General a. D. Harald Kujat: «Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, einen gerechten Verhandlungsfrieden zu erreichen»

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Interview mit General a. D. Harald Kujat*

«Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, einen gerechten Verhandlungsfrieden zu erreichen»

«Die Bundesregierung ignoriert weiterhin das Friedensgebot der Verfaßung»

Zeitgeschehen im Fokus In verschiedenen Nachrichtenportalen war zu vernehmen, dass die Ukraine Ende Juli eine erneute Offensive gestartet habe. Wißen Sie etwas darüber?

General a. D. Harald Kujat Der Beginn der Offensive ist mehrere Monate immer wieder verschoben worden und begann schließlich am 4. Juni. Für die Offensive verfügte die Ukraine anfangs über neun im Westen und drei vom Westen im Lande ausgebildete und mit westlichen Waffen ausgerüstete Brigaden in der Stärke von insgesamt etwa 48 000 Soldaten. Dazu kamen weitere Brigaden der regulären ukrainischen Armee sowie der Territorialverteidigung. Das Ziel der Offensive ist offensichtlich, die russischen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen und die Landbrücke zwischen Russland und der Krim zu blockieren, um die russischen Streitkräfte von der logistischen Drehscheibe Krim abzuschneiden. Zugleich käme die Krim in die Reichweite ukrainischer Waffen.

Am Anfang versuchten die ukrainischen Streitkräfte, dieses Ziel durch konzentrierte Angriffe zu erreichen, konnten sich jedoch nicht durchsetzen und erlitten erhebliche Verluste. Auch eine große Zahl der modernen westlichen Waffensysteme ging verloren. Deshalb wurden die Angriffsformationen auf kleine Kontingente reduziert und die Zahl der Vorstöße an verschiedenen Stellen der Front erhöht. Dabei erzielten die ukrainischen Streitkräfte in der vor den eigentlichen Verteidigungslinien gelegenen Überwachungszone punktuell Geländegewinne, allerdings bis dato keinen Durchbruch durch die russische Hauptverteidigungslinie.

Inzwischen werden wieder größere Formationen eingesetzt. Aber die Zweifel an einem Erfolg nehmen zu. Scheitert die Offensive, könnte die Ukraine fordern, westliche Soldaten sollen westlichen Waffen folgen. Denn auch die geplanten westlichen Waffenlieferungen können die personellen Verluste der ukrainischen Streitkräfte nicht ausgleichen.

Dagegen hat Russland bisher noch nicht die Masse seiner aktiven Kampftruppen eingesetzt. Man kann daher davon ausgehen, dass Russland nach weiteren ukrainischen Verlusten in Gegenangriffen dazu übergehen wird, die annektierten Gebiete bis zu den ehemaligen Verwaltungsgrenzen auszudehnen und damit das Ziel der «militärischen Spezialoperation» zu erreichen. Möglicherweise gehört dazu auch Odessa. Falls die russischen Streitkräfte weiter defensiv operieren oder lediglich die bisherigen Eroberungen konsolidieren, so ist mit der Fortsetzung des Krieges in geringer Intensität, jedoch mit langer Dauer zu rechnen.

Ein ukrainischer Feldarzt soll sich dahingehend geäußert haben, pro hundert Meter, die die ukrainische Armee vorrückt, soll es auf ukrainischer Seite fünf bis sechs tote Soldaten geben. Das scheint mir eine enorme Zahl.

Das kann sein, verifizieren kann man das nicht. Aber der ukrainische Generalstabschef, General Saluschnij, hat sich als Reaktion auf westliche Kritik an den ausbleibenden Fortschritten der Offensive ähnlich geäußert: «Jeder Tag, jeder Meter wird mit Blut bezahlt.» Ein Grund dafür ist die asymmetrische Operationsführung beider Seiten. Die ukrainischen Streitkräfte sollen ukrainisches Territorium zurückerobern und zahlen für jeden Quadratmeter einen hohen Blutzoll, während die russischen Streitkräfte das Ziel verfolgen, die ukrainischen Streitkräfte zu dezimieren, den Gegner somit wehrlos zu machen. Außerdem sind die Verluste des Angreifers im Allgemeinen höher als die des Verteidigers, was sich durch die russische Luftüberlegenheit, den Einsatz russischer Kampfhubschrauber und die tief gestaffelten und sehr gut ausgebauten russischen Verteidigungsstellungen besonders stark auswirkt.

Wissen wir außer allgemeinen Aussagen etwas Konkretes zu den Verlustzahlen?

Beide Seiten veröffentlichen die Verlustzahlen des Gegners, jedoch nicht die eigenen. Gesichert ist, dass die ukrainischen Streitkräfte seit Beginn der Offensive große Verluste erlitten haben und sich in einem kritischen Zustand befinden. Je länger die Offensive dauert, desto geringer wird ihre Fähigkeit, eine strategische Wende zu erzwingen.

Westliche Politiker glauben jedoch immer noch, die Lieferung weiterer und leistungsfähigerer Waffen könnte die Ukraine in die Lage versetzen, einen militärischen Sieg zu erringen, obwohl beispielsweise der amerikanische Generalstabschef schon Anfang November vergangenen Jahres darauf hingewiesen hat, dass die ukrainischen Streitkräfte das erreicht haben, wozu sie in der Lage sind, mehr sei nicht möglich.

Dennoch erhält jede neue Waffenkategorie das Etikett «Gamechanger» wie die HIMARS-Raketenwerfer, Kampfpanzer und Schützenpanzer, die britischen Storm Shadow Marschflugkörper oder amerikanische Streumunition. Keines dieser Systeme hat die strategische Lage zu Gunsten der Ukraine verändert. Realistischerweise ist dies auch von den F-16-Kampfflugzeugen, die europäische Staaten liefern wollen, nicht zu erwarten. Zumal diese erst nach Abschluss der Pilotenausbildung im Laufe des nächsten Jahres eingesetzt werden können.

Aktuell wird wieder Druck auf die deutsche Bundesregierung ausgeübt, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper mit einer Reichweite bis zu 500 Kilometern zu liefern. Ist das nun der erhoffte «Gamechanger»?

Taurus ist ein nur sehr schwer zu bekämpfender Luft-Boden-Marschflugkörper mit großer Reichweite und hoher Durchschlagskraft. Aber er ist auch nicht die Wunderwaffe, die die strategische Gesamtlage zugunsten der Ukraine verändert.

Wegen der ausbleibenden Erfolge der Offensive hat die Ukraine die Drohnenanschläge auf Ziele in Russland und insbesondere auf Moskau verstärkt. Zurzeit sind auch die Verbindungswege zwischen Russland und der Krim wieder das Ziel von Angriffen, um die Versorgung der russischen Streitkräfte zu stören. Auch die Krim ist das Ziel von Angriffen, obwohl der amerikanische Außenminister noch vor einiger Zeit davor warnte. Die Angriffe auf russische Schiffe und Häfen des Schwarzen Meeres sowie vor allem auf das russische Kernland sollen ausgeweitet werden. Vor wenigen Tagen erklärte Selenskij nach einem Drohnenangriff auf Moskau: «Allmählich kehrt der Krieg auf das Territorium Russlands zurück – in seine symbolischen Zentren und Militärstützpunkte.» Taurus ist sowohl für Angriffe in der Tiefe Russlands als auch gegen Versorgungseinrichtungen auf der Krim geeignet. Die ukrainischen Streitkräfte verfügen bereits über britische Storm Shadow, einen vergleichbaren Marschflugkörper.

Wenn schon britische Marschflugkörper in der Ukraine vorhanden sind, warum soll Deutschland das auch noch liefern?

Mit Storm Shadow und dem französischen SCALP-Marschflugkörper sind die ukrainischen Streitkräfte in der Lage, die russischen Versorgungslinien und die Krim anzugreifen. Taurus wäre allerding für einen Angriff in der Tiefe des russischen Raumes hervorragend geeignet. Deutschland würde sich deshalb in besonderem Maße gegenüber Russland exponieren, was sicherlich nicht unwichtig ist. Da die Bereitschaft der deutschen Politik, für die außen- und sicherheitspolitischen Interessen unseres Landes standhaft einzutreten, offensichtlich unterentwickelt ist, und «Druck» von außen verstärkt «Druck» im Innern generiert, wird diese Forderung schließlich wie zuvor gegen jede Vernunft und ungeachtet unserer nationalen Interessen durchgesetzt.

Was würde es bedeuten, wenn die Deutschen lieferten?

Die Lieferung von Taurus wäre ein weiterer Schritt in Richtung Europäisierung des Krieges.

Denn die USA weigern sich bisher, weitreichende Waffen zu liefern, die russisches Territorium angreifen können, weil sie darin eine große Eskalationsgefahr sehen, obwohl sich die Ukraine seit fast einem Jahr um die Lieferung amerikanischer ATACMS-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 300 Kilometern bemüht. Weil sie den ukrainischen Zusicherungen nicht vertrauen, derartige Waffen nur auf ukrainischem Territorium einzusetzen, haben die USA HIMARS-Raketenwerfer nur mit Projektilen geliefert, die eine Reichweite von 85 km haben, nicht die mit 150 km Reichweite.

Die USA überlassen es den Europäern, amerikanische F-16 zu liefern, und die Abrams-Panzer lassen auch auf sich warten.

Dass die Ukraine entgegen ihrer Zusicherung kürzlich Streumunition bei einem Angriff auf das Stadtgebiet von Donezk gegen zivile Ziele eingesetzt hat, bestätigt die amerikanische Zurückhaltung. In Deutschland wird die Möglichkeit diskutiert, die Reichweite des Marschflugkörpers durch Änderung «technischer Merkmale» einzuschränken. Dies und die Möglichkeit, dass die amerikanische Regierung ihre Bedenken wegen der desperaten Lage der ukrainischen Streitkräfte zurückstellt und ATACMS in der Hoffnung liefert, eine militärische Niederlage abzuwenden, könnte die Bundesregierung veranlassen, Taurus im Tandem mit den USA abzugeben. Das wäre allerdings ein großer Eskalationsschritt, mit dem faden Beigeschmack, dass wieder deutsche Waffen Russland angreifen.

Wie weit könnte die Eskalation noch gesteigert werden?

Russland hat nach der ersten Sprengung der Kertsch-Brücke, die auch die Lebensader für die Bevölkerung der zwei Millionen Krimbewohner ist, mit wochenlangen Angriffen auf die ukrainische Versorgungsinfrastruktur reagiert. Angriffe auf Ziele tief in Russland werden ebenfalls eine massive Reaktion auslösen. Die Frage ist nur, ob diese Reaktion sich gegen die Ukraine oder auch gegen diejenigen richtet, die der Ukraine diese Angriffe ermöglichen.

Nach der Lieferung von Taurus blieben als Steigerung neben den F-16 nur noch deutsche Kampfflugzeuge, was aber eine längere Ausbildungszeit erfordert. Deshalb müsste eine seriöse strategische Lagebeurteilung bei der Entscheidung, Taurus zu liefern, den potenziell nächsten Schritt mitdenken. Falls ATACMS und Taurus die strategische Lage wider Erwarten nicht grundlegend zugunsten der Ukraine ändern, würde der Westen eine militärische Niederlage der Ukraine akzeptieren oder würde die Nato beziehungsweise eine Koalition aus Nato-Staaten in den Krieg eingreifen?

Sie haben gerade die verschiedenen Waffensysteme genannt, die der Westen der Ukraine zur Verfügung stellt und von denen bereits ein großer Teil vernichtet wurde. Es hieß doch immer, der Leopard sei unbesiegbar.

Der Leopard ist sicherlich einer der weltbesten Panzer. Aber er hat – wie jedes Waffensystem – Stärken und Schwächen. Deswegen ist es wichtig, im Einsatz die größtmögliche Synergie zu erzielen, indem die Waffensysteme im Verbund so eingesetzt werden, dass die Stärken des einen Systems die Schwächen eines anderen ausgleichen. Die Befähigung zum Gefecht der verbundenen Waffen erfordert allerdings eine langjährige Ausbildung und häufige Übungen der Kampfbesatzungen und der Vorgesetzten aller Führungsebenen. Die ukrainischen Soldaten verfügen nicht über diesen hohen Ausbildungsstand und eine jahrelange Erfahrung und Übung dieser Operationsform.

Die in manchen Medien geäußerte Kritik am Einsatz der ukrainischen Streitkräfte bei der Offensive und an der nur vier- bis sechswöchigen Ausbildung an den westlichen Waffensystemen greift deshalb zu kurz. Die ukrainischen Streitkräfte beherrschen das Gefecht der verbundenen Waffen nicht, und das ist neben der russischen Luftüberlegenheit und den starken Geländebefestigungen der russischen Verteidigungslinie ein wesentlicher Grund für die geringen Erfolgsaussichten.

Wenn man sieht, was es alles braucht, um möglicherweise gegen Russland erfolgreich zu sein, scheint dieses Ziel wohl sehr unrealistisch. Aber der Krieg geht weiter, und Tausende junger Menschen sterben. Müsste hier nicht endlich ein Schlussstrich gezogen werden?

Die Ukraine hat sich im russischen Angriffskrieg durch die umfassende Unterstützung des Westens bisher als standhaft erwiesen. Aber die Entscheidung darüber, welcher Aufwand geleistet wird, damit der Krieg gegen jede Vernunft und trotz der Unerreichbarkeit der politischen Ziele weitergeführt wird, darf auf Dauer nicht allein der ukrainischen Regierung überlassen werden.

Denn das Risiko der Eskalation und der Ausweitung des Krieges auf Europa ist real. Die ständige Intensivierung der Kriegsführung hat bereits zu einer großen Zahl gefallener Soldaten und getöteter ukrainischer Zivilisten sowie zur weitgehenden Zerstörung der Infrastruktur geführt.

Je länger der Krieg dauert, desto größer werden die ukrainischen Verluste und die Zerstörung des Landes, und desto schwieriger wird es, die Europäisierung des Krieges zu verhindern und einen gerechten und dauerhaften Verhandlungsfrieden zu erreichen, der auch den Staaten Sicherheit gibt, die an der Seite der Ukraine stehen.

Deshalb ist die ukrainische Regierung gegenüber dem ukrainischen Volk, aber auch gegenüber den Staaten, die sie bei der Verteidigung ihres Landes unterstützen, verpflichtet, jede weitere Eskalation zu verhindern und einen Verhandlungsfrieden mit Russland anzustreben.

Das komplette Interview kann hier nachgelesen werden: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-12-vom-22-august-2023.html#article_1545

Helmut Schmidt und Hans Küng – Das Ethos des Politikers (Rede 2007)

Globale Steuergerechtigkeit. Impulse aus Religion & Politik. Zum Katholikentag 2022 (27.05.2022)

Die Programmatik der AfD

Bundeszentrale für Politische Bildung – Frank Decker 2.12.2022

Parteien in Deutschland

Die Programmatik der AfD

urde die AfD in ihrer Gründungsphase noch dem liberal-konservativen Spektrum zugeordnet, so reiht sie sich heute nahtlos in die rechtspopulistische und rechtsextreme Parteienfamilie ein.

Rechtspopulistische Merkmale der Programmatik

Als – neben der spanischen Vox – letzter Neuankömmling in (West)europa reiht sich die AfD heute nahtlos in die rechtspopulistische Parteienfamilie ein. Ihre Gruppe im Europäischen Parlament ist Teil der Fraktion „Identität und Demokratie“, der auch die Vertreter des französischen Rassemblement National (früher: Front National), der italienischen Lega und der österreichischen FPÖ angehören.

In der Gründungsphase hatte sich die AfD gegen die als stigmatisierend empfundene Etikettierung als „rechtspopulistisch“ verwahrt; auch von der Politikwissenschaft wurde sie zunächst mehrheitlich dem liberal-konservativen Spektrum zugeordnet. In der Rückschau zeigt sich allerdings, dass der Keim des Rechtspopulismus in der Partei von Beginn an angelegt war.

Ideologisch und programmatisch besteht dieser aus einem Drei- bzw. Vierklang (Decker 2016: 9 ff.): Ausgangspunkt und inhaltliche Klammer ist

  1. die radikale Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Eliten. Ihnen wird der Vorwurf gemacht wird, dass sie die Interessen und Meinungen der Bürger systematisch missachteten, während die Populisten für sich selbst den Anspruch erheben, den „wahren“ Volkswillen zu kennen und zu vertreten.
  2. In kultureller Hinsicht greift der Rechtspopulismus das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Identität auf. Dies drohe in der Wertebeliebigkeit der Zuwanderungsgesellschaft verloren zu gehen.
  3. Wirtschafts- und sozialpolitisch ist seine Agenda dadurch bestimmt, dass wachsende Teile der Bevölkerung um ihren Wohlstand fürchten und Abstiegsängste haben. Zusammengebunden werden diese drei Aspekte nochmals in der
  4. ablehnenden Haltung gegenüber der EU, die das Markenzeichen der frühen AfD war und heute alle rechtspopulistischen Parteien in Europa eint.

Während die Anti-Establishment-Haltung der AfD vor allem im Rahmen der Wähleransprache, also rhetorisch zum Ausdruck kommt, steht im Zentrum ihres inhaltlichen Demokratieverständnisses die Forderung nach „mehr direkter Demokratie“. Die Einführung von Volksabstimmungen „nach Schweizer Vorbild“ wird sowohl im Grundsatz- als auch im Wahlprogramm gleich an erster Stelle genannt und um Vorschläge für eine Begrenzung der Parteienmacht, des Berufspolitikertums und des Lobbyismus ergänzt. Das Wahlrecht soll durch die Einführung freier Listen stärker personalisiert und der Bundespräsident vom Volk direkt gewählt werden.

EU-skeptische und zuwanderungsfeindliche Positionen prägen die AfD

Auch über die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Währungsunion möchte die AfD das Volk abstimmen lassen. Mit dieser Forderung bündelt die Partei ihre EU-skeptischen Positionen, die im Grundsatz- und Wahlprogramm an zweiter Stelle folgen. Sie sind rigider gehalten als in den Bundestags- und Europawahlprogrammen von 2013/2014 (Niedermayer 2015: 187 ff.).

Während dort die Schaffung einer kleineren Eurozone der stabilitätsorientierten Länder als Möglichkeit erwogen wurde, ist jetzt nur noch von einem Austritt Deutschlands oder einer gemeinsam beschlossenen Auflösung der Währungsunion die Rede.

Eine weitere Integrationsvertiefung mit der Zielvorstellung eines Bundesstaates lehnt die AfD entschieden ab; stattdessen tritt sie für eine Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Nationalstaaten im Sinne der ursprünglichen Idee einer (reinen) Wirtschaftsgemeinschaft ein. In das Wahlprogramm 2021 wurde sogar die Forderung nach einem Austritts Deutschlands aus der gesamten EU („Dexit“) aufgenommen. Weil dies gegen den Willen der Parteiführung geschah, bemüht sich diese seither, das als bloße „Drohkulisse“ gegenüber der EU abzuschwächen, um deren Reform bzw. Rückbau zu erzwingen.

Stärker als ihre demokratie- und europapolitischen Forderungen prägen die Positionen in der Migrations- und Zuwanderungspolitik das öffentliche Bild der AfD.

Sie dominieren nicht nur deren Wahlkämpfe, sondern auch die Arbeit in den Parlamenten und Vertretungskörperschaften, und strahlen als „Querschnittsthema“ programmatisch auf fast alle Politikfelder aus (Hafeneger u.a. 2018). Eine bezeichnende Ausnahme bildete allerdings die Coronapolitik. Weil die Partei die Notwendigkeit harter Bekämpfungsmaßnahmen mit Blick auf die aus ihrer Sicht übertrieben dargestellte Gefährlichkeit des Virus generell anzweifelte, konnte und wollte sie weder den Beitrag des „Auslands“ zur Verursachung und Ausbreitung der Pandemie thematisieren noch eine Politik der „nationalen Präferenzen“ bei der Impfstoffbeschaffung oder Impfreihenfolge anmahnen.

Ansonsten sind die Themen Migration und Islam bei der AfD übermächtig. In der angeblichen Ausbreitung des Islams und „Präsenz einer ständig wachsenden Zahl von Muslimen“ sieht die Partei laut ihrem Grundsatzprogramm „eine große Gefahr für unseren Staat, unsere Gesellschaft und unsere Werteordnung“.“ Sie soll durch konkrete Maßnahmen (kein Körperschaftsstatus für islamische Verbände, Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, restriktivere Bestimmungen für den Bau und Betrieb von Moscheen etc.) zurückgedrängt werden.

In der Asylpolitik möchte die AfD das heutige individuelle Asylrecht durch eine institutionelle Garantie ersetzen und die Genfer Flüchtlingskonvention an die „globalisierte Gegenwart mit ihren weltweiten Massenmigrationen“ anpassen. Die Einwanderungspolitik soll sich ausschließlich an der Integrationsfähigkeit und den Bedürfnissen der eigenen Wirtschaft orientieren. Beim Einbürgerungsrecht kritisiert die AfD die Aufweichung des Abstammungsprinzips und lehnt die Zulassung einer doppelten Staatsbürgerschaft – von begründeten Ausnahmefällen abgesehen – ab.

In der Sozial- und Wirtschaftspolitik ist die stark marktliberale geprägte Programmatik der Gründungsphase inzwischen zurückgedrängt worden. Die an die Leitsätze von 2013 anschließenden Passagen im Grundsatzprogramm täuschen darüber hinweg, dass Forderungen nach einer Verschlankung des Wohlfahrtsstaates und stärkerer Eigenverantwortung in der Partei immer weniger konsensfähig sind. Sie werden vor allem von westdeutschen AfD-Politikern vertreten, während die ostdeutschen Landesverbände mehrheitlich einen sozialpopulistischen Kurs favorisieren, der auf die „kleinen Leute“ abzielt und nicht (nur) auf bürgerliche Leistungsträger. Symptomatisch für den Richtungsstreit war, dass man die Verabschiedung eines Rentenkonzepts jahrelang hinausschob. Der auf dem Parteitag im Dezember 2020 beschlossene Kompromiss erteilte sowohl Meuthens Modell einer Kombination von steuerfinanzierter Mindestrente und privater Vorsorge als auch Höckes Vorschlag einer Zusatzrente nur für deutsche Staatsbürger eine Absage. Stattdessen möchte die AfD am bestehenden Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung festhalten und diese durch flexiblere Regelungen beim Renteneintritt, die Einbeziehung von Beamten und Selbständigen sowie eine deutliche Beitragsentlastung für Familien mit Kindern ergänzen.

Einigkeit besteht zwischen den beiden Flügeln in der nationalen Ausrichtung der Sozial- und Wirtschaftspolitik, deren Früchte dem eigenen Land und der eingesessenen Bevölkerung vorbehalten bleiben sollen. Dies schlägt sich z.B. in der Ablehnung einer gemeinschaftlichen europäischen Schuldenhaftung oder den – ausschließlich an Nützlichkeitserwägungen orientierten – Vorschlägen für eine gesteuerte Einwanderung nieder (Bebnowski 2015).

Konservative Positionen in der Gesellschafts-, Geschlechter- und Familienpolitik

Entschieden konservative Positionen vertritt die AfD in der Geschlechter- und Familienpolitik (Kemper 2014). Diese speisen sich aus ideellen Strömungen, die die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte zurückweisen.

Sie stellen somit auch eine Reaktion auf die gesellschaftspolitische Liberalisierung der Unionsparteien, insbesondere der CDU, dar.

Die AfD bekennt sich zum traditionellen Leitbild der Familie und kritisiert dessen Untergrabung durch die staatlich organisierte Kinderbetreuung und einen übertriebenen Feminismus. Als Hauptzielscheibe gilt ihr dabei das „Gender-Mainstreaming“. Der demografischen Krise möchte sie durch eine aktivierende Familienpolitik entgegenwirken – als Alternative zur „volkswirtschaftlich nicht tragfähigen und konfliktträchtigen Masseneinwanderung“.

In der Außenwirtschaftspolitik lehnt sie die geplanten oder bereits geschlossenen Abkommen TTIP und CETA wegen ihrer Eingriffe in nationale Souveränitätsrechte ab. Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, deren heutiges, auf staatlichen Hilfen basierendes System sie für gescheitert hält, kann sich die AfD dagegen auch eine Öffnung der eigenen Märkte vorstellen, um die Entwicklungsländer gerechter in den Welthandel einzubeziehen.

In der Außen- und Sicherheitspolitik plädiert die AfD für eine ausschließliche Orientierung an nationalen Interessen. Eine EU-Armee lehnt sie ab, stattdessen solle der europäische Einfluss in der NATO gestärkt, die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr verbessert und die Wehrpflicht wieder eingeführt werden.

Die geplante Aufstockung des Wehretats im Zuge des russischen Überfalls der Ukraine wurde von ihr entsprechend begrüßt. Die russlandfreundliche Linie der Partei geriet nach dem Ukraine-Krieg innerparteilich nur kurzzeitig in die Kritik. Sie speist sich zum einen aus Sympathien für den Putinschen Autoritarismus, zum anderen aus der gerade in den ostdeutschen Ländern verbreiteten Reserve gegenüber den USA und der NATO.

Machte sich die AfD bereits nach der Krim-Annexion – ähnlich wie die Linke – für einen Entspannungskurs und eine Lockerung der gegenüber Moskau verhängten Sanktionen stark, wiederholte sie diese Forderung mit Blick auf die durch den der Krieg hochgetriebenen Energiepreise für die einheimische Bevölkerung jetzt noch entschiedener. Die russische Verantwortung für den Krieg und das Leid der Opfer treten dahinter zurück.

Quellen / Literaturaufklappen

Fußnoten

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 4.0 – Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ veröffentlicht. Autor/-in: Frank Decker für bpb.de
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