Was Wissen schafft

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Eine Analyse von Nils Markwardt, 07.05.2020

Zum Autor

Nils Markwardt, 1986 in Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) geboren, studierte Literatur- und Sozial­wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redaktor des «Philosophie Magazins». Für die Republik schrieb er zuletzt über rechten Terror und über die Landtagswahlen in Ostdeutschland.

Was Wissen schafft

Als Antwort auf Corona-Verschwörungs­theorien und die «Nur ein Schnupfen»-Fraktion wird der blosse Verweis auf Daten, Fakten und Forschung nicht reichen. Im Gegenteil: Das kann auch zu einem Bumerang werden. Was tun?

Im Ausnahme­zustand hat sich politisch plötzlich vieles verschoben. Mandats­träger, die zuvor auf die Selbst­regulierung des Marktes setzten, entdecken nun die Lust am staats­dirigistischen Durchregieren; Geld, das vermeintlich nicht da war, wird von Staaten jetzt im großen Stil ausgeschüttet; die globalisierte Mobilität, die sich stets nur zu beschleunigen schien, ist in vielen Bereichen stillgelegt.

Anderes hingegen verläuft im Corona-Diskurs durchaus so, wie es zu erwarten war. Allem voran die Tatsache, dass sich in der Debatte um die wissenschaftliche und politische Einordnung des Virus schnell eine Front der «Zweifler» bildete.

Auf Regierungsebene wäre da etwa US-Präsident Donald Trump, der die Gefahr von Covid-19 lange verharmloste. Oder sein brasilianischer Amtskollege Jair Bolsonaro, der das bis heute tut.

Ebenso auf publizistischer Ebene. So warnte Roger Köppel angesichts der bis dato relativ niedrigen Anzahl an Corona-Toten in der Schweiz jüngst vor einer «medial-epidemiologisch befeuerten Politpanik» und wähnte das Land schon auf dem Weg in die Diktatur.

Mit ähnlichen Argumenten hatte in Deutschland zuvor bereits der ehemalige SPD-Bundestags­abgeordnete Wolfgang Wodarg für Aufsehen gesorgt. Dessen These: Covid-19 sei harmloser als eine normale Grippe, und Virologen würden die ganze Sache nur aufblasen, um Aufmerksamkeit und Forschungs­mittel abzuräumen. Damit war er insbesondere im Netz auf grosse Resonanz gestossen.

In vielen Ländern formiert sich schließlich auch ein zunehmender, oft von Rechts­populisten befeuerter Straßen­protest, der sich gegen die corona­bedingten Kontakt­beschränkungen wendet. Etwa in den USA, wo bewaffnete Trump-Anhänger buchstäblich gegen den Shutdown mobilmachen – und vor wenigen Tagen beispiels­weise das Parlamentsgebäude in Michigan stürmten.

Und in Deutschland, wo etwa der «Demokratische Widerstand», ein obskures Bündnis aus Verschwörungs­theoretikern, Anti­kapitalistinnen und Rechts­extremen, auf einer Demonstration vor «Impf­terrorismus» und einem «dystopischen Digital- und Pharma­konzern­kartell» warnte.

Charakteristisch für diese (Quer-)Front der «Zweifler» ist, dass es ihnen nicht um eine rationale Debatte über die Ausbalancierung von Infektions­schutz, freiheitlichen Grund­rechten sowie ökonomischen Folge­schäden geht; sondern dass sie die jeweils verhängten Corona-Massnahmen per se als «Panik­mache» verbuchen oder gar als Teil einer gross angelegten Verschwörung begreifen.

Warum kommt das alles nicht überraschend?

Weil sich hier Muster wiederholen, die man aus der Debatte über den Klima­wandel oder den Erfahrungen mit Rechts­populisten kennt, historisch aber ebenso aus den Diskussionen über den Zusammen­hang von Tabak­konsum und Krebs­erkrankungen.

Sprich: Bestimmte Gruppen lehnen wissenschaftliche Fakten ab, unterstellen Forscherinnen eigen­nützige Motive und verwerfen die sogenannte «Mainstream»-Bericht­erstattung als «gleichgeschaltet» und manipulativ.

Plumper Positivismus ist keine gute Antwort

Was hält man solch raunenden bis verschwörungs­theoretischen Argumentationen entgegen? Für alle Vertreter eines aufgeklärten Rationalismus heißt die Antwort wieder einmal: Sie müssen die Kraft der Fakten, die Legitimität wissenschaftlicher Verfahren sowie der sich daraus ergebenden Autorität der Wissenschafts­gemeinde verteidigen.

Dementsprechend vernimmt man dieser Tage ja auch immer wieder das zweifellos notwendige Plädoyer: Hört auf die Wissenschaft! Oder konkreter: Schaut auf Zahlen, Statistiken und Modell­rechnungen, hört auf wissenschaftliche Institutionen und Experten, vertraut den Verfahren der Wissenschaftsgemeinde. Und mit ebendiesem Plädoyer könnte der Text dann auch enden. Könnte.

Leider jedoch liegt die Sache etwas komplizierter.

Denn die Forderung, schlichtweg auf die Wissenschaft zu hören, mag angesichts von publizistischen Profil­neurotikerinnen, Verschwörungs­theoretikern und postfaktischen Populistinnen zunächst so richtig wie nötig sein.

Dennoch birgt sie selbst Probleme. Genauer gesagt: gleich mehrere. Sie müssen selbstbewusst benannt werden, und damit muss die bloß reflexhafte Anrufung wissenschaftlicher Autorität auf den Prüfstand gestellt werden.

Nicht um eine Hintertür für unterdessen eindeutig widerlegte Thesen zu öffnen, allen voran jene, dass Covid-19 harmloser als die saisonale Grippe sei. Und erst recht nicht, um Verschwörungs­theorien auch nur ansatz­weise hoffähig zu machen.

Vielmehr braucht es diesen differenzierten Umgang, um beim zweifellos notwendigen Rekurs auf wissenschaftliche Erkenntnisse nicht in einen plumpen Positivismus zurückzufallen, der für die Demokratie langfristig ebenfalls gefährlich werden kann. Oder zugespitzter gesagt: um Wissenschaft nicht selbst zu einer Glaubens­frage zu degradieren. Ein differenzierter Umgang mit wissenschaftlicher Autorität könnte außerdem dabei helfen, dass Desinformations­kampagnen weniger Resonanz­räume finden.

Drei Gründe also, warum wir es uns mit dem Verweis auf die Wissenschaft nicht zu einfach machen sollten. …

Hier kann der Artikel fertig gelesen werden!

Gewerkschaften: Herausforderungen in der Corona-Krise

Quelle: Rosa-Luxemburg-Stiftung – Autorin: Fanny Zeise*

Gewerkschaften: Herausforderungen in der Corona-Krise

Der DGB hält diesmal keine 1.Mai-Kundgebungen ab, Kreativität für neue Formen kollektiven Handelns ist jetzt gefragt.

Zum diesjährigen 1. Mai hat der DGB die Kundgebungen und Demonstrationen der Gewerkschaftsbewegung wegen der Infektionsgefahr abgesagt. Dabei geht es gerade im Jahr der Corona-Krise um viel für Beschäftigte, die Herausforderungen für Gewerkschaften sind vielfältig und grundsätzlich.

Beim Schutz der Gesundheit durch Homeoffice, sichere Wege zur Arbeitsstätte, Infektionsschutz durch Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen, Schutzausrüstung etc. waren und sind Betriebs-, Personalräte und Gewerkschaften gefragt.

Bisher gab es in Deutschland jedoch keine größeren Konflikte um das Herunterfahren der «nicht systemrelevanten» Produktion. Dies kann sich bei steigenden Infektions- und Todeszahlen – etwa bei einer möglichen zweiten Infektionswelle – aber ändern, wie Beispiele aus Italien, Spanien oder den USA zeigen. Hier waren Beschäftigte bereit, für die vorübergehende Schließung ihres Betriebes und den Schutz ihrer Gesundheit zu streiken – und konnten Erfolge erzielen.

Den Schutz von Leben und Gesundheit ihrer Mitglieder in der Pandemie gegen wirtschaftliche Verwertungsinteressen zu verteidigen ist eine zentrale Aufgabe der Gewerkschaften. Gleichzeitig ist die Angst vor einer tiefen Wirtschaftskrise – verstärkt durch den Shutdown – groß. Denn in Krisenzeiten schwächt die Arbeitsmarktlage die Durchsetzungskraft der Beschäftigten, drohender Arbeitsplatzverlust verringert die Bereitschaft für höhere Standards zu kämpfen und es drohen massive Mitgliederverluste der Gewerkschaften.

Statt offensive Auseinandersetzungen sind Defensivkämpfe gegen Betriebsschließungen, Massenentlassungen und Lohnabsenkungen zu erwarten, Betriebsbesetzungen und die genossenschaftliche Übernahme der Produktion werden auch in Deutschland zunehmend denkbar.

Unabhängig von der wirtschaftlichen Situation sind allerdings, auf Grund von Infektionsgefahr, der aktuell verhängten Kontaktsperre und vorübergehenden Betriebsstilllegungen, Kernelemente des kollektiven Handels und des Druckaufbaus – vom Betriebszugang für Gewerkschaftssekretär*innen über Sitzungen und Kundgebungen bis hin zu Streiks – nur sehr eingeschränkt nutzbar. Dennoch zeigen sich in der Corona-Krise neue Gewerkschaftsstrategien, die Aktionen der Beschäftigten bei physischer Distanz ermöglichen und sowohl auf der politischen als auch auf der betrieblichen Ebene angesiedelt sind.

Kurzfristig nahm die IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie daher eine Nullrunde (mit geringer Zulage von 350 Euro bei Kurzarbeit und kleinen Erleichterungen bei freien Tagen für Eltern) in Kauf, konnte jedoch die Laufzeit auf ein Jahr beschränken. Ver.di verschiebt die in diesem Jahr geplanten Tarifrunden im öffentlichen Nahverkehr, im öffentlichen Dienst und im Sozial- und Erziehungsdienst in den Herbst oder gar ins nächste Jahr.

Als ein Element in der Auseinandersetzung um die Verteilung der Krisenkosten gingen die Gewerkschaften zudem die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes an. In einigen Bereichen wie der chemischen Industrie, der Metallindustrie in Baden-Württemberg aber auch in der Systemgastronomie konnten die Gewerkschaften gute Regelungen zur Aufstockung der Kurzarbeit durchsetzen. Außerdem machten sie Druck für eine gesetzliche Aufstockung des Kurzarbeitergeldes und die Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge an die Arbeitgeber.

Eine von ver.di gestartete Petition erreichte in kurzer Zeit schon fast 300.000 Unterschriften, während IG Metall-Betriebsräte Briefe an die Bundestagsabgeordneten in ihren jeweiligen Wahlkreisen schrieben. Der erreichte Koalitionskompromiss einer zeitlich gestaffelten Aufstockung bleibt zwar weit hinter den gewerkschaftlichen Forderungen zurück, ist jedoch als Erfolg der Gewerkschaften zu verbuchen.

Deutlich besser als in wirtschaftlich betroffenen Branchen sehen die Durchsetzungsperspektiven von «systemrelevanten» Beschäftigtengruppen aus. So begannen schon zu Beginn der Corona-Krise – und aufbauend auf den jahrelangen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen für mehr Personal im Krankenhaus – Beschäftigte in einigen Kliniken, ihre professionelle Sicht und ihre Interessen hinsichtlich des Krisenmanagements öffentlichkeitswirksam zu artikulieren. In den beiden größten Kliniken in Berlin unterschrieben 4.525 Gesundheitsarbeiter*innen innerhalb von sieben Tagen eine Petition. Besonders beeindruckend ist dabei, dass die Unterschriften von den Beschäftigten selbstständig auf Stationen gesammelt wurden, ohne dass einzelne Gewerkschafter*innen Materialien oder Listen im Betrieb verteilten und somit der Schutz vor Infektionen sicher gestellt war.

Im einem zweiten Schritt konfrontierten die Beschäftigten Landespolitiker*innen mit ihren Forderungen nach einer dauerhaften Prämie von 500 Euro, besserer Schutzkleidung und der Eingliederung der outgesourcten Töchter.

Gleichzeitig forderten sie mit einer Bundesratsinitiative die Aussetzung des DRG-Fallpauschalen-Systems und damit die Überwindung von Marktmechanismen im Krankenhaus.  Weitere öffentliche Petitionen zur Aufwertung des Gesundheitsbereichs und seiner Beschäftigten erreichten zusammen fast 500.000 Unterschriften.

In der Altenpflege konnte ver.di eine einmalige Prämie bis zu 1500 Euro durchsetzen. Einige Krankenhäuser oder Bundesländer haben mittlerweile Prämien beschlossen, die allerdings nur für einzelne Beschäftigtengruppen im Krankenhaus gelten, meist deutlich niedriger ausfallen und befristeten Charakter haben. Anders als die Zahlungen einzelner Handelsketten an die «systemrelevanten» Verkäufer*innen, sind die Zahlungen im Gesundheitssektor jedoch wahrnehmbar auf den Druck der gewerkschaftliche organisierten Kolleg*innen zurückzuführen. Sie dienen nicht dem Image des Arbeitgebers, sondern ermutigen zu gewerkschaftlichem Engagement und stärken die Organisationsmacht.

Das politische Mandat offensiv zu nutzen scheint angesichts der Tiefe der Krise durch die Corona-Pandemie nötiger denn je. Die Erschütterung kann hier auch Chancen für größere Veränderungen bieten. Den Gesundheitsbereich besser auszustatten, Kliniken zu rekommunalisieren und die Profitlogik zu kippen, sind erreichbare Ziele geworden, die sich die Gewerkschaften auf die Fahnen schreiben sollten.

Ähnliches gilt – über die Kinken hinaus – für die gesamte soziale Infrastruktur, die in der Krise ihren Wert bewiesen hat: Von Gesundheitsämtern über Jobcenter, mit ausreichend großen Klassenräumen, intakten Sanitäranlagen und digitaler Technik ausgestattete Schulen bis zum öffentlichen Nahverkehr. Hier Investitionen zu fordern, dürfte in der Bevölkerung auf große Zustimmung stoßen und entspricht zudem den Interessen der Beschäftigten in diesem Sektor.

In dem auf Export fokussierten industriellen Bereich verschärft die Corona-Pandemie die schon zuvor bestandene mangelnde internationalen Nachfrage und die umfassende Krise der Autoindustrie.

Sie macht damit noch deutlicher, dass nicht nur Klimaschutz und sozialere Mobilität, sondern auch die Sicherung von Beschäftigung einen sozial-ökologischen Umbau notwendig machen.

Ansatzpunkte hierfür gibt es viele: Wenn General Motors in der Krise Beatmungsgeräte und Volkswagen Atemschutzmasken herstellt, findet Konversion vor aller Augen statt. Öffentliche Investitionen in Bus und Schiene wirken nicht mehr unrealistisch, wenn in der jetzigen Krise Finanzmittel in Milliardenhöhe fließen. Und es wird der Bundesregierung schwer fallen zu erklären warum die staatlichen Rettungshilfen für Unternehmen als stille Anteile und nicht mit Einfluss auf die Unternehmensstrategie gewährt werden sollten.

Die Debatte über Vergesellschaftung und Wirtschaftsdemokratie nimmt absehbar an Fahrt auf und wird dabei sehr konkret werden. Sich als Gewerkschaft von Bundesregierung und Autoindustrie frei zu machen und eigene wirtschafts- und industriepolitische Forderungen aufzustellen, könnte Glaubwürdigkeit bringen und neue Perspektiven für gesellschaftliche Bündnisse eröffnen.

Dennoch gilt in der Summe: Pandemie und Wirtschaftskrise schwächen die gewerkschaftlichen Machtressourcen. Ob die Gewerkschaften ohne massiven Machtverlust durch die Krise kommen, wird stark davon abhängen, ob sie ihr politisches Mandat offensiv für große Weichenstellungen und kleinere kollektive Auseinandersetzungen zu nutzen verstehen und sich nicht in die Neuauflage eines Krisenkorporatismus einbinden lassen.

Dazu müssen sie neue Formen kollektiven Handelns in der Kontaktsperre entwickeln, um ihre Organisationsmacht weiterhin in Stellung bringen zu können. Dort wo der Shutdown Handlungsperspektiven akut einschränkt, müssen Beschäftigte auf die kommenden Auseinandersetzungen vorbereitet werden.

Deshalb dürfen es die Gewerkschaften nicht bei der Parole «#Stayathome #Wirkämpfenfürdich» belassen. Dies gilt auch beim 1. Mai. Es ist ein gutes Zeichen, dass viele Menschen an der Videoaktion des DGB zum 1. Mai teilnehmen. Noch besser ist allerdings, dass einige kreative Gewerkschafter*innen öffentlichkeitswirksame Aktionen ausprobieren, bei denen Ansteckungsschutz und Präsenz der Gewerkschaft auf der Straße gleichermaßen gewährleistet werden.

 * Fanny Zeise ist Referentin Gewerkschaftliche Erneuerung beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Campact-Appell: keine Kaufprämie für Spritschlucker! Greenpeace: Hilfen müssen Mobilitätswende voranbringen

Campact-Aufforderung:Die Regierung pumpt in der Corona-Krise Rettungsgelder in Milliardenhöhe in die deutsche Wirtschaft – doch das reicht der Autoindustrie nicht. Sie will die unsinnige Abwrackprämie neu auflegen: Der Staat soll Autokäufe mit mehreren Tausend Euro bezuschussen. Schon am Dienstag, 5. Mai 2020 entscheidet sich beim Autogipfel im Kanzleramt, ob die Autolobby mit ihrer Forderung durchkommt – und damit noch mehr Klimakiller auf Deutschlands Straßen landen. Wenn wir jetzt schnell sind, können wir die GroKo von Extra-Geschenken für die Autoindustrie abbringen.“

Campact-Appell:

An Bundeskanzlerin Angela Merkel,
Wirtschaftsminister Peter Altmaier und
Finanzminister Olaf Scholz

Die Vorstände der Autoindustrie fordern eine Neuwagenprämie von mehreren Tausend Euro – finanziert aus Steuergeldern. Eine Neuauflage der Abwrackprämie wäre ein Desaster für die Umwelt. Die Corona-Krise darf keine Ausrede für weniger Klimaschutz sein. Verhindern Sie Kaufprämien für Autos, die ganz oder teilweise mit Verbrennungsmotoren fahren! Stattdessen braucht es eine Mobilitätsprämie, die etwa das Fahrradfahren und den öffentlichen Nahverkehr fördert.

Hintergrundinfo

SPIEGEL online 29.04.2020, 10.55 Uhr

Autoindustrie will in Corona-Krise Kaufpreisprämie vom Staat – und Dividenden ausschütten

Vor Coronakonferenz der Autoländer Autoindustrie will staatliche Kaufpreisprämie – und trotzdem Dividenden ausschütten.

In der Automobilbranche werden die Rufe nach Kaufprämien lauter, die Bundesländer mit entsprechender Industrie beraten darüber. Auf Dividendenzahlungen an Aktionäre will die Branche aber nicht verzichten.

Die Autobranche erneuert vor den Beratungen der Ministerpräsidenten der Autoländer Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg ihre Forderungen nach möglichen Auto-Kaufprämien in der Coronakrise. Man werde sich dafür starkmachen, „dass die Politik Geld für diesen Impulsstoß bereitstellt“, schrieb VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh in einem Brief an die Mitarbeiter. Daimler-Chef Ola Källenius sprach von einer möglichst einfachen, schnellen und breiten Förderung, um die Wirtschaft nach der Krise wieder in Gang zu bringen. Ähnlich hatte sich bereits BMW geäußert.

Während Deutschlands größte Autokonzerne nach Staatsgeld rufen, will die Branche aber nicht auf die Ausschüttung von Dividenden an Aktionäre verzichten. Dies wäre „sicher nicht der richtige Schritt“, sagte die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, im Deutschlandfunk. Für die Firmen sei wichtig, die Aktionäre an Bord zu halten, etwa um sich vor Übernahmen aus dem Ausland zu schützen.

Pkw-Kaufprämien müsse es trotzdem geben, damit verunsicherte Verbraucher zu Anschaffungen motiviert werden.Die Idee der Einführung einer Kaufpreisprämie ähnelt der Abwrackprämie. Sie rettete nach der Finanzkrise 2009 die deutsche Autoindustrie. Neben ökologischen Bedenken gegen einen erneuten staatlichen Kaufbonus könnte es vielen auch schwer zu vermitteln sein, warum die Autokonzerne über solch eine Kaufprämie subventioniert werden, wenn sie zeitgleich Geld an ihre Anleger ausschütten.

Grüne warnt vor breiter Autoprämie

Der SPD-Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans jedenfalls forderte bereits, Boni- und Dividendenzahlungen auszusetzen, wenn Unternehmen in der Coronakrise selbst Staatshilfen beantragen. Man könne Steuerzahlern, die zur Rettung der Unternehmen beitragen sollen, nicht erklären, dass „sich Manager für die Leistungen des Vorjahres jetzt mit großen Boni bedienen“, sagte er im ARD-„Morgenmagazin“. Er verlangte den Verzicht auf Dividenden auch dann, wenn Firmen Kurzarbeitergeld für ihre Mitarbeiter beantragen, denn die Unternehmen müssten in dem Fall keine

Zwar habe die Allgemeinheit ein Interesse daran, dass ein Unternehmen wie die Lufthansa „nicht in die Knie geht“. Aber die Steuerzahler gingen mit den teuren Rettungen auch ein Risiko ein. „Man muss gucken, inwieweit sich das Unternehmen aus sich selbst heraus retten kann und erst dann ist die Allgemeinheit gefragt.“

Die Ministerpräsidenten der drei Autoländer – Stephan Weil (SPD), Markus Söder (CSU) und Winfried Kretschmann (Grüne) – wollen sich am Nachmittag zusammenschalten. Nach Ansicht des VW-Betriebsrats sollte ein Fördermodell unter anderem eine „Impuls-Prämie“ für Neuwagenkäufe inklusive Leasing umfassen, die auch für moderne Verbrenner gilt und über „einen klar begrenzten Zeitraum“ läuft – und sich auch auf neuere Gebrauchtwagen bis zum Alter von einem Jahr erstrecken.

Ökonom Felbermayr: „Ordnungspolitisch problematisch“

Eine staatliche Kaufprämie stößt jedoch auch volkswirtschaftlich auf Kritik. „Ich halte die Subventionierung der Automobilbranche durch Kaufanreize für Autos, sei es über eine Abwrackprämie oder eine besser klingende Innovationsprämie, für entbehrlich“, hatte zuletzt etwa der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr, gesagt. „Sie ist sehr teuer, der aktuellen Situation nicht angemessen und ordnungspolitisch problematisch.“

Die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, Ska Keller, sagte: „Wenn wir jetzt viel Geld zur Förderung des Individualverkehrs ausgeben, dann fehlt es wieder für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.“ Vorstellbar seien höchstens Hilfen für den Umstieg auf Elektroautos für Menschen auf dem Land, doch müsse es diese Wagen erst mal auf dem Markt geben.

VW-Betriebsratschef Osterloh möchte ungeachtet dessen eine „zusätzliche Abwrackprämie obendrauf“, die es für verschrottete Altautos der Abgasnormen Euro-3 und Euro-4 gibt. Die deutschen Hersteller seien sich einig, die staatlichen Mittel „je nach zugesagter Summe womöglich sogar zu verdoppeln, zumindest aber die Wechselkosten zu übernehmen“. Daneben solle der CO2-Ausstoß als Bemessungsgrundlage für die Kfz-Steuer stärker berücksichtigt werden.

Der Chef der Gewerkschaft IG Metall mahnte ein planvolles Vorgehen an: „Wir werden, so fürchte ich, in die Situation kommen, dass solche Kaufhilfen unvermeidbar sind“, sagt Gewerkschaftschef Jörg Hofmann der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“. Er würde aber davon absehen, jetzt schon als ersten Schritt nach Abwrackprämien zu rufen. „Wir sollten die Zeit nutzen, darüber nachzudenken, wie solche Kaufhilfen aussehen könnten – auch im Kontext des ökologischen Wandels und der Dekarbonisierung.

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Quelle: Website von Greenpeace

Staatliche Hilfen müssen die Mobilitätswende voranbringen

Aufbruch im Autoland

Die Autoindustrie ruft nach Staatshilfen, am liebsten auch für klimaschädliche Diesel und Benziner. Dabei lassen sich Steuermilliarden weit gewinnbringender einsetzen.

Die Pandemie trifft die Autobranche hart. Gewinne schmelzen wie Eiswürfel auf Herdplatten. Gerade vermeldet Branchenprimus VW für Januar bis März einen um 86 Prozent niedrigeren Nettogewinn verglichen mit dem Vorjahr. Beim schwäbischen Mitbewerber Daimler ist der Einbruch noch dramatischer: Gut 95 Prozent weniger bleibt unterm Strich. Dabei werden die gestörten Lieferketten, geschlossenen Autohäuser und verunsicherten Käufer erst im zweiten Quartal voll zu Buche schlagen. Kein Wunder also, dass die Branche vor dem Autogipfel kommenden Dienstag immer lauter nach staatlichem Beistand ruft.

Doch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel sich kommende Woche mit den Autobossen zusammentelefoniert, um über mögliche Branchenhilfen zu beraten, muss sie über die Konzernbilanzen hinausschauen. Dann gerät etwa die verheerende Klimabilanz des Verkehrs in den Blick. Seit knapp 30 Jahren haben sich die CO2-Emissionen im Verkehr nicht verbessert. Und nach den halbgaren Vorschlägen von Verkehrsminister Andreas Scheuer ist nach wie vor völlig unklar, wie der Verkehr diesen Rückstand beim Klimaschutz aufholen kann.

Staatshilfen besser anlegen

Die Kanzlerin könnte auch auf die Unfallstatistik blicken. Wertet man die jährlichen Zahlen aus, zeigt sich, dass Radfahrende am wenigsten profitieren vom Trend zu weniger Verkehrsunfällen. Es zeigt sich weiter, dass Radler*innen immer häufiger untereinander verunglücken. Es braucht nicht viel Kombinationsgabe, um zu vermuten, dass die zunehmenden Kollisionen viel damit zu tun haben, dass zwar immer mehr Menschen aufs Rad steigen, dass sie dafür aber in den meisten Städten nicht mehr Platz zur Verfügung haben. Es gibt zu wenig und zu schlechte Radwege.

Angela Merkel könnte sich auch die in vielen deutschen Städten noch immer schlechten Stickoxidwerte anschauen, über den Zusammenhang zwischen Corona-Erkrankung und schmutziger Luft nachdenken oder sich fragen, ob man Steuermilliarden für Konzerne ausgeben sollte, deren Manager weiter auf Bonizahlungen pochen und ihren Aktionären Dividende zahlen wollen. All dies lässt womöglich die Überlegung reifen, dass sich Staatshilfen für den Verkehr besser anlegen lassen, als in Kaufprämien für Abgasautos.

Saubere Mobilität fördern

Wie sich staatliche Hilfen so einsetzen lassen, dass sie die Mobilitätswende voranbringen, hat Greenpeace in diesem heute veröffentlichten Papier zusammengefasst. Wenn der Kauf von Neuwagen überhaupt gefördert werden soll, dann dürfen Prämien nur den Absatz kleinerer E-Autos stärken. Kein Euro Prämien darf fließen in Diesel, Benziner oder Hybrid-Pkw. Anders fällt die deutsche Autoindustrie international noch weiter zurück. „Wenn die Bundesregierung im fundamentalsten Branchenumbruch der Automobilgeschichte alte Antriebe fördert, verwechselt sie Gaspedal mit Bremse“, sagt Greenpeace-Verkehrsexperte Benjamin Gehrs.

Der ganz überwiegende Teil staatlicher Hilfen sollte in den Aufbau sauberer Mobilitätsangebote fließen, findet Gehrs. Der Ausbau sicherer Radwege, die Ausstattung der Städte mit E-Bussen, der Kauf elektrisch betriebener Lastenräder, eine zeitliche befristete Bahncard 50 für alle – solche Maßnahmen helfen nicht nur dem krisengeschwächten Verkehrssektor auf die Beine, sie bringen.

Mehr Information: Statt Abwrackprämie saubere Mobilität Greenpeace April 2020

EMORANDUM 2020: „Gegen Markt- und Politikversagen – aktiv in eine soziale und ökologische Zukunft“ und SONDERMEMORANDUM zur Corona-Krise „Solidaritätspakt zur Krisenbewältigung“

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik legt zum 1. Mai nicht nur ihr alljährliches MEMORANDUM, sondern auch mit Blick auf die aktuelle Corona-Krise ein SONDERMEMORANDUM vor. Der solidarische sozial-ökologische Umbau der Gesellschaft muss angesichts der Corona-Krise forciert vorangetrieben werden.

Das MEMORANDUM 2020 stellt nicht nur den Gesundheitssektor, sondern auch den Klimawandel in den Mittelpunkt. Der Verkehrssektor verursacht steigende Emissionen und ist maßgeblich für den Klimawandel verantwortlich. Eine echte Verkehrswende muss auf nachhaltige Mobilitätsalternativen setzen und den Autoverkehr begrenzen. „Eine solche Verkehrswende ist nicht nur wichtig für den Klimaschutz, sondern verbessert auch die Lebens- und Stadtqualität. Verkehrsvermeidung und -verlagerung auf den Umweltverbund sowie Abschied von der ‚autogerechten Stadt‘ sind die Leitbilder“, so Prof. Peter Hennicke für die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.

Wie beim Verkehr muss auch der Umbau in anderen gesellschaftlichen Bereichen von den Bedarfen her gedacht werden. Allein in der Krankenhaus- und Altenpflege fehlen mehrere hunderttausend Beschäftigte. Wie es zu den Fehlentwicklungen im Gesundheitssektor gekommen ist, wird im MEMORANDUM 2020 ebenfalls ausführlich dargestellt. „Die vielen ungedeckten Bedarfe und der Vergleich mit Personalstärken in anderen Staaten zeigt, dass in Deutschland bei öffentlichen und gemeinwohlorientierten Dienstleistungen ein erheblicher Nachholbedarf besteht. In den nächsten zehn Jahren ist ein Beschäftigungsaufbau von ein bis zwei Millionen Personen nicht nur notwendig, sondern auch möglich“, so Prof. Mechthild Schrooten von der Hochschule Bremen.

Der sozial-ökologische Umbau erfordert hohe öffentliche Ausgaben über Jahrzehnte. Dem steht die Schuldenbremse entgegen. „Das Beste wäre es, die Schuldenbremse durch eine neue ‚goldene Regel‘ zu ersetzen“, so Prof. Mechthild Schrooten von der Hochschule Bremen. „Wie wir zeigen, gibt es aber auch unter der Schuldenbremse gesetzliche Möglichkeiten, langfristig neue Spielräume für Investitionen zu schaffen.“

Folgerichtig ist ein „Solidaritätspakt zur Krisenbewältigung“ die zentrale Forderung des SONDERMEMORANDUM. Darin enthalten ist ein Lastenausgleichsfonds, der aus einer Vermögensabgabe gespeist wird und die Kosten der Stabilisierung sowie den Erhalt und die Aufwertung von Arbeitsplätzen finanziert. Ein „Zukunftsinvestitionsprogramm für Innovation, Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung“ soll dem gesamtwirtschaftlichen Einbruch entgegengestellt werden. Dabei darf die europäische und internationale Dimension nicht zu kurz kommen. Gemeinschaftliche Anleihen der Eurostaaten wie auch eine internationale Finanztransaktionssteuer, deren Einnahmen vollständig dem Gesundheitsschutz und der Armutsbekämpfung in den ärmeren Staaten der Erde zufließen sollen, stellen hier Kernpunkte dar.

Auf der Seite www.alternative-wirtschaftspolitik.de finden Sie:

  • Sondermemorandum
  • Kurzfassung Memo 2020
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zusammenfassung der Kapitel
  • Grafiken
  • Tabellenanhang
  • Hintergrundtexte zum SONDERMEMORANDUM von Cornelia Heintze und Peter Hennicke

Coronavirus: Das Versagen der alternativen Medien

Quelle: Telepolis  – 02. April 2020  

Coronavirus: Das Versagen der alternativen Medien

Für viele ist es unvorstellbar, dass die Regierung ausnahmsweise etwas richtig macht. Ein Kommentar

In vergangenen Artikeln habe ich die politisch Verantwortlichen teilweise heftig kritisiert. Es gab eklatante Versäumnisse, und wahrscheinlich ist es das Verdienst der Fachleute in der zweiten Reihe, die Politiker zum Handeln gebracht zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung im Großen und Ganzen richtig sind.

Für die letzten Zweifler noch einmal eine einfache Betrachtung. Italien, Spanien und Frankreich kämpfen bereits mit einer Welle von Notfällen, bei der Menschenleben geopfert werden müssen – obwohl erst ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung infiziert war. Denn aus 50.000 positiv Getesteten, selbst wenn man eine zehnfach höhere Dunkelziffer annimmt, wird nicht mehr als ein Prozent der Einwohner (60 Mio). Lässt man 90, 50 oder auch nur 25 Prozent der Bevölkerung sich infizieren, müsste man sich die katastrophale Situation also um den Faktor 25 verstärkt vorstellen (das zeitverzögerte Einsetzen der Krankheit macht die Situation noch schlimmer). Das kann leider sehr schnell gehen, denn bei einer täglichen Zunahme der Infizierten um 30%, wie sie in allen betroffenen Ländern ohne Gegenmaßnahmen zu beobachten war, dauert dies keine zwei Wochen (1,3 hoch 14 =Faktor 39). Im Übrigen sind die Details dieser Rechnung völlig egal, da sie im Ergebnis das Zeitfenster zum Handeln nur um wenige Tage verlängern.

Verrücktheit – hoffentlich – gestoppt

Ich bin froh, dass es in Deutschland wahrscheinlich gelingt, einen derartigen Zusammenbruch zu verhindern, und dass die Wahnsinnsidee einer „Herdenimmunität“ zugunsten einer vernünftigen Strategie aufgegeben wurde (Abkehr vom deutschen Sonderweg). Vielleicht könnte dies auch einmal Anlass zum Durchschnaufen sein, bevor man die nächsten Forderungen erhebt.

Stattdessen mehren sich die Stimmen, die sich über die angebliche Hysterie beklagen: Corona sei nicht so schlimm, aber die Maßnahmen dagegen schon. Viele Publizisten können offenbar eine einfache Rechnung wie die obige nicht in eigener Denksouveränität nachvollziehen. Stattdessen beruft man sich auf Autoritäten wie ehemalige Lungenärzte, Klinikdirektoren oder emeritierte Professoren der Mikrobiologie und Virologie.

Frage: Wie viele Menschen mit vergleichbaren Titeln und Berufswegen gibt es wohl in Deutschland? Tausend? Zehntausend? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, darunter 2-3 zu finden, die sich gerne interviewen lassen, ohne die rechnerischen Grundlagen der Epidemiologie zu verstehen? Ziemlich groß. Aber diese Überlegung beruht ja auch auf Mathematik, der ungeliebten Wissenschaft der Zahlen.

Der Coronaflüsterer

So lauschen Hunderttausende auf YouTube den eindringlichen Worten von Sucharit Bhakdi samt seinen „fünf Fragen“ an die Bundeskanzlerin, und ich bin froh, wenn sie besseres zu tun hat, als darauf zu antworten. Manche seiner Argumente wären sogar plausibel, ginge es darum, eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen. Aber der Professor lebt im Elfenbeinturm. Man kann nicht im Verlauf einer Pandemie, bei der wenige Tage über viele Menschenleben entscheiden, Wochen dauernde statistische Erhebungen einfordern.

Der Mann versteht nicht, worauf es ankommt. Natürlich sind die italienischen Todeszahlen zu hoch gegriffen. Aber sollen die Ärzte in Bergamo deswegen nebenbei schnell 500 Leichen in Schutzausrüstung obduzieren, um die Todesursachenstatistik zu verfeinern? Mag sein, dass 50 Prozent der Infizierten asymptomatisch sind. Aber was macht das für einen Unterschied? Die Luftverschmutzung in der Lombardei spiele eine Rolle. Mag sein. Und in Wuhan, Madrid, New York, Straßburg, Rosenheim? Und was ist, wenn es nicht so ist?

Bhakdi verlangt, dass Maßnahmen erst ergriffen werden, wenn die Gefährlichkeit des Virus gesichert sei. Was für ein Unsinn. Man muss vorsorgen, solange die Ungefährlichkeit nicht gesichert ist. In die gleiche Kerbe haut Stanford-Koryphäe John Ioannidis, der im Focus Maßnahmen „ohne zuverlässige Datenbasis“ beklagt.

Nassim Taleb, einer der wenigen Denker, die Ereignisse wie die Corona-Krise vorhergesehen haben, spottet nicht zu Unrecht, Ioannidis empfehle „den Abschluss einer Versicherung, sobald man das Ausmaß des Schadens kennt“. Überhaupt wünscht man sich, dass mehr Leute mit einer rationalen Risikostrategie aus dem schwarzen Schwan vertraut wären: Man richtet sich eben auf den worst case ein, anstatt zu phantasieren, „vielleicht geht das Virus im Sommer weg“.

High Noon für Irrationalität

Man fragt sich eigentlich, warum die Feuerwehr noch ausrückt in Deutschland, so ganz ohne Datenbasis. Weiß man denn genau, ob das Gebäude überhaupt brennbar ist? Ob da Menschen drin sind, vielleicht sogar unter 80 Jahren? Ob der Rauch wirklich so giftig ist? Halten nicht die Menschen schon seit Jahrhunderten ein Lagerfeuer ganz gut aus? Dies ist leider die Art von Überlegungen, die im Moment auf den alternativen Nachrichtenportalen kursieren.

Paul Schreyer, Autor von ausgezeichneten Büchern, behauptet aus dem Handgelenk, die höheren Infiziertenzahlen würden durch mehr Tests generiert. Falsch, denn sonst würden in Italien nicht ca. 10% anschlagen und in Südkorea und Russland nur ca. 0,1%. Vor allem ist das Argument aber völlig irrelevant im Hinblick auf die anstehenden Entscheidungen.

Am tiefsten in der faktenfreien Blase verhaftet ist das Magazin Rubikon, in dem man zum Thema Corona wirklich alles findet – vom Geschwafel über einen neuen Faschismus durch Corona bis hin zu menschenverachtenden Phantasien, die Alten könne man ja sterben lassen. Die Nachdenkseiten sind im Vergleich dazu eine Oase.

KenFM, ebenfalls von mir geschätzt, schreibt, Corona könne es nicht mit der Spanischen Grippe von 1918 aufnehmen. Schön, aber soll es das? Die illegalen Kriege des Westens im Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen, Jemen usw., gegen die sich Jebsen in den letzten Jahren verdienstvoll positioniert hatte, konnten es auch nicht mit den Toten des Ersten Weltkriegs aufnehmen, aber was ist das für ein Argument?

Die alternative Blase

Ich erkläre mir das Phänomen so, dass sich diese Medien in einer ähnlichen Echokammer befinden, wie die von ihnen zu recht kritisierten Mainstreammedien, die uns in den letzten Jahren mit dem transatlantischen Narrativ zu weltpolitischen Ereignissen beglückt haben. Um das einzuordnen: Ich hüte mich, den Begriff „Verschwörungstheorie“ unüberlegt zu gebrauchen, glaube weder an einen Einzeltäter in Dallas, noch an die offizielle Version von 9/11, noch an die vielen Märchen, die uns über die Ukraine, MH17, Syrien, die Skripals und einige andere „Terroranschläge“ von den westlichen Regierungen und ihren folgsamen Medien aufgetischt wurden.

In diesen Fällen gab es jedoch regelmäßig geostrategische Interessen und plausible Motive im Hintergrund. Aber die Vorstellung, dass der US-Deep State plötzlich zusammen mit Trump, Putin, Xi Jinping, Modi und den Europäern eine „Corona-Hysterie“ inszeniert, um einen gemeinsamen geheimen Plan umzusetzen, ist doch ein bisschen paranoid.

Gibt es vielleicht noch andere Böse? Ach ja, Bill Gates. Seit Ebola 2014 warnt er davor, dass die Welt – was ziemlich idiotisch ist – einer Pandemie unvorbereitet gegenübersteht. Wahrscheinlich redet er jede Woche davon, zuletzt im Oktober 2019, deswegen muss er ja an dieser Pandemie schuld sein, klar. Die Verantwortlichkeit für den nächsten Asteroiden auf Kollisionskurs und die nächste Sonneneruption wäre damit auch geklärt. Nebenbei: Die Frage nach dem Ursprung des Virus, der es sich lohnen würde, bei Gelegenheit nachzugehen, wird kaum gestellt.

Noch etwas treibt mich um: Warum haben die internationalen Alternativmedien wie The InterceptMoon of alamaba.orgConsortiumnews noch nichts von der Erkenntnis ihrer deutschen Investigativkollegen mitbekommen, Corona sei nur ein Hype?

Ich bin erst mal froh, dass die zynische Idee, die Bevölkerung von einer Krankheit mit noch unerforschten Folgen befallen zu lassen, anscheinend ad acta gelegt wurde – was angesichts des Geisteszustands eines Trump, Johnson oder Bolsonaro keineswegs selbstverständlich war. Wäre es nicht einen Hauch von Anerkennung wert, dass die Auswüchse des Neoliberalismus, die auf der ganzen Welt Leid und Tod verursachen, hier nicht zur perversen Spitze getrieben wurden, indem man weitere Millionen Menschen opfert, um den Planeten weiter unbehelligt zu strapazieren?

Lieber nachdenken für später als sofort schreien

Nicht alles, was angeordnet wurde, ist perfekt. Thomas Moser bemerkt zum Beispiel, warum „Hygienedemos“ mit Schutzmasken und Mindestabstand nicht erlaubt sein sollten, und er hat Recht. Ich würde es wahrscheinlich begrüßen, wenn ein Oberverwaltungsgericht in 3-4 Wochen zu strenge Regeln (sollte es sie dann noch geben) kippt, deren Einhaltung nicht plausibel der Infektionsvermeidung dient. Aber würde ich heute demonstrieren?

Ich finde, man könnte den Verantwortlichen, die ja nicht wenig zu tun haben, auch etwas Zeit lassen, sinnvoll nachzujustieren. Sicher muss die Mobilitätseinschränkung früher oder später einem intelligenterem smart distancing weichen. Aber die absolute Priorität liegt im Moment ohnehin, alle zum Tragen von Schutzmasken zu bewegen. Genauso wichtig ist die Isolierung der Kranken.

Handydaten werden mit Sicherheit ein heiß diskutiertes Thema. Aber ganz ehrlich: Glaubt irgendjemand 7 Jahre nach Snowden und nach Glenn Greenwalds No Place to Hide, dass er nicht getrackt und totalüberwacht ist, wenn es darauf ankommt? Maßnahmen mit klarem Ablaufdatum kann man auch hier im Interesse der Sache in Kauf nehmen. Natürlich gibt es Figuren, die die Situation ausnutzen wollen, wie Orban mit seinem Ermächtigungsgesetz oder die unsäglich dummen Forderungen nach mehr Internetzensur von Seiten der EU. Der Kampf dagegen muss aber ohnehin geführt werden und hängt wenig davon ab, wie weit ich im Park joggen kann. Schließlich, dass mich nicht jemand missversteht: Ich setze mich vorbehaltlos ein für die Meinungsfreiheit der Publikationen, die ich oben kritisiert habe.

Es ist nur schade, wenn sie sich in der jetzigen Ausnahmesituation durch ihr Weltbild, alles Böse komme von oben, weiter disqualifizieren. Denn wenn man eines Tages die Lehren aus Corona zieht – etwa die elementare Daseinsvorsorge dem System der kurzfristigen Profite zu entziehen, werden Stimmen gebraucht werden, die der neoliberalen Ideologie Paroli bieten. Dann könnte diesen Medien der Unsinn, den sie heute erzählen, auf die Füße fallen.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch „Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur – Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten“ erschien 2019 im Westend-Verlag.