Die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tragfähig gestalten – Empfehlungen für eine flexible, risikoadaptierte Strategie 

 Die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tragfähig gestalten – Empfehlungen für eine flexible, risikoadaptierte Strategie 

Koordination: Clemens Fuest und Martin Lohse –

2.April 2020

Autoren:

  • Dr. Andrea Abele-Brehm, Lehrstuhl Sozialpsychologie, Universität Erlangen-Nürnberg
  • Dr. jur. Horst Dreier, Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Würzburg
  • Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, ifo Institut, München / Universität München
  • Dr. Veronika Grimm, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Universität Erlangen-Nürnberg
  • Dr.med. Hans-Georg Kräusslich, Zentrum für Infektiologie, Universitätsklinikum Heidelberg / Deutsches Zentrum für Infektionsforschung
  • Dr.med. Gérard Krause, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Braunschweig / Medizinische Hochschule Hannover
  • med. Matthias Leonhard, Köln
  • Dr. med. Ansgar W. Lohse, Zentrum für Innere Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
  • Dr. med. Martin J. Lohse, Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Universität Würzburg / Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte
  • Dr. med. Thomas Mansky, Technische Universität Berlin
  • Dr. Andreas Peichl, ifo Institut, München / Universität München
  • Dr. Roland M. Schmid, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München
  • Dr. Günther Wess, Technische Universität München
  • Dr. Christiane Woopen, Ceres (Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health), Universität zu Köln

Kurzfassung der Empfehlungen

Ziele

Würden die aktuellen Einschränkungen vollständig aufgehoben, könnte sich das weiterhin in Deutschland vorhandene Virus in der weitgehend nicht immunen Bevölkerung erneut sehr rasch ausbreiten und eine große Zahl schwerer Erkrankungen verursachen.

Es ist aktuell nicht absehbar, wann eine wirksame Schutzimpfung oder eine breit anwendbare Therapie zur Verfügung stehen werden; voraussichtlich wird beides nicht vor 2021 der Fall sein. Weder dies noch eine ausreichende natürliche Immunität in der Bevölkerung können unter Beibehaltung der gegenwärtigen Restriktionen abgewartet werden.

Daher müssen künftige Maßnahmen so gestaltet und vorbereitet werden, dass sie einerseits eine gute gesundheitliche Versorgung sichern und dass sie sich andererseits über die erforderlichen Zeiträume durchhalten lassen.

Deswegen empfehlen wir den schrittweisen Übergang zu einer am jeweils aktuellen Risiko orientierten Strategie, die eine Lockerung von Beschränkungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld mit weiterhin effektivem Gesundheitsschutz verbindet.

Handlungsbedarf ergibt sich jetzt sofort, um gezielt Anpassungen der Maßnahmenpakete zu konzipieren, vorzubereiten und einzuleiten. Der Übergang von den aktuellen Beschränkungen zu einer solchen risikoadaptierten Strategie sollte stufenweise gestaltet werden.

Dabei stehen folgende Ziele im Mittelpunkt:

  • Die erneute rasche Ausbreitung des Erregers weitgehend zu unterbinden, sodass gleichzeitig die natürliche Immunität in der Bevölkerung langsam ansteigt;
  • das Gesundheitssystem zu stärken, um die bestmögliche Therapie für möglichst viele Erkrankte – mit COVID-19 ebenso wie mit anderen schweren Erkrankungen – gewährleisten zu können;
  • Gruppen mit hohem Risiko für schwere COVID-19-Erkrankungen zu schützen;
  • soziale und psychische Härten bei der Pandemiebekämpfung so weit wie möglich zu vermeiden;
  • wirtschaftliche Aktivitäten möglich zu machen, ohne unnötige gesundheitliche Risiken einzugehen;
  • Grundrechtseingriffe dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gemäß auf das erforderliche und angemessene Maß zu beschränken.
  1. Maßnahmen

Wir empfehlen ein graduelles, an bundesweiten ebenso wie an regionalen Möglichkeiten und Gefährdungen orientiertes Vorgehen hin zur risikoadaptierten Strategie.

Dieses sollte von einer bundesweit sowie regional organisierten Corona-Taskforce begleitet werden, in der Experten für die verschiedenen genannten Ziele mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen zusammenwirken.

Aufgabe der Taskforce ist es, die politische Entscheidungsfindung vorzubereiten und entsprechende Empfehlungen zu geben sowie die Umsetzung dieser Entscheidungen zu begleiten und zu kommunizieren. Die Corona Taskforce besteht aus einer bei der Bundesregierung angesiedelten Nationalen Taskforce und Regionalen Taskforces auf der Ebene der Bundesländer, die untereinander in engem Kontakt stehen. Bei ihnen laufen alle relevanten Informationen zusammen, die zur flexiblen Steuerung einzelner Schritte benötigt werden. Die Nationale Taskforce hat die Aufgabe der Gesamtkoordination.

Die Aufgabe der Taskforce wird es sein, die Maßnahmen für einen effektiven Gesundheitsschutz mit einer graduellen Lockerung von Beschränkungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichenUmfeld zu verbinden. Dies umfasst:

Spezifische Maßnahmen für den Gesundheitsschutz

Im Rahmen der risikoadaptierten Strategie sind folgende Vorkehrungen zu treffen, wobei hier ein besonderes Augenmerk auf den Schutz von Risikogruppen zu legen ist:

  • Umfassende Information und Schulung zu den erforderlichen Hygienemaßnahmen;
  • Breite Information und verbindliche Vorgaben zur Verwendung von Schutzausrüstungen (adaptiert nach Risikobereichen);
  • Koordinierte, großflächige Testungen zur Überwachung der Ausbreitung des Erregers und des Anstiegs der Immunität in der Bevölkerung;
  • Wiederherstellung der umfassenden und uneingeschränkten medizinischen Versorgung der Bevölkerung.

An Einzelmaßnahmen sind dringlich zu organisieren:

  • Die massive Steigerung der Produktion von Schutzkleidung und -masken in Deutschland;
  • Die Sicherung von Produktionskapazität für Impfstoffe und Medikamente in Deutschland;
  • Die regionale und überregionale Koordination der Beatmungskapazität, Benennung von Schwerpunktzentren und die Stabilisierung des bedarfsgerechten Ausbaus;
  • der Auf- und Ausbau einer IT-basierten Struktur zur Koordination und Strategieplanung.

Maßnahmen für Gesellschaft und Wirtschaft

An Maßnahmen im gesellschaftlichen Bereich sind dringlich zu ergreifen:

  • Stärkung der Kapazitäten und Erweiterung der Finanzierungsmöglichkeiten von Hilfen/
  • Begleitung für Personen aus Risikogruppen;
  • Stärkung der Kapazitäten und Erweiterung der Finanzierungsmöglichkeiten für die Bewältigung von psychischen und sozialen Folgeschäden der oben genannten einschränkenden Maßnahmen (psychotherapeutische Hilfen, Beratungsangebote, Bildungsförderung, etc.).

Grundsätzlich sollten bei der graduellen und risikoadaptierten Öffnung die folgenden vier Kriterien berücksichtigt werden:

  • Risiko der Ansteckung mit SARS-Cov-2
  • Risiko einer schweren COVID-19-Erkrankung
  • Relevanz des jeweiligen Bereiches der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens
  • Möglichkeit der Einführung und des Einhaltens von Schutzmaßnahmen

Die konkreten Maßnahmen können sich unterscheiden nach (1) Regionen, (2) Personengruppen, (3) Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und (4) wirtschaftlichen Sektoren.

Bei der differenzierten graduellen Öffnung muss die starke Vernetzung der gesellschaftlichen Bereiche, Unternehmen und Sektoren untereinander berücksichtigt werden. Das begrenzt die Möglichkeiten sinnvoller Differenzierung. Der Versuch, die Wiederaufnahme der Produktion zentral zu steuern, hätte planwirtschaftlichen Charakter und würde in der Praxis nicht funktionieren.

Diese Wiederaufnahme muss vorrangig von den Einrichtungen und Unternehmen selbst gesteuert werden. Die Taskforce kann hier nur Rahmenbedingungen und Kriterien empfehlen.

Für Entscheidungen über die Differenzierung von Öffnungsschritten sollten – unter Beachtung der Vorsichtsmaßnahmen des Gesundheitsschutzes – folgende Kriterien gelten:

  • Sektoren mit niedriger Ansteckungsgefahr, z.B. hochautomatisierte Fabriken, und weniger vulnerablen Personen, z.B. Kindertagesstätten und Schulen, sollten zuerst geöffnet werden;
  • Komplementaritäten zwischen Sektoren sind zu berücksichtigen. Beispielsweise können viele Menschen mit Kindern nicht zur Arbeit gehen, wenn Kindertagesstätten und Schulen geschlossen sind;
  • Sektoren, in denen gut mit Homeoffice und digitalen Techniken gearbeitet werden kann, haben weniger Priorität als Sektoren, in denen das nicht geht;
  • Hohe Wertschöpfung, wie sie insbesondere Teile des verarbeitenden Gewerbes aufweisen, sollte als Kriterium für prioritäre Öffnung berücksichtigt werden;
  • Beschränkungen, die hohe soziale oder psychische Belastungen implizieren, sollten vorrangig gelockert werden;
  • Regionen mit niedrigeren Infektionsraten und weniger Verbreitungspotential können eher geöffnet werden;
  • Nach Ausbildung von natürlicher Immunität können vor allem Bereiche und Regionen mit einer hohen Immunität geöffnet werden;
  • Regionen mit freien Kapazitäten in der Krankenversorgung können eher geöffnet werden.

Kommunikation

Ein differenzierter Stufenplan ist hochkomplex und das Gefühl der Bedrohung in der Bevölkerung sehr real. Um die Bevölkerung‚ die sich in einer kritischen Situation sieht, ‚mitzunehmen‘, ist eine sachliche, einheitliche, überzeugende und mit unserem Wertesystem in Einklang stehende Kommunikation erforderlich.

Die Kommunikation sollte ein Wir-Gefühl fördern, realistisch und transparent sein. Sie darf Risiken weder verharmlosen noch übertreiben.

Es sollte auch kommuniziert werden, dass die Rückkehr zur Normalität aller Wahrscheinlichkeit nach nur langfristig und mit bedeutsamen Anstrengungen und Kosten erreicht werden kann. Es wird aber umso besser gelingen, je mehr ein differenziertes, risikoangepasstes und entschlossenes Vorgehen von der gesamten Bevölkerung getragen und durch staatliche Maßnahmen unterstützt wird

Die Beschäftigten in den zu öffnenden Sektoren müssen bereit sein, die Arbeit wieder aufzunehmen. Das setzt vor allem ein hinreichendes Vertrauen in die weiter laufenden Maßnahmen der Pandemiebekämpfung voraus.

Planungen für die stufenweise Wiederaufnahme der Tätigkeit/Produktion müssen hinreichend früh vorliegen und kommuniziert sein, damit die betroffenen Akteure, etwa Unternehmen und Bildungseinrichtungen, eigene Vorkehrungen für die Öffnung beginnen können.

Ohne derartige Vorbereitungen kann eine risikoadaptierte Strategie nicht die erwünschte Wirkung entfalten. Die Umsetzung der hier beschriebenen Strategie ist zweifellos herausfordernd. Gleichwohl können die anstehenden Aufgaben mit Zuversicht begonnen werden. Kaum ein Land verfügt über so gute Voraussetzungen und Ressourcen wie Deutschland, um die Corona-Pandemie erfolgreich zu bestehen.

Diese Empfehlungen gehen vom Stand der Wissenschaft Anfang April 2020 aus und müssenselbstverständlich unmittelbar angepasst werden, wenn auf Grund neuer wissenschaftlicher Ergebnisse eine Änderung des diagnostischen und/oder therapeutischen Vorgehens in medizinischenFragen bzw. entsprechende Änderungen in anderen Sektoren indiziert sind.

Coronavirus-Pandemie-Strategie Fuest Lohse et al 2. April 2020

Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19: Datenbasis verbessern – Prävention gezielt weiterentwickeln – Bürgerrechte wahren

Präambel

Der vorliegende Text stellt sich der Aufgabe, die epidemiologische Problemlage wissenschaftlich zu klären und aus der gegebenen Situation Empfehlungen für wirksame Präventionsmaßnahmen abzuleiten. Die Vorschläge zur Prävention werden in einen gesellschaftspolitischen Rahmen gestellt, der für die Autoren in einem unauflösbaren Zusammenhang mit den geschilderten Sachverhalten steht. Dem umfangreichen analytischen Teil wird eine kürzere Zusammenfassung vorangestellt, die eine schnelle Orientierung über die vertretenen Standpunkte ermöglichen soll. Wie für ein Thesenpapier nicht anders zu erwarten, werden die wichtigsten Ergebnisse zu drei Thesen mit entsprechenden Unterpunkten verdichtet, die wortgleich in der Zusammenfassung und am Ende der jeweiligen Kapitel zu finden sind.

Die Autoren bemühen sich um eine klare Benennung der Fakten und Probleme. Sie verbinden hiermit keine Kritik an den handelnden Personen, die in den zurückliegenden Wochen unter den Bedingungen einer – die Steigerung sei erlaubt – „noch unvollständigeren Information“ entscheiden mussten als dies heute der Fall ist. In jeder Beziehung sind die Ausführungen dieses Thesenpapiers als konstruktive Beiträge gedacht, die den Zweck verfolgen, die Entscheidungen der kommenden Wochen zu unterstützen.

Zusammenfassung

Die Bedrohung durch SARS-CoV-2/Covid-19 macht ein Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft notwendig. Eine sinnvolle Beratung der politischen Entscheidungsträger muss mehrere wissenschaftliche Fachdisziplinen umfassen, wobei die diagnostischen Fächer (hier: Virologie), die klinischen Fächer (hier: Infektiologie, Intensivmedizin) und die Pflege ganz im Vordergrund stehen sollten.

Da eine Epidemie jedoch nie allein ein medizinisch-pflegerisches Problem darstellt, sondern immer auf die aktuelle Verfasstheit der gesamten Gesellschaft einwirkt und auch nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu bewältigen ist, erscheint zusätzlich eine Mitwirkung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft unverzichtbar.

Entscheidend ist hierbei die Einsicht, dass notwendige Verhaltensveränderungen auf Ebene der Bevölkerung und in den Institutionen (denen bei Covid-19 besondere Bedeutung zukommt) nie allein durch eindimensionale Einzelinterventionen (z.B. gesetzliche Vorschriften), sondern nur durch Mehrfach- bzw. Mehrebeneninterventionen erreicht werden können, zu denen eben auch psychologische, soziale, ökonomische und politische Maßnahmen zählen. …

Autoren

  • Dr. med. Matthias Schrappe, Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit
  • Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin
  • med. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen Hamburg/Bremen
  • Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin
  • Dr. phil. Holger Pfaff, Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds
  • Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit

Thesenpapier Corona Prof. Dr. med. Schrappe et al

Endversion vom 5. April 2020

Corona-Krise: Ethik-Rat kritisiert Kommunikationsstrategie der Bundesregierung

Der Deutsche Ethikrat kritisiert die Kommunikation der Bundesregierung in Hinblick auf eine mögliche Lockerung der Maßnahmen in der Corona-Pandemie. „Was die Kommunikationsstrategie angeht, würde ich mir tatsächlich noch mehr Offenheit und Mut wünschen von der Bundesregierung, aber auch von den Landesregierungen, die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen“, sagte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, am Dienstag dem „ARD-Mittagsmagazin“. Der Theologe forderte in diesem Zusammenhang, das Augenmaß zu berücksichtigen, „wo Menschen etwas nach normalem Menschenverstand Sinnvolles tun“, das diesseits der Ordnungswidrigkeit oder gar Strafe sei.

Grundsätzlich sei er mit den Maßnahmen der Politik in der Corona-Pandemie zufrieden, so der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats weiter. Er sehe alles als angemessen an, was im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dazu beitrage, dass man unterhalb der Kapazitätsgrenzen bleibe. Gleichzeitig wünscht er sich einen offeneren Diskurs über die Maßnahmen in der Corona-Pandemie und eine mögliche Lockerung dieser. „Die Politik soll es begrüßen, wenn Bürgerinnen und Bürger selbst sich Gedanken darüber machen: Ist es angemessen? Wo sehe ich Probleme?“, so Dabrock.

Deutscher Ethikrat Ad-hoc-Empfehlung Corona-Krise 7.4.20

Deutscher Ethikrat Stellungnahme

Was Corona über Politik und Wirtschaft verrät | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur

Aufgrund der Corona-Pandemie werden unsere Freiheiten empfindlich eingeschränkt. Vielerorts denkt man über Contact Tracing nach: das Erstellen von Bewegungsprofilen, um Infektionsketten zurückzuverfolgen. Darüber hinaus ist eine nationale Abschottung zu beobachten.

Und man fragt sich, wie lange diese Massnahmen mit Blick auf die ökonomischen Kosten verhältnismässig sind. Was bedeutet das alles für die Demokratie? Wieviel Freiheit darf uns der Staat nehmen – und welche politischen Kräfte profitieren von dieser Ausnahmesituation? Darüber spricht Barbara Bleisch mit der Ökonomin und Publizistin Karen Horn und dem Publizisten Roger de Weck“. (6. April 2020)

Gabor Steingart: Mourning Briefing – 6. April 2020

Die gute Nachricht heute Morgen lautet: Die deutsche Demokratie lebt. Nach Wochen der Schockstarre und der fast bedingungslosen Zustimmung zur Corona-Politik der Regierung rührt sich Widerstand.

Angesichts von Kontaktverbot, Versammlungsverbot, Demonstrationsverbot und einer extrem eingeschränkten Reisefreiheit in Deutschland kann sich dieser Widerstand nicht in körperlicher Präsenz und damit auch nicht in fernsehtauglichen Demonstrationszügen manifestieren. Aber die Stille vorm Bundeskanzleramt täuscht. Wer sich einen Sinn für die unterirdischen Energieströme der Gesellschaft bewahrt hat, der spürt die Vibration.

Auch ohne Organisationskomitee und schriftlich fixierte Protestplattform hat sich ein Widerstand formiert, der Medizinjuristen, Schriftsteller, Kulturschaffende, Wirtschaftsexperten und Publizisten unterschiedlichster Couleur in ihrem Zweifel an der Verhältnismäßigkeit dieser Politik vereint.

Warum so radikal? Warum alle? Wie lange noch? Wenn diese bislang unsichtbare Bewegung ein Logo besäße, wäre es das Fragezeichen:

Zu den wirkungsmächtigen Stimmen gehört die Schriftstellerin, Sozialdemokratin und brandenburgische Verfassungsrichterin Juli Zeh („Unterleuten“, „Neujahr“). Im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ entfaltet sie eine juristisch-politische Argumentationskette, die man auch als heftige Kritik an der schläfrigen Opposition im Berliner Reichstag begreifen kann:

Unsere Verfassung verlangt, dass bei Grundrechtseingriffen immer das mildest mögliche Mittel gewählt wird. … Ansonsten fehlt es an der Verhältnismäßigkeit, und eine Maßnahme ist dann unter Umständen verfassungswidrig.

Dabei hätte ein wissenschaftlich fundierter Diskurs aller medizinischer Fachrichtungen zum Beispiel mittels einer Ad-hoc-Kommission helfen können. Stattdessen hat man einzelne prominente Experten zu Beratern gemacht und zugelassen, dass eine eskalierende Medienberichterstattung die Öffentlichkeit und die Politik vor sich hertreibt. …“