Michael Lüders: „In Deutschland gibt es mittlerweile kaum noch eine Debattenkultur“

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„In Deutschland gibt es mittlerweile kaum noch eine Debattenkultur“

  1. Februar 2023  Thomas Barth

Michael Lüders, auf der Leipziger Buchmesse 2017. Foto: Amrei-Marie/ CC BY-SA 4.0

Über den gegenwärtig schweren Stand von Nonkonformisten, die Moralisierung in Politik und Medien und „Feindbegünstigung“: Michael Lüders im Interview.

Michael Lüders ist Politik- und Islamwissenschaftler. Der Öffentlichkeit ist er als Publizist bekannt, der die Politik des Westens in Nahost kritisch analysiert. Lüders Bücher erzielen hohe Auflagen. Seine Kritik ist gegen den Konsens gebürstet. Was 2017 im Fall seiner Einlassungen zu Syrien zu Reaktionen führte, die ihm die Expertise absprachen und ihm eine unkorrekte Parteilichkeit vorhielten.

„Seine Positionen und seine Anwesenheit in öffentlich-rechtlichen Talkshows lösen seit kurzem heftige Kontroversen aus“, schrieb damals Stefan Niggemeier, der selbst kein Nahost-Experte ist, sondern lediglich Medienkritiker und der Lüders damals mit krassen Etiketten („Scharlatan“) attackierte. Ein halbes Jahrzehnt später gilt: Auch die Positionen Lüders zum Ukraine-Krieg und dessen Implikationen lösen Kontroversen aus. Aber seine Stimme ist weniger vernehmbar. Es entsteht der Eindruck, dass Medien, insbesondere öffentlich-rechtliche Sender, auf Abstand zu ihm gegangen sind. Telepolis hat bei ihm nachgefragt.

Führte das Prädikat „umstritten“, das Ihnen 2017 zuteil wurde, Ihre vermehrte Medienkritik, zu Ihrer tendenziellen Entfernung aus der TV-Landschaft? Wie gelang es, den Nahost-Experten trotz seiner – mit Bestsellern ausgewiesenen – Beliebtheit beim Publikum, derart auf Abstand zur Debatte zu bringen?

 Michael Lüders: In Deutschland gibt es mittlerweile kaum noch eine Debattenkultur. Das hat verschiedene Ursachen, darunter eine hochgradige Moralisierung in Politik und Medien.

Man schaue auf die Berichterstattung im Ukraine-Krieg: Wer sich etwa kritisch zu mehr und immer mehr Waffenlieferungen an die Ukraine äußert oder russische Motive für den ebenso falschen wie völkerrechtswidrigen Angriff auch nur zu erklären sucht (ohne sie gutzuheißen), riskiert seinen Ruf, seine Karriere, gilt fast schon zwangsläufig als Putin-Propagandist. Sogar das Eintreten für Friedensverhandlungen steht im Ruch dessen, was zu früheren Zeiten wohl in die Kategorie „Defätismus“, wenn nicht Landesverrat gefallen wäre. Diese Gleichförmigkeit ist insoweit erstaunlich, als es in Deutschland bekanntlich kein Wahrheitsministerium gibt.10 / 00:21

Offenbar haben aber nicht zuletzt die sehr gut aufgestellten transatlantischen Netzwerke, deren Einfluss auf Politik und Medien gar nicht hoch genug einzuschätzen ist, gute Vorarbeit geleistet. Wer den immer enger gesetzten Leitplanken dessen, was etwa in meinungsprägenden Talkshows gerade noch gesagt werden darf, nicht entspricht, riskiert seine Exkommunizierung durch die Leitmedien.

Mir ist das widerfahren im Zuge des Syrien-Krieges, als ich auf die geostrategischen Interessen westlicher Akteure hingewiesen habe. Das aber widersprach dem offiziellen Narrativ: Wir handeln gut und werteorientiert, indem wir die „Opposition“ unterstützen – ungeachtet der Tatsache, dass die überwiegend aus dem Umfeld radikaler Islamisten bestand.

Wer wollte das hören? Wir sind doch wie immer die Guten im Kampf gegen das Böse gewesen, also gegen Assad und Putin. Jede Differenzierung gilt offenbar als „Feindbegünstigung“.

Gegenwärtig triff das vor allem den überaus sachkundigen Russland-Experten und Hochschullehrer Johannes Varwick, der ebenfalls den „Fehler“ beging, differenzierende Standpunkte zu vertreten und damit dem vorherrschenden Gut/Böse-Schema nicht entsprach. Gilt es missliebige Personen mit einem gewissen Bekanntheitsgrad aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, so gibt es dafür zwei bewährte Mittel. Entweder die betreffende Person wird ignoriert, ihre Publikationen ebenso wie ihre Meinungsäußerungen. Die Medien sortieren ihn entsprechend als Experten oder Gesprächspartner aus. Das ist die vergleichsweise gemäßigte Variante. Die deutlich brutalere ist der wohlinszenierte und über längere Zeit andauernde Shitstorm, mit dem Ziel, die unliebsame Person einer „character assassination“ zu unterziehen. Gabriele Krone-Schmalz oder Ulrike Guérot könnten davon sicherlich ein Lied singen.

 Was hat Sie motiviert, sich in Ihrem Buch Scheinheilige Supermacht erstmals (?) näher mit Medien und Propaganda zu befassen?

 Michael Lüders: Medien prägen die öffentliche Wahrnehmung. Doch selten denken ihre Nutzer darüber nach, welche Perspektiven Medien einnehmen, welchen Interessen sie folgen.

Die Annahme, Medien seien eine „vierte Staatsgewalt“, die den Mächtigen und Regierungen dieser Welt kritisch auf die Finger schaut, erweist sich zunehmend als Illusion – ungeachtet der Redlichkeit einer kleiner werdenden Zahl von Journalisten, die sich weiterhin der Aufklärung verpflichtet wissen.

Welche Fragen brachten Sie auf eine Beschäftigung mit den Propaganda-Theoretikern Lippmann & Bernays sowie mit den Propaganda-Kritikern Chomsky & Herman?

 Michael Lüders: Wie funktionieren Medien unter den Bedingungen der Marktwirtschaft? Welche Mechanismen wirken im Kontext von Framing oder auch „betreutem Denken“? Wie gelingt es den Leitmedien, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung in ihren Haltungen und Einstellungen nicht allzu sehr von dem entfernt, was Regierende für richtig oder geboten halten?

Wie funktioniert das Wechselspiel von „Öffentlichkeitsarbeit“ und Propaganda? Wer diese Fragen ernsthaft zu beantworten sucht, kommt um die Wiederentdeckung etwa von Edward Bernays oder Walter Lippmann nicht herum. Sie haben schon vor rund 100 Jahren die entsprechenden Mechanismen umschrieben, die sich bis heute im Grundsatz nicht verändert, wenngleich „verfeinert“ haben.

Upton Sinclair sagt in „The Brass Check: A Study of American Journalism“, was Kritikern des US-Establishments in der US-Presse geschah (siehe: Sinclairs Kritik an der miesen Qualität vieler US-Medien) : Sie wurden „blacklisted, boycotted and put out of business“. Sehen Sie ähnliche Reaktionen auf Ihre kritischen Analysen auch heute noch?

 Michael Lüders: Wer sich nicht lenken lassen mag, zahlt seinen Preis. Nonkonformisten haben gegenwärtig einen schweren Stand. Aber das muss nicht so bleiben. In jedem Land gibt es genügend kritische Menschen, die sich zu engagieren beginnen. Angefangen damit, offiziellen Verlautbarungen mit Vorsicht zu begegnen.

Vorträge von Michael Lüders finden sich hier. Als Bücher sind u.a. erschienen:

Die scheinheilige Supermacht: Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen, C.H. Beck, 2021.

Hybris am Hindukusch: Wie der Westen in Afghanistan scheiterte, C.H. Beck, 2022.

Wer den Wind sät: Was westliche Politik im Orient anrichtet, C.H. Beck, 2021.

Putins Komplizen – Die geheime Welt der Oligarchen

Ringvorlesung „Bildung für Klimaschutz“ | Prof. Dr. Dietmar Höttecke

Walter Jens – der Prototyp des bundesdeutschen Intellektuellen – zum 100. Geburtstag (am 8.3.2023)

„Walter Jens – der Prototyp des bundesdeutschen Intellektuellen“: so ist der Aufsatz des Journalisten und Literaturkritikers Ulrich Rüdenauer in der März-Ausgabe (2023) der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ überschrieben.

Wir erfahren, dass es der Intellektuelle in Deutschland – im Gegensatz zu Frankreich – nicht leicht hatte. Der Historiker Bering wählte – so berichtet Rüdenauer – für seine 1978 erschienene Monographie „Die Intellektuellen“ den Untertitel „Geschichte eines Schimpfwortes“. Das änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg: „Der Intellektuelle wurde langsam als produktive Kraft in kulturellen und politischen Debatten wahrgenommen…“ (Rüdenauer, S. 31). Als Prototyp des bundesdeutschen Intellektuellen, der in den 1950er Jahren nach und nach Gestalt annahm, beschreibt Rüdenauer Walter Jens.

Die Lektüre des Aufsatzes von Ulrich Rüdenauer lohnt sich  Außerdem abgedruckt in der März-Ausgabe der „Blätter“ ist ein Aufsatz von Walter Jens aus dem Jahr 1988: „Über demokratische Beredsamkeit in unmenschlichen Zeiten“.


US-Thinktank Rand Corporation rät zu Verhandlungen

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170722.ukraine-russland-konflikt-deeskalation-im-ukraine-krieg-us-thinktank-raet-zu-verhandlungen.html

06.02.2023 René Heilig

Deeskalation im Ukraine-Krieg: US-Thinktank rät zu Verhandlungen

Rand Corporation zeigt US-Handlungsoptionen im Ukraine-Russland-Konflikt auf

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und der ukrainische Staatschef Wolodomir Selenskij trafen sich vergangene Woche in Kiew. Zeit und Ort waren bewusst gewählt – als Geste der europäischen Solidarität. Wer aber gehofft hatte, wenigstens die Konturen eines Friedensplans zu entdecken, ist ernüchtert.

Wie kann man das Morden stoppen? Die Rand-Corporation, eine nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA gegründete Denkfabrik, die neben dem Pentagon auch das Weiße Haus berät, hat sich darüber im Gegensatz zur EU Gedanken gemacht. Die Autoren Samuel Charap und Miranda Priebe stellen dabei die Interessen der USA – die »nicht gleichbedeutend sind mit den ukrainischen« – in den Mittelpunkt. Ihr Fazit: »Die Kosten und Risiken eines langen Krieges… sind erheblich und überwiegen die möglichen Vorteile eines solchen Kurses für die Vereinigten Staaten.«

Eine Kernfrage der Studie lautet: Wie wahrscheinlich ist der Einsatz nicht-strategischer Kernwaffen durch Russland? Eine zunehmende Anzahl westlicher Entscheider sieht diese Möglichkeit als gering an, unter anderem deshalb, weil Russland wisse, dass der Einsatz von Atomwaffen einer Selbstzerstörung gleichkomme. Ein solcher Einsatz könnte die Nato dazu veranlassen, in den Krieg einzutreten und Russland internationale Unterstützung kosten. Rand folgt dieser These nicht, schon weil es Anzeichen dafür gibt, »dass der Kreml diesen Krieg als nahezu existenziell ansieht«. Hinzu kommt, dass Moskaus konventionelle Fähigkeiten in der Ukraine dezimiert wurden. »Wenn Russland weitere Verluste auf dem Schlachtfeld erleidet, könnte bei hochrangigen Kreml-Entscheidungsträgern Verzweiflung eintreten.«

Die Autoren erinnern daran, dass die USA auch im direkten Kontakt mit dem Kreml deutlich gemacht haben, dass man in einem solchen Fall »Vergeltung« üben würde – was zu »einem Krieg zwischen der Nato und Russland« und einem »direkten Konflikt zwischen den USA und Russland« führen könnte. Das könnte letztlich »in einen strategischen nuklearen Schlagabtausch« münden. Die Rand-Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Regierung von Joe Biden reichlich Grund habe, »die Verhinderung eines russischen Einsatzes von Atomwaffen zu einer obersten Priorität für die Vereinigten Staaten zu erheben«.

Bereits im Oktober 2021 soll US-Generalstabschef Mark Milley den Präsidenten über Moskaus Kriegspläne informiert haben. Dabei habe der General als strategische Ziele der USA formuliert: »kein kinetischer Konflikt zwischen dem US-Militär und der Nato mit Russland«. Zudem gelte es, die Kämpfe »innerhalb der geografischen Grenzen der Ukraine« zu halten. Eine Gratwanderung, denn, so unterstreicht Rand: »Das Ausmaß der indirekten Beteiligung der Nato-Verbündeten an diesem Krieg ist atemberaubend groß.« Folglich bestehe eine erhebliche Gefahr einer Ausweitung des Konfliktes.

Wie könnte der Krieg sich nun weiter entwickeln? Im Dezember 2022, so die Studie, hatte Russland fast 20 Prozent der Ukraine besetzt. Kiews oberste Priorität ist die Wiedererlangung der Kontrolle über seine Gebiete. Eine Beendigung des Krieges, bei der die Ukraine die volle Kontrolle über das ihr völkerrechtlich zustehende Territorium erhält, würde die Rechtsnormen zwar wiederherstellen, doch das betrachten die Rand-Analytiker als »höchst unwahrscheinliches Ergebnis«. Sie halten eine Rückkehr zu den Grenzen vor dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 derzeit auch »für nicht erstrebenswert«, weil die Ukraine dann immer noch Gebiete – beispielsweise die Krim – verloren hätte, ohne Stabilität zu gewinnen. Die Studie plädiert zwischen den Zeilen für eine Beibehaltung der »Kontrolllinie«, die seit Dezember 2022 besteht. Die beraube Kiew nicht seiner wirtschaftlich lebenswichtigen Gebiete und würde sich – anders als ein denkbarer Verlust der Schwarzmeerküste – nicht auf die Lebensfähigkeit des Landes auswirken.

Die Studie betont, ein langanhaltender Krieg liege nicht im Interesse Washingtons. Schon, weil er weitere russische Gewinne ermöglichen könnte. Die Kosten für die USA wie für die EU würden enorm wachsen und die globalen wirtschaftlichen Verwerfungen könnten sich vervielfachen. Das behindere die USA beim Verfolgen ihrer strategischen Ziele. Über allem stehe der Wettstreit mit China. Auch wenn Russland als Verbündeter Chinas durch einen langen Ukraine-Krieg militärisch gebunden wäre, sei es nicht im US-Interesse, dass Russland zu einem reinen Vasallen Chinas werde.

Die Rand-Autoren nennen Waffenstillstandsverträge im Ersten Weltkrieg oder im Korea-Krieg als Vorbilder für eine Vereinbarung den Ukraine-Konflikt. Ein Waffenstillstand würde »die Frontlinien einfrieren und ein langfristiges Ende der aktiven Kampfhandlungen bringen«. In dem Zusammenhang wird auch Präsident Biden kritisiert. Er habe zwar gesagt, dieser Krieg werde am Verhandlungstisch enden. Seine Regierung habe aber »noch keine Schritte unternommen, um die Parteien zu Gesprächen zu drängen«.

Dazu müssten die USA erst einmal selbst ihre Pläne konkretisieren. Mehr Klarheit über westliche Militärhilfe beispielsweise würde Russland klarmachen, dass es keine Siegeschance hat. Zugleich könnten die USA künftige Militärhilfen für die Ukraine von einer Verhandlungsbereitschaft Kiews abhängig machen. Denkbar ist, dass die USA und ihre Verbündeten erwägen, langfristige Verpflichtungen für die Sicherheit der Ukraine einzugehen. Dazu könnte – entgegen bisherigen Nato-Beitrittsofferten – die Zusicherung einer dauerhaften Neutralität der Ukraine sowie eine strikte Begrenzung der ausländischen Militärpräsenz ein Entgegenkommen gegenüber Moskau signalisieren. Wichtig finden die Autoren des Rand-Papiers zudem, dass der Westen Moskau eine Beendigung der Sanktionspolitik in Aussicht stellt.

Charap und Priebe wissen, dass eine solche Änderung der US-Politik über Nacht auch gegenüber den Verbündeten »politisch unmöglich«, zumindest aber »unklug« wäre. Dennoch sei die Zeit reif für eine Debatte über ein mögliches Ende des Krieges, mahnen sie.

Unter dem Titel „Gibt es eine Verhandlungslösung?“ findet man eine weitere Besprechung der Studie aif der Website Globalbridge

Hier der Originaltext der Autoren der Rand Corporation: Avoiding a long war