die weiterhin einen „absoluten“ ukrainischen Sieg fordern, werden immer verzweifelter.

Die Stimmen im Westen, die weiterhin einen „absoluten“ ukrainischen Sieg fordern, werden immer verzweifelter. Ein Beispiel dafür ist der Vorschlag amerikanischer Veteranen, dass die Ukraine mit zusätzlichen US-Raketen Russland durch reine Bombardierung irgendwie dazu zwingen könne, die Krim zu verlassen. Eine solche Vorstellung widerspricht allem, was in der gesamten Menschheitsgeschichte des Krieges gelernt wurde. Um ein solches Ziel nachhaltig zu erreichen, bräuchte die Ukraine des Weiteren umfangreiche Amphibienverbände, über die sie schlichtweg nicht verfügt.

Ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen werden deshalb für die Ukraine immer dringlicher. Wenn die Kämpfe entlang der derzeitigen Frontlinien eingestellt würden, wären immerhin mehr als 80 Prozent der Ukraine völlig unabhängig von Russland (und erbittert mit Moskau verfeindet) und könnten ihr Bestes tun, um in die Europäische Union aufgenommen zu werden.

Angesichts der ursprünglichen Ziele, die der Kreml mit der Invasion im Jahr 2022 verfolgte, und der Geschichte der russischen Herrschaft über die Ukraine in den vergangenen 300 Jahren, wäre dies keine Niederlage für die Ukraine, sondern ganz im Gegenteil ein Sieg. Wenn der Krieg hingegen auf unbestimmte Zeit fortgesetzt wird, besteht die reale Gefahr, dass der ukrainische Widerstand zusammenbricht, sei es, weil schlicht und ergreifend die Mannstärke fehlt oder weil Russland mit seinen zusätzlichen Kräften erneut die Fronten in der Nordukraine eröffnen kann, von denen es sich im letzten Jahr zurückgezogen hatte – und die die Ukraine wohl nicht mehr verteidigen könnte.

Aus diesem Grund soll die US-Führung der ukrainischen Regierung insgeheim bereits geraten haben, Gespräche mit Russland aufzunehmen. Aus Sicht Kiews ist dies allerdings außerordentlich schwierig. Präsident Selenskyj und andere führende Beamte müssten ihre vorherigen Erklärungen revidieren, dass sie nicht mit Putin verhandeln und dass die einzige akzeptable Bedingung für ein (auch nur vorläufiges) Abkommen der vollständige Rückzug Russlands aus allen Gebieten ist, die seit 2014 besetzt wurden. Ultranationalistische Gruppen in der Ukraine setzen sich mit aller Macht gegen jeden Kompromiss ein. Darüber hinaus ist auch die russische Regierung derzeit nicht an einem vorläufigen Waffenstillstand interessiert, denn auch sie weiß, dass die Zeit für sie spielt.

Nur die US-Regierung kann ausreichend Druck auf die ukrainische Führung ausüben.

Unter diesen Umständen reicht es nicht aus, wenn Washington hinter den Kulissen auf Gespräche drängt, während öffentlich betont wird, nur die Ukraine könne einen Frieden aushandeln. Ebenso wäre es nicht klug, diplomatische Initiativen bis nach den nächsten US-Präsidentschaftswahlen in einem Jahr aufzuschieben, in der Hoffnung, dass sowohl die ukrainischen Streitkräfte als auch die US-Hilfe so lange durchhalten und dass eine peinliche Kehrtwende mitten im Wahlkampf vermieden werden kann.

Möglicherweise hält die Ukraine nämlich nicht so lange durch, und ein großer russischer Erfolg, also die Eroberung von noch deutlich mehr ukrainischem Territorium, würde die Regierung Biden vor die Qual der Wahl stellen: eine ukrainische Niederlage hinnehmen, was eine große Demütigung für die USA und die NATO wäre, oder mit einer direkten Intervention drohen und einen Atomkrieg mit Russland riskieren.

Wie die Katastrophe in Israel und Gaza zeigt, ist es außerdem unvernünftig, darauf zu vertrauen, dass eine inhärent instabile Situation wie das amerikanisch-russische Tauziehen um die Ukraine langfristig ausgeglichen bleibt. Jederzeit könnte ein versehentlicher Zwischenfall (beispielsweise) zwischen russischen und den US-amerikanischen Luftstreitkräften über dem Schwarzen Meer zu einem dramatischen Anstieg der Spannungen führen und sogar einen Atomkrieg auslösen. Selbst wenn das Schlimmste verhindert werden würde, hätte eine solche Krise neben menschlichen Opfern auch verheerende Auswirkungen auf die Welt- und die US-Wirtschaft.

Die USA müssen sich daher aktiv in den Friedensprozess einbringen. Nur die US-Regierung kann ausreichend Druck auf die ukrainische Führung ausüben und gleichzeitig einigermaßen glaubwürdige Sicherheitsgarantien für die Zukunft bieten. Im Gegenzug kann auch nur die US-Regierung Moskau glaubhaft androhen, dass die massive US-Militär- und Wirtschaftshilfe für die Ukraine fortgesetzt wird – und gleichzeitig dem Kreml Kompromisse in Fragen anbieten, die für Russland von entscheidender Bedeutung sind.

Die derzeitige Richtung des Krieges führt in die Katastrophe.

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.Die englische Originalversion des Artikels erschien zuerst bei Responsible Statecraft.

Aus dem Englischen von Tim Steins