Gewerkschaften: Herausforderungen in der Corona-Krise

Quelle: Rosa-Luxemburg-Stiftung – Autorin: Fanny Zeise*

Gewerkschaften: Herausforderungen in der Corona-Krise

Der DGB hält diesmal keine 1.Mai-Kundgebungen ab, Kreativität für neue Formen kollektiven Handelns ist jetzt gefragt.

Zum diesjährigen 1. Mai hat der DGB die Kundgebungen und Demonstrationen der Gewerkschaftsbewegung wegen der Infektionsgefahr abgesagt. Dabei geht es gerade im Jahr der Corona-Krise um viel für Beschäftigte, die Herausforderungen für Gewerkschaften sind vielfältig und grundsätzlich.

Beim Schutz der Gesundheit durch Homeoffice, sichere Wege zur Arbeitsstätte, Infektionsschutz durch Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen, Schutzausrüstung etc. waren und sind Betriebs-, Personalräte und Gewerkschaften gefragt.

Bisher gab es in Deutschland jedoch keine größeren Konflikte um das Herunterfahren der «nicht systemrelevanten» Produktion. Dies kann sich bei steigenden Infektions- und Todeszahlen – etwa bei einer möglichen zweiten Infektionswelle – aber ändern, wie Beispiele aus Italien, Spanien oder den USA zeigen. Hier waren Beschäftigte bereit, für die vorübergehende Schließung ihres Betriebes und den Schutz ihrer Gesundheit zu streiken – und konnten Erfolge erzielen.

Den Schutz von Leben und Gesundheit ihrer Mitglieder in der Pandemie gegen wirtschaftliche Verwertungsinteressen zu verteidigen ist eine zentrale Aufgabe der Gewerkschaften. Gleichzeitig ist die Angst vor einer tiefen Wirtschaftskrise – verstärkt durch den Shutdown – groß. Denn in Krisenzeiten schwächt die Arbeitsmarktlage die Durchsetzungskraft der Beschäftigten, drohender Arbeitsplatzverlust verringert die Bereitschaft für höhere Standards zu kämpfen und es drohen massive Mitgliederverluste der Gewerkschaften.

Statt offensive Auseinandersetzungen sind Defensivkämpfe gegen Betriebsschließungen, Massenentlassungen und Lohnabsenkungen zu erwarten, Betriebsbesetzungen und die genossenschaftliche Übernahme der Produktion werden auch in Deutschland zunehmend denkbar.

Unabhängig von der wirtschaftlichen Situation sind allerdings, auf Grund von Infektionsgefahr, der aktuell verhängten Kontaktsperre und vorübergehenden Betriebsstilllegungen, Kernelemente des kollektiven Handels und des Druckaufbaus – vom Betriebszugang für Gewerkschaftssekretär*innen über Sitzungen und Kundgebungen bis hin zu Streiks – nur sehr eingeschränkt nutzbar. Dennoch zeigen sich in der Corona-Krise neue Gewerkschaftsstrategien, die Aktionen der Beschäftigten bei physischer Distanz ermöglichen und sowohl auf der politischen als auch auf der betrieblichen Ebene angesiedelt sind.

Kurzfristig nahm die IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie daher eine Nullrunde (mit geringer Zulage von 350 Euro bei Kurzarbeit und kleinen Erleichterungen bei freien Tagen für Eltern) in Kauf, konnte jedoch die Laufzeit auf ein Jahr beschränken. Ver.di verschiebt die in diesem Jahr geplanten Tarifrunden im öffentlichen Nahverkehr, im öffentlichen Dienst und im Sozial- und Erziehungsdienst in den Herbst oder gar ins nächste Jahr.

Als ein Element in der Auseinandersetzung um die Verteilung der Krisenkosten gingen die Gewerkschaften zudem die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes an. In einigen Bereichen wie der chemischen Industrie, der Metallindustrie in Baden-Württemberg aber auch in der Systemgastronomie konnten die Gewerkschaften gute Regelungen zur Aufstockung der Kurzarbeit durchsetzen. Außerdem machten sie Druck für eine gesetzliche Aufstockung des Kurzarbeitergeldes und die Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge an die Arbeitgeber.

Eine von ver.di gestartete Petition erreichte in kurzer Zeit schon fast 300.000 Unterschriften, während IG Metall-Betriebsräte Briefe an die Bundestagsabgeordneten in ihren jeweiligen Wahlkreisen schrieben. Der erreichte Koalitionskompromiss einer zeitlich gestaffelten Aufstockung bleibt zwar weit hinter den gewerkschaftlichen Forderungen zurück, ist jedoch als Erfolg der Gewerkschaften zu verbuchen.

Deutlich besser als in wirtschaftlich betroffenen Branchen sehen die Durchsetzungsperspektiven von «systemrelevanten» Beschäftigtengruppen aus. So begannen schon zu Beginn der Corona-Krise – und aufbauend auf den jahrelangen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen für mehr Personal im Krankenhaus – Beschäftigte in einigen Kliniken, ihre professionelle Sicht und ihre Interessen hinsichtlich des Krisenmanagements öffentlichkeitswirksam zu artikulieren. In den beiden größten Kliniken in Berlin unterschrieben 4.525 Gesundheitsarbeiter*innen innerhalb von sieben Tagen eine Petition. Besonders beeindruckend ist dabei, dass die Unterschriften von den Beschäftigten selbstständig auf Stationen gesammelt wurden, ohne dass einzelne Gewerkschafter*innen Materialien oder Listen im Betrieb verteilten und somit der Schutz vor Infektionen sicher gestellt war.

Im einem zweiten Schritt konfrontierten die Beschäftigten Landespolitiker*innen mit ihren Forderungen nach einer dauerhaften Prämie von 500 Euro, besserer Schutzkleidung und der Eingliederung der outgesourcten Töchter.

Gleichzeitig forderten sie mit einer Bundesratsinitiative die Aussetzung des DRG-Fallpauschalen-Systems und damit die Überwindung von Marktmechanismen im Krankenhaus.  Weitere öffentliche Petitionen zur Aufwertung des Gesundheitsbereichs und seiner Beschäftigten erreichten zusammen fast 500.000 Unterschriften.

In der Altenpflege konnte ver.di eine einmalige Prämie bis zu 1500 Euro durchsetzen. Einige Krankenhäuser oder Bundesländer haben mittlerweile Prämien beschlossen, die allerdings nur für einzelne Beschäftigtengruppen im Krankenhaus gelten, meist deutlich niedriger ausfallen und befristeten Charakter haben. Anders als die Zahlungen einzelner Handelsketten an die «systemrelevanten» Verkäufer*innen, sind die Zahlungen im Gesundheitssektor jedoch wahrnehmbar auf den Druck der gewerkschaftliche organisierten Kolleg*innen zurückzuführen. Sie dienen nicht dem Image des Arbeitgebers, sondern ermutigen zu gewerkschaftlichem Engagement und stärken die Organisationsmacht.

Das politische Mandat offensiv zu nutzen scheint angesichts der Tiefe der Krise durch die Corona-Pandemie nötiger denn je. Die Erschütterung kann hier auch Chancen für größere Veränderungen bieten. Den Gesundheitsbereich besser auszustatten, Kliniken zu rekommunalisieren und die Profitlogik zu kippen, sind erreichbare Ziele geworden, die sich die Gewerkschaften auf die Fahnen schreiben sollten.

Ähnliches gilt – über die Kinken hinaus – für die gesamte soziale Infrastruktur, die in der Krise ihren Wert bewiesen hat: Von Gesundheitsämtern über Jobcenter, mit ausreichend großen Klassenräumen, intakten Sanitäranlagen und digitaler Technik ausgestattete Schulen bis zum öffentlichen Nahverkehr. Hier Investitionen zu fordern, dürfte in der Bevölkerung auf große Zustimmung stoßen und entspricht zudem den Interessen der Beschäftigten in diesem Sektor.

In dem auf Export fokussierten industriellen Bereich verschärft die Corona-Pandemie die schon zuvor bestandene mangelnde internationalen Nachfrage und die umfassende Krise der Autoindustrie.

Sie macht damit noch deutlicher, dass nicht nur Klimaschutz und sozialere Mobilität, sondern auch die Sicherung von Beschäftigung einen sozial-ökologischen Umbau notwendig machen.

Ansatzpunkte hierfür gibt es viele: Wenn General Motors in der Krise Beatmungsgeräte und Volkswagen Atemschutzmasken herstellt, findet Konversion vor aller Augen statt. Öffentliche Investitionen in Bus und Schiene wirken nicht mehr unrealistisch, wenn in der jetzigen Krise Finanzmittel in Milliardenhöhe fließen. Und es wird der Bundesregierung schwer fallen zu erklären warum die staatlichen Rettungshilfen für Unternehmen als stille Anteile und nicht mit Einfluss auf die Unternehmensstrategie gewährt werden sollten.

Die Debatte über Vergesellschaftung und Wirtschaftsdemokratie nimmt absehbar an Fahrt auf und wird dabei sehr konkret werden. Sich als Gewerkschaft von Bundesregierung und Autoindustrie frei zu machen und eigene wirtschafts- und industriepolitische Forderungen aufzustellen, könnte Glaubwürdigkeit bringen und neue Perspektiven für gesellschaftliche Bündnisse eröffnen.

Dennoch gilt in der Summe: Pandemie und Wirtschaftskrise schwächen die gewerkschaftlichen Machtressourcen. Ob die Gewerkschaften ohne massiven Machtverlust durch die Krise kommen, wird stark davon abhängen, ob sie ihr politisches Mandat offensiv für große Weichenstellungen und kleinere kollektive Auseinandersetzungen zu nutzen verstehen und sich nicht in die Neuauflage eines Krisenkorporatismus einbinden lassen.

Dazu müssen sie neue Formen kollektiven Handelns in der Kontaktsperre entwickeln, um ihre Organisationsmacht weiterhin in Stellung bringen zu können. Dort wo der Shutdown Handlungsperspektiven akut einschränkt, müssen Beschäftigte auf die kommenden Auseinandersetzungen vorbereitet werden.

Deshalb dürfen es die Gewerkschaften nicht bei der Parole «#Stayathome #Wirkämpfenfürdich» belassen. Dies gilt auch beim 1. Mai. Es ist ein gutes Zeichen, dass viele Menschen an der Videoaktion des DGB zum 1. Mai teilnehmen. Noch besser ist allerdings, dass einige kreative Gewerkschafter*innen öffentlichkeitswirksame Aktionen ausprobieren, bei denen Ansteckungsschutz und Präsenz der Gewerkschaft auf der Straße gleichermaßen gewährleistet werden.

 * Fanny Zeise ist Referentin Gewerkschaftliche Erneuerung beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung