Von der fehlenden wissenschaftlichen Begründung der Corona-Maßnahmen

Als Beitrag zur Abbildung der kontroversen Diskussion der Corona-Maßnahmen zitieren wir hier auszugsweise den Beitrag von Christof Kuhbandner.

Christof Kuhbandner ist Psychologieprofessor und Lehrstuhlinhaber an der Fakultät für Humanwissenschaft der Universität Regensburg. Seine Überlegungen sind aktuell bei einer Fachzeitschrift eingereicht und bereits als nicht begutachteter Vorabdruck erschienen. Dieser Artikel erschien bereits in Stephan Schleims Blog Menschen-Bilder.

TELEPOLIS 25. April 2020  Christof Kuhbandner

Von der fehlenden wissenschaftlichen Begründung der Corona-Maßnahmen

Warum die These von der epidemischen Ausbreitung des Coronavirus auf einem statistischen Trugschluss beruht

Praktisch weltweit erleben wir eine bisher nie dagewesene Situation: Um eine offenbar drohende Epidemie zu bekämpfen, werden weltweit drastische Maßnahmen ergriffen. So wurden beispielsweise in Deutschland so viele Grundrechte so flächendeckend und umfassend eingeschränkt, wie es bisher in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie vorgekommen ist.

Beraten wird die Politik dabei von zahlreichen virologischen Experten. Man könnte also meinen, dass die Notwendigkeit von dramatischen Eingriffen in unsere Grundrechte durch fundierte Wissenschaft gut begründet ist. Blickt man aber als ein in Forschungsmethoden und Statistik erfahrener Wissenschaftler auf die wissenschaftliche Basis dessen, womit die drastischen Maßnahmen gerechtfertigt werden, kommen Zweifel auf.

Praktisch alle der ergriffenen Maßnahmen werden damit begründet, dass dadurch ein Anstieg in den täglichen Neuinfektionen verhindert werden soll, um einer angeblichen exponentiellen Ausbreitung des Coronavirus entgegenzuwirken. So rechnete z.B. der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) auf einer Pressekonferenz am 18. März – ausgehend vom damals beobachteten Anstieg in den Neuinfektionen – hoch, dass es in Deutschland in zwei bis drei Monaten bis zu 10 Millionen Infizierte geben würde, wenn man es nicht schaffen würde, die Kontakte unter den Menschen wirksam und über einige Wochen nachhaltig zu reduzieren.

Ähnlich formuliert es die Leopoldina – die Nationale Akademie der Wissenschaften – in ihrer zweiten Stellungnahme: „Obwohl der Anstieg der registrierten Neuinfektionen mit SARS-Cov-2 in Deutschland sich seit einigen Tagen verlangsamt, müssen die am 22.03.2020 beschlossenen, bundesweit gültigen politischen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung weiterhin Bestand haben.“ Und der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte im ZDF Heute Journal am 19. April: „Wenn wir es geschafft haben, gemeinsam auch die Zahl der Neuinfektion so runterzubringen Richtung 3.000 bis 4.000 am Tag, dann muss es uns auch gelingen dort zu bleiben, nur dann können wir schrittweise zurück in eine neue Normalität.“

Der tatsächliche Zeitpunkt des Rückgangs in den täglichen Neuinfektionen

Angesichts der Tatsache, dass alle ergriffenen Maßnahmen mit der steigenden Zahl an täglichen Neuinfektionen begründet werden, wollen wir diese Zahlen einmal genauer betrachten. Dazu wollen wir uns zunächst die typische Graphik zum Anstieg in den Neuinfektionen ansehen, wie sie zum Beispiel seit langem im Dashboard des RKI dargestellt wird (Stand: 23. April):

Was man zunächst festhalten kann: Die Zahlen sinken offenbar mindestens seit dem 3. April. Aber nun gilt es genauer hinzusehen. Eine erste Frage ist: Was ist eigentlich genau mit dem Datum in der obigen Graphik gemeint? Bei dieser Graphik im Dashboard des RKI entspricht das Datum dem sogenannten Meldedatum – also dem Zeitpunkt, wann der Fall dem Gesundheitsamt bekannt geworden ist.

Man trifft hier auf einen ersten spannenden Punkt: Es sollte ja eigentlich um die Zahl der Neuinfektionen pro Tag gehen, also um den Zeitpunkt, wann sich eine Person mit dem Coronavirus infiziert hat. Aber zu dem Zeitpunkt, wenn ein Fall dem Gesundheitsamt bekannt wird, hat sich die Person ja nicht neu infiziert. Laut RKI vergehen zwischen dem Zeitpunkt der Ansteckung – also dem eigentlichen Zeitpunkt der Neuinfektion – und der Ausprägung von ersten Symptomen im Schnitt 5-6 Tage. Da Menschen nicht sofort schon bei den ersten Symptomen zum Arzt gehen, vergehen dann nochmals oft mehrere Tage bis ein Arzt aufgesucht wird, der dann gegebenenfalls einen Test macht, dessen Ergebnis dann oft erst ein oder manchmal sogar zwei Tage später vorliegt. Die obige Graphik hinkt also dem wahren Zeitpunkt der Neuinfektion deutlich hinterher.

Genau aus diesem Grund gibt es im Dashboard des RKI seit ein paar Tagen eine weitere Graphik. Dort wird die Anzahl an Neuinfektionen pro Tag nach dem Datum des Erkrankungsbeginns gezeigt – also dem Tag, an dem erste Krankheitssymptome ausgebildet wurden. Der Erkrankungsbeginn ist aktuell von 94.078 der 145.664 labordiagnostisch bestätigten Fälle bekannt. Für den zeitlichen Verlauf der Neuinfektionen ergibt sich dann das folgende Bild (die blauen Balken zeigen den Verlauf der Neuinfektionen festgemacht am Erkrankungsbeginn):

Ein Rückgang in den täglichen Neuinfektionen findet sich also in Wirklichkeit bereits weitaus früher. Um den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, kann man noch die gelben Balken einbeziehen. Die gelben Balken entsprechen den Fällen, bei denen der Erkrankungsbeginn nicht bekannt ist. Diese sind deswegen nach wie vor am Meldedatum festgemacht.

Um deren Erkrankungsbeginn zu schätzen, kann man diesen Fällen – basierend auf den Fällen, bei denen man den Erkrankungsbeginn weiß – das wahrscheinlichste Erkrankungsdatum zuordnen (Fachbegriff: „Imputation“). In den täglichen Lageberichten vom RKI wird das so gemacht, um den wahren Verlauf der Neuinfektionen besser abschätzen zu können. Dann sieht die Graphik folgendermaßen aus (die Höhe der grauen Balken zeigt den mit Hilfe der Imputation geschätzten wahren Verlauf, festgemacht am Erkrankungsbeginn, Lagebericht vom 22.4.):

Demnach sinkt die Anzahl der täglichen Neuinfektionen in Wirklichkeit schon mindestens seit dem 19. März. Allerdings muss man sich klarmachen, dass das Datum in dieser Graphik ja dem Zeitpunkt der Ausbildung von ersten Krankheitssymptomen entspricht. Wie bereits beschrieben, liegen aber zwischen dem Zeitpunkt der Ansteckung – dem Zeitpunkt der wirklichen Neuinfektion – und dem Zeitpunkt der Symptomausbildung noch einmal 5-6 Tage. Die obige Verlaufskurve muss also noch einmal um 5-6 Tage zeitlich zurückgeschoben werden, und damit sinken die Neuinfektionen in Wirklichkeit bereits schon mindestens seit dem 13.-14. März.

Fazit

Am Ende der genaueren Betrachtung der Zahlen zum Verlauf der Coronavirusinfektionen lässt sich damit folgendes festhalten:

  1. Die berichteten Zahlen zu den Neuinfektionen überschätzen die wahre Ausbreitung des Coronavirus sehr dramatisch. Der beobachtete rasante Anstieg in den Neuinfektionen geht fast ausschließlich auf die Tatsache zurück, dass die Anzahl der Tests mit der Zeit rasant gestiegen ist. Es gab also zumindest laut den berichteten Zahlen in Wirklichkeit nie eine exponentielle Ausbreitung des Coronavirus.
  2. Die berichteten Zahlen zu den Neuinfektionen verbergen die Tatsache, dass die Anzahl der Neuinfektionen bereits seit in etwa Anfang bis Mitte März sinkt.
  3. Die Anzahl der Todesfälle sinkt ebenfalls bereits seit Anfang April, was durch die irreführende übliche Darstellung der pro Tag neu hinzugekommenen Todesfälle verborgen wird. Zudem spiegelt der Verlauf der Todeskurve womöglich nur den Verlauf der durch die Testanzahl dramatisch nach oben verzerrte Kurve der Neuinfektionen wider.

An dieser Stelle wollen wir noch einmal zum Anfang des Beitrags zurückzukehren und uns in Erinnerung rufen, dass alle der ergriffenen drastischen Maßnahmen damit begründet werden, dass dadurch ein rasantes Ansteigen der Anzahl der Neuinfektionen verhindert werden soll.

Nach der genaueren methodischen Betrachtung dieser Zahlen wird sehr klar, dass keine der ergriffenen Maßnahmen wirklich wissenschaftlich begründet werden kann:

Zum einen hat in Wirklichkeit die Anzahl der Neuinfektionen nie rasant zugenommen, zum anderen ist die Anzahl der Neuinfektionen bereits seit in etwa Anfang bis Mitte März rückläufig – das wurde nur dadurch verdeckt, dass die Anzahl der Coronavirus-Tests über die Zeit hinweg so stark zugenommen hat und der zeitliche Abstand zwischen tatsächlichem Infektionszeitpunkt und Testzeitpunk zu wenig beachtet wurde. Insbesondere kann auch keine der ergriffenen Maßnahmen den Rückgang erklären, weil die erste Maßnahme (Absage großer Veranstaltungen mit über 1.000 Teilnehmern) erst am 9. März erfolgte.

Ebenso wenig zeichnet sich in Deutschland eine Überlastung der Intensivstationen oder eine höhere Anzahl an Sterbefällen im Vergleich zu den Vorjahren ab, so dass auch damit keine der Maßnahmen gerechtfertigt werden kann.

Es erscheint aus dieser Perspektive heraus fragwürdig, wenn Virologen wie Christian Drosten von der Charité aktuell in den Medien die Angst vor einer zweiten Infektionswelle schüren, weil er davon ausgeht, dass bei einer Rücknahme der Maßnahmen sich das Coronavirus wieder exponentiell verbreiten könnte.

Solche Aussagen sind womöglich irreführend, gegeben, dass der angebliche exponentielle Anstieg in den Neuinfektionen bei der angeblichen ersten Infektionswelle nur ein künstlicher Effekt der Tatsache war, dass man die Anzahl der Tests so stark erhöht hat.

Es erscheint als eine der höchsten Pflichten eines jeden Wissenschaftlers, diese Punkte endlich in der Öffentlichkeit richtigzustellen, um Menschen ihre wahrscheinlich unnötigen großen Ängste zu nehmen und die extremen negativen Nebenwirkungen der wahrscheinlich unnötigerweise ergriffenen drastischen Eingriffe in unsere Grundrechte zu beseitigen.

Eine Abschlussbemerkung

Abschließend möchte ich noch darstellen, warum ich mit einem solchen Beitrag an die Öffentlichkeit gehe. Als Leiter eines Lehrstuhls für Psychologie weiß man um die möglichen extremen Nebenwirkungen der ergriffenen drastischen Maßnahmen. Ich möchte das kurz anhand eines einzigen Beispiels illustrieren:

Es gibt große Studien dazu, wie viele zusätzliche Suizide die Weltfinanzkrise von 2008-2010 – welche von der drohenden Wirtschaftskrise laut Fachexperten um Welten übertroffen werden wird – mit sich gebracht hat: Allein in den USA, Canada und Europa (andere ärmere Länder nicht mitgerechnet, die von unserer Kaufkraft abhängen und womöglich entsprechend ebenfalls leiden werden) waren das 10.000 zusätzliche Suizide in den Jahren 2008-2010. Wenn man sich klarmacht, dass hinter jedem Suizid viele weitere Menschen stehen, die ähnlich belastet sind aber keinen Suizid begehen, wird deutlich, wie viel Leid die getroffenen Maßnahmen mit sich bringen können.

Hier ist wichtig zu erwähnen, dass solche Suizidraten in Reaktion auf wirtschaftliche Krisen kein Automatismus sind und man hier Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Aber wenn man die Vergangenheit als Heuristik nimmt, was womöglich in Zukunft passieren könnte – denn auch damals hat man ja versucht Gegenmaßnahmen zu ergreifen – ist mit äußerst drastischen Nebenwirkungen zu rechnen. Und das war nur ein Beispiel für die möglichen Nebenwirkungen.

Wenn man dann als ein in Forschungsmethoden sehr erfahrener Wissenschaftler bemerkt, dass womöglich die den ergriffenen Maßnahmen zugrundeliegende wissenschaftliche Basis Probleme aufweist, sucht man normalerweise nicht den Weg in die Öffentlichkeit. Stattdessen versucht man Kontakt mit den entsprechenden Fachexperten aufzunehmen, um auf diese möglichen Probleme hinzuweisen.

Seit Anfang April habe ich mehreren Virologen mehrmals Emails geschrieben, ohne bis heute eine Antwort auf meine Fragen erhalten zu haben, was bei der aktuellen Arbeitsbelastung dieser Personen auch absolut verstehbar ist. In einer solchen Situation bleibt einem aber dann nur der Weg an die Öffentlichkeit.

Das Problem ist, dass man dann oft sehr schnell als „Verschwörungstheoretiker“ abgetan wird, was manche dazu verleitet, nicht die Öffentlichkeit zu suchen. Hier ist es allerdings einfach so: Alle berichteten Analysen basieren auf den offiziellen Zahlen, und jede Person kann das einfach selber nachprüfen und die Dinge entsprechend für sich durchdenken.

Noch ein abschließender Satz: Es geht hier in keinster Weise darum, das Leid betroffener Menschen zu verharmlosen. Hier muss es das höchste Ziel einer jeden Gesellschaft sein, diesen Menschen bestmöglich zu helfen. Es geht hier darum, das von vielen angenommene Szenario einer epidemischen Ausbreitung des Coronavirus mit mehreren Millionen von Infizierten zu hinterfragen. Denn sollte dieses Szenario in Wirklichkeit gar nicht drohen, würden viele Menschen ohne wirklichen Grund so große Ängste erleben, und man würde ohne wirklichen Grund Maßnahmen ergreifen, deren womöglich dramatische negative Nebenwirkungen noch gar nicht abgeschätzt werden können.

Hinweis: Einzene Teile des Textes wurden verändert, hinzugefügt wurde die Abschlussbemerkung.

Quellen:

– Daten zu den Neuinfektionen und Todesfällen in Deutschland: NPGEO Corona Hub 2020 (Robert Koch Institute)

– Daten zur Testanzahl in Deutschland: Robert Koch-Institut: Erfassung der SARS-CoV-2-Testzahlen in Deutschland (Update vom 15.4.2020): Epidemiologisches Bulletin 2020;16:10

– Daten zu den Neuinfektionen in Italien: European Center for Disease Prevention and Control (ECDC).

– Daten zur Testanzahl in Italien: Ministero della Salute, Daten werden auf Github bereitgestellt.

– Daten zu den USA: National Center of Health Statistics

– Richtlinien vom Robert Koch-Institut zur Durchführung von Coronavirus-Tests

– Influenza-Wochenberichte vom Robert Koch-Institut

– Täglicher Lagebericht zum Coronavirus vom Robert Koch-Institut

– Alle der für die Analysen verwendeten Datensätze können beim Autor per E-Mail angefordert werden.

Christof Kuhbandner ist Psychologieprofessor und Lehrstuhlinhaber an der Fakultät für Humanwissenschaft der Universität Regensburg. Seine Überlegungen sind aktuell bei einer Fachzeitschrift eingereicht und bereits als nicht begutachteter Vorabdruck erschienen. Dieser Artikel erschien bereits in Stephan Schleims Blog Menschen-Bilder.

Eurobonds jetzt! – Statements zur Einführung von gemeinsamen Anleihen in Europa

Eurobonds jetzt! – Statements zur Einführung von gemeinsamen Anleihen in Europa

Die beschlossenen Maßnahmen sind noch immer unzureichend, die Gefahr einer Eurokrise Reloaded nicht gebannt.
Die Risikoaufschläge für Anleihen einzelner Eurostaaten steigen bereits. Dies hätte erheblichen Folgen auch für die deutsche Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger.
Die Debatte um gemeinsame europäische Anleihen (Coronabonds oder Eurobonds) um die Krisenkosten zu bewältigen ist daher noch aktuell. Gemeinsam mit Campact fordert Finanzwende jetzt die Einführung von Eurobonds!
Unterzeichnen Sie den Appell: https://www.finanzwende.de/kampagnen/…
Besuchen Sie die Website! https://www.finanzwende.de/

Bayer und BASF: gefährliche Pestizide

„Die beiden deutschen Agrarchemiekonzerne sind mitverantwortlich für schwere Gesundheitsschäden bei Landarbeiter*innen in Südafrika und indigenen Gruppen in Brasilien.

Die deutschen Agrarchemiegiganten Bayer und BASF gehören zu den vier größten Produzenten von Pestizidwirkstoffen weltweit.

In einer neuen internationalen Studie dokumentieren die Rosa-Luxemburg-Stiftung, das INKOTA-netzwerk und MISEREOR gemeinsam mit dem brasilianischen Netzwerk Campanha Permanente Contra os Agrotóxicos e Pela Vida und der südafrikanischen Organisation Khanyisa: Beide Konzerne vertreiben in Südafrika und Brasilien unter eigenen Marken sowie in Produkten heimischer Hersteller eine Vielzahl von Pestizidwirkstoffen, die in der EU nicht genehmigt sind. Bei Bayer sind es in Südafrika mindestens sieben und bei BASF mindestens vier Wirkstoffe, auf die das zutrifft. In Brasilien vermarkten die beiden Agrarchemiekonzerne jeweils mindestens 12 in der EU nicht genehmigte Wirkstoffe. Sieben der in beiden Ländern auf den Märkten befindlichen Wirkstoffe wurden in der EU aufgrund von ökologischen und gesundheitlichen Gefahren explizit verboten. Es handelt sich hier um ein perfides Geschäft mit Doppelstandards, das unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten abzulehnen ist.

In der Studie werden Fälle beleuchtet, in denen Pestizide von Bayer und BASF eingesetzt wurden und zum Teil zu schweren Vergiftungen und anderen Erkrankungen bei Landarbeiter*innen in Südafrika und indigenen Gruppen in Brasilien geführt haben. Auf Zitrusfarmen in Südafrika haben Vergiftungen beim Sprühen zur Folge, dass Arbeiter*innen im Krankenhaus behandelt werden müssen. In Brasilien werden ganze Dörfer durch das Sprühen von Pestiziden aus Flugzeugen akut vergiftet und eine Vielzahl von Pestizidwirkstoffen gelangt ins Grundwasser. Im Fall einer indigenen Gemeinde in Tey Jusu ist gerichtlich bestätigt, dass die Bewohner*innen aus einem Flugzeug mit einem Produkt von Bayer vergiftet wurden.

Die Autor*innen der Studie kommen unter anderem zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung den Export von in der EU nicht genehmigten Pestizidwirkstoffen verbieten sollte.“

Das kaputte Amerika

Post aus Washington  

Das kaputte Amerika

Eine Kolumne von Fabian Reinbold

17.04.2020

Donald Trump will die USA wieder öffnen, das Land spürt die Folgen der Krise besonders heftig. Schon jetzt zeigen sich Notsituationen, die hierzulande kaum vorstellbar sind. 

In den USA richtet die Corona-Krise ganz andere Verwüstungen an als in Deutschland. Das betrifft nicht nur das Virus, sondern auch die wirtschaftlichen Folgen.

Mehr als 22 Millionen neue Arbeitslose sind es nun binnen vier Wochen. Das ist so, als ob in Deutschland plötzlich sechs Millionen Arbeitsplätze wegfielen. Und in Wahrheit sind das nur diejenigen, die sich in den Bundesstaaten erfolgreich für Hilfen registrieren konnten. Die Zahl verschweigt jene, deren Anträge wegen der massenhaft abgestürzten Websites, der dauerbesetzen Hotlines noch gar nicht verbucht sind. Es haben also noch deutlich mehr Amerikaner ihren Job verloren.

Die eindrücklichsten Fotos sind derzeit die der Schlangen vor den Essensausgaben im Land. Als ich die ersten Bilder sah, Drohnenaufnahmen bei Pittsburgh, hielt ich sie einen Augenblick lang für eine Fälschung.

Doch nun kommen sie von überall, die schweren Karren in Reih und Glied in San Antonio, in kurvigen Schlangen im kalten Minneapolis, Stoßstange an Stoßstange in Florida. Zum Teil ist es apokalyptisch. Als ich die Bilder aus San Antonio sah, der Armen in den großen SUVs, den Pick-ups für 50.000 Dollar, und mich fragte: Wer fährt solche Karren und kann sich kein Essen leisten?

Ich rief Annamaria Lusardi an und sie antwortete: „Tja, so ist das in Amerika.“

Lusardi ist Expertin dafür, wie Menschen mit Geld umgehen. Sie beriet dazu die US-Regierung sowie ihr Heimatland Italien. Sie ist Wirtschaftsprofessorin an der George Washington University in Washington, D.C. und auch 30 Jahre in den USA haben der Italienerin nicht das rollende „R“ rauben können. Lusardi sagt es so: Kredite sind zu leicht zu bekommen, die Amerikaner legen nichts beiseite und da die Autos auf Pump finanziert sind, verraten sie anders als in Europa nichts über Kaufkraft.

Sie bezeichnet viele Amerikaner als „financially fragile“. Die Finanzen sind zerbrechlich. Die Amerikaner sparen nicht, leben, wie man hier sagt, from paycheck to paycheck, auf gut Deutsch: von der Hand in den Mund. Wenn der paycheck wegfällt, bricht alles zusammen.

Und genau das passiert gerade in allen Ecken Amerikas.

Jeder zweite Haushalt, so eine Studie der US-Notenbank, hat keinen Notgroschen beiseitegelegt. Warum das so ist, ist Lusardi noch immer nicht „komplett klar“. Aber wichtig sei: „Seit den Achtzigerjahren sind die Löhne nicht so sehr gestiegen, dafür aber die drei größten Ausgabenposten umso mehr: Wohnen, Gesundheit, Ausbildung.“

Ich denke an diese ganzen harten Gesetzmäßigkeiten Amerikas:

  • Die Uni-Schulden erdrücken ganze Generationen, doch sie wissen, ohne College-Besuch droht ein Leben in prekären Jobs.
  • Einen Job zu haben, heißt hier noch nicht, auch eine Krankenversicherung zu haben. Wer seinen Job verliert, ist meist auch sofort seine Krankenversicherung los.
  • Selbst wer eine hat, kann dennoch Arztrechnungen über Tausende Dollar bekommen.
  • Wer krank ist, geht trotzdem zur Arbeit, weil kaum jemand Lohnfortzahlung im Krankheitsfall genießt.
  • Arbeitslosengeld? Von Staat zu Staat unterschiedlich, gibt es aber nur ein halbes Jahr. Wer bis dahin keinen Job aufgetrieben hat: Pech.

Das Land ist auf Arbeit getrimmt. Wer nicht genügend Geld hat, arbeitet mehr, nebenbei noch ein paar Schichten im Restaurant, noch ein paar Tage Uber fahren. Jetzt, wo man nicht mehr arbeiten kann, funktioniert das System nicht mehr. Auch wenn die Regierung jetzt Schecks schickt (Überstunden bei der Steuerbehörde, weil Trumps Name draufstehen soll), Arbeitslosenhilfe ausweitet, eine zaghafte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für zwei Wochen etabliert.

Kurzarbeit? Arbeitslosengeld, bei dem man zwei Drittel des Lohns bekommt? Not in America.

Und natürlich erwischt es die Afroamerikaner besonders arg. Sie sind ärmer, kränker, seltener krankenversichert, haben öfter Jobs, bei denen kein Homeoffice geht, aber das Ansteckungsrisiko hoch ist: Busfahrer, Einzelhandel, Pfleger. Beispiel Louisiana: Schwarz sind 32 Prozent der Einwohner, ihr Anteil an Toten beträgt aber 60 Prozent.

Ich muss an Madonna denken, die sich vor drei Wochen in ihrer Badewanne filmen ließ. Hockte zwischen Rosenblüten im Wasser und redete darüber, dass das Coronavirus der „große Gleichmacher“ sei, egal ob arm oder reich, es mache alle gleich. (Falls Sie’s mit eigenen Augen sehen wollen, bitte hier.) Ich hoffe, jemand hat ihr die Bilder der Essensausgaben gezeigt.

Ich telefonierte mit der Capital Area Food Bank, einem Zwischenhändler in der Armenspeisung, der 450 Essenausgaben beliefert. 400.000 Menschen im Großraum Washington benötigten diese Essenspenden schon vor der Krise, sagt eine Mitarbeiterin. „Die meisten Leute, die wir versorgen, haben einen Job, der aber nicht genug abwirft.“

Vor einem Jahr standen plötzlich Regierungsangestellte in den Schlangen, als Trump vier Wochen die Bundesregierung lahmlegte (er wollte Geld für seine Grenzmauer erpressen). Die Chefin sagt: Der Bedarf an Essen sei gestiegen, mancherorts um 30 Prozent, mancherorts um 400 Prozent.

Trump hat also recht, wenn er zur Öffnung des Landes sagt: „Wir müssen eine funktionierende Wirtschaft haben.“

Das Problem ist, dass er die Not verschärft hat, indem er wochenlang kleingeredet, Nebelkerzen geworfen, Zeit verschwendet, die Institutionen geschwächt oder gleich ganz gestrichen hat: wie das Pandemie-Büro im Weißen Haus. Es gibt immer noch einen großen Mangel an Tests und damit an verlässlichen Daten.

Und die Krise wird, wie alles, hemmungslos politisiert. Für die einen ist Trump persönlich an allem Schuld. Auf der anderen Seite wüten sie in Trump-Käppis und Fahnen vor dem Kapitol in Ohio wegen der bestehenden Ausgangssperre.

Wenn ich in diesen Wochen auf das Land schaue, sehe ich eine Supermacht nah am Abgrund, taumelnd, um sich schlagend, bisweilen orientierungslos. Ein Land, das den Shutdown tatsächlich nur kürzer verkraften kann als andere. Ich sehe ein kaputtes Amerika.

Hoffnung besteht dennoch: Die amerikanische Hire-and-Fire-Wirtschaft macht auch aus, dass es so rasant wie bergab auch wieder bergauf gehen kann. Dass die US-Konjunktur dank Masse noch einmal die Weltwirtschaft hochzieht. Denkbar ist auch, dass nach einem Wahlsieg im Herbst die Demokraten ihr Versprechen einlösen, das Gesundheitssystem auszubauen.

Es ist möglich, dass es Amerika sein wird, wo ein bahnbrechendes Covid-19-Medikament entdeckt wird, wo das ersehnte Impfmittel zuerst bereitgestellt wird. Es ist wahrscheinlich, dass die digitalen Riesenkonzerne von der US-Westküste etwas austüfteln, das unser aller Leben im nächsten Jahrzehnt prägen wird. Das ist Amerikas Stärke. Doch die Supermacht steht nicht mehr auf stabilen Füßen.

Interessieren Sie sich für US-Politik? Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt über seine Arbeit im Weißen Haus und seine Eindrücke aus den USA unter Donald Trump einen Newsletter. Hier können Sie die „Post aus Washington“ kostenlos abonnieren, die dann einmal pro Woche direkt in Ihrem Postfach landet.